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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Ein notwendiges Buch

Mari­an­ne Enigl, über drei Jahr­zehn­te Redak­teu­rin des öster­rei­chi­schen Nach­rich­ten­ma­ga­zins Pro­fil, hat einen Wie­ner Arbei­ter aus der Ver­ges­sen­heit geholt – ihn und sein Leben. In einer Zeit, in der die Poli­tik den Men­schen eine immer schlech­ter wer­den­de Gesell­schaft bie­tet, da wird es dop­pelt wich­tig, dem oft ver­ges­se­nen und namen­lo­sen Wider­stand mehr als nur einen Stol­per­stein zu widmen.

Josef Anton Bal­der­mann ist der Sohn einer aus Mäh­ren zuge­wan­der­ten Fami­lie. 1903 gebo­ren lebt und arbei­tet er in Wien. Er ist zunächst Sozi­al­de­mo­krat, außer­dem Natur­freund, liebt das Berg­stei­gen und ist sport­lich aktiv.

Wie es damals in den 1920er Jah­ren in Wien mit Arbeit und Lohn aus­sah, schil­dert das Zen­tral­or­gan der öster­rei­chi­schen Sozi­al­de­mo­kra­tie, die Arbei­ter-Zei­tung: »Die Lohn­kämp­fe in der Wie­ner Metall­in­du­strie – eine neue Teue­rungs­wel­le ist her­ein­ge­bro­chen. Alle Lohn­auf­bes­se­run­gen, die sich die ein­zel­nen Grup­pen Metall­ar­bei­ter in den letz­ten Mona­ten und Wochen erkämp­fen konn­ten, sind wie­der auf­ge­zehrt wor­den. Die Wie­ner Bezirks­lei­tung des Metall­ar­bei­ter­ver­ban­des hat einen neu­en Ver­trags­ent­wurf aus­ge­ar­bei­tet. […] Die Vor­la­ge ent­hält eine gan­ze Rei­he von Ver­bes­se­run­gen des bestehen­den Kol­lek­tiv­ver­tra­ges; vor allem wer­den erhöh­te Min­dest­löh­ne und eine all­ge­mei­ne Teue­rungs­zu­la­ge ver­langt […]. Falls die Unter­neh­mer­or­ga­ni­sa­ti­on die Ver­hand­lun­gen in die Län­ge zie­hen soll­te, sei ihr jetzt schon gesagt, dass die Wie­ner Bezirks­lei­tung dar­auf drän­gen muss, dass über eine all­ge­mei­ne Teue­rungs­zu­la­ge so schnell als mög­lich eine Eini­gung erzielt wer­de. Die Geduld der Arbei­ter darf auf kei­ne har­te Pro­be gestellt wer­den. Man darf wohl erwar­ten, dass die Unter­neh­mer, die nun zum gro­ßen Teil ihre Urlau­be in den schön­sten Gegen­den ver­bracht haben, ein­se­hen wer­den, dass der Arbei­ter wenig­stens so viel braucht, dass er beschei­den mit sei­ner Fami­lie in sei­nem ein­fa­chen Pro­le­ta­ri­er­heim leben kann.« (Arbei­ter-Zei­tung, 17.8.1924).

Bei Sie­mens & Schuckert arbei­tet Josef Bal­der­mann acht Jah­re, bringt es bis zum Maschi­nen­mei­ster, um dann in der Welt­wirt­schafts­kri­se – wie so vie­le – »jede Arbeit anzu­neh­men«. Er ver­kauft sei­ne Arbeits­kraft am Bau, schleppt Koh­len oder ist Geschäfts­die­ner, fasst in einer Wäsche­fir­ma Fuß.

Seit 1934 ist Öster­reich ein Stän­de­staat und die Sozi­al­de­mo­kra­tie ver­bo­ten. Bal­der­mann lernt in der Wäsche­fa­brik die Nähe­rin Her­mi­ne Kon­schitz­ky ken­nen. Drei Mona­te nach sei­ner Hei­rat und zwölf Tage nach der Geburt sei­nes Soh­nes wird Bal­der­mann am 29. Juli 1941 ver­haf­tet. Er gehört zu jenen 1507 Wider­stands­kämp­fern, die die Gesta­po-Stel­le Wien im Jah­re 1941 fest­nimmt. Bal­der­mann hat in einer klei­nen kom­mu­ni­sti­schen Zel­le mit­ge­ar­bei­tet, ille­ga­le Flug­blät­ter ver­teilt und Geld für Ange­hö­ri­ge von Ver­haf­te­ten gesam­melt. Die Zel­le bestand aus einer Frau und zwölf Män­nern. Sie­ben wer­den in Ber­lin-Plöt­zen­see hin­ge­rich­tet, drei ster­ben in KZ-Haft.

In Ber­lin-Plöt­zen­see, in des­sen Gefäng­nis von 1933 bis 1945 2891 Todes­ur­tei­le voll­streckt wur­den, fin­det Jahr für Jahr ein Geden­ken statt, und man gedenkt vor allem der Betei­lig­ten am Atten­tat vom 20. Juli 1944. Von Bal­der­mann und den vie­len Namen­lo­sen, die ihren Wider­stand gegen die Nazi-Dik­ta­tur mit dem Leben bezahl­ten, liest man nichts.

Der Sohn des Ermor­de­ten, Josef Richard Bal­der­mann, hat der Autorin Mari­an­ne Enigl eine ein­zig­ar­ti­ge Samm­lung von Erin­ne­rungs­stücken und Doku­men­ten zur Ver­fü­gung gestellt. Damit jene Men­schen, die zusam­men mit sei­nem Vater vom NS-Regime ver­folgt wur­den, nicht in Ver­ges­sen­heit geraten.

18 Sekun­den: »Voll­streckung des Todes­ur­teils gegen Josef Bal­der­mann. Gegen­wär­tig als Voll­streckungs­lei­ter: Lan­des­ge­richt­rat Welp, als Beam­ter der Geschäfts­stel­le: Justiz­an­ge­stell­ter Kar­pe. Um 18.34 wur­de der Ver­ur­teil­te, die Hän­de auf den Rücken gefes­selt, durch zwei Gefäng­nis­be­am­te vor­ge­führt. Der Scharf­rich­ter Rött­ger aus Ber­lin stand mit sei­nen drei Gehil­fen bereit. Anwe­send war fer­ner: der Gefäng­nis­be­am­te Ver­wal­tungs­in­spek­tor Palas­ke. Nach Fest­stel­lung der Per­so­nen­gleich­heit des Vor­ge­führ­ten mit dem Ver­ur­teil­ten beauf­trag­te der Voll­streckungs­lei­ter den Scharf­rich­ter mit der Voll­streckung. Der Ver­ur­teil­te, der ruhig und gefasst war, ließ sich ohne Wider­stre­ben auf das Fall­beil­ge­stell legen, wor­auf der Scharf­rich­ter die Ent­haup­tung mit dem Fall­beil aus­führ­te und sodann mel­de­te, dass das Urteil voll­streckt sei. Die Voll­streckung dau­er­te von der Vor­füh­rung bis zur Voll­zugs­mel­dung 18 Sekun­den. Unter­schrif­ten. Ber­lin, 2.3.1943«

Kurz vor sei­ner Ermor­dung darf Bal­der­manns Frau mit dem Baby nach Ber­lin fah­ren. Sie nimmt Abschied. Auf dem Weg in den Tod hat Bal­der­mann das Foto sei­nes Soh­nes in der Hosen­ta­sche mitgenommen.

Die­ses Buch ist notwendig!

Mari­an­ne Enigl: »Bal­der­mann«, Man­del­baum Ver­lag, 235 Sei­ten, 19,90 €