Marianne Enigl, über drei Jahrzehnte Redakteurin des österreichischen Nachrichtenmagazins Profil, hat einen Wiener Arbeiter aus der Vergessenheit geholt – ihn und sein Leben. In einer Zeit, in der die Politik den Menschen eine immer schlechter werdende Gesellschaft bietet, da wird es doppelt wichtig, dem oft vergessenen und namenlosen Widerstand mehr als nur einen Stolperstein zu widmen.
Josef Anton Baldermann ist der Sohn einer aus Mähren zugewanderten Familie. 1903 geboren lebt und arbeitet er in Wien. Er ist zunächst Sozialdemokrat, außerdem Naturfreund, liebt das Bergsteigen und ist sportlich aktiv.
Wie es damals in den 1920er Jahren in Wien mit Arbeit und Lohn aussah, schildert das Zentralorgan der österreichischen Sozialdemokratie, die Arbeiter-Zeitung: »Die Lohnkämpfe in der Wiener Metallindustrie – eine neue Teuerungswelle ist hereingebrochen. Alle Lohnaufbesserungen, die sich die einzelnen Gruppen Metallarbeiter in den letzten Monaten und Wochen erkämpfen konnten, sind wieder aufgezehrt worden. Die Wiener Bezirksleitung des Metallarbeiterverbandes hat einen neuen Vertragsentwurf ausgearbeitet. […] Die Vorlage enthält eine ganze Reihe von Verbesserungen des bestehenden Kollektivvertrages; vor allem werden erhöhte Mindestlöhne und eine allgemeine Teuerungszulage verlangt […]. Falls die Unternehmerorganisation die Verhandlungen in die Länge ziehen sollte, sei ihr jetzt schon gesagt, dass die Wiener Bezirksleitung darauf drängen muss, dass über eine allgemeine Teuerungszulage so schnell als möglich eine Einigung erzielt werde. Die Geduld der Arbeiter darf auf keine harte Probe gestellt werden. Man darf wohl erwarten, dass die Unternehmer, die nun zum großen Teil ihre Urlaube in den schönsten Gegenden verbracht haben, einsehen werden, dass der Arbeiter wenigstens so viel braucht, dass er bescheiden mit seiner Familie in seinem einfachen Proletarierheim leben kann.« (Arbeiter-Zeitung, 17.8.1924).
Bei Siemens & Schuckert arbeitet Josef Baldermann acht Jahre, bringt es bis zum Maschinenmeister, um dann in der Weltwirtschaftskrise – wie so viele – »jede Arbeit anzunehmen«. Er verkauft seine Arbeitskraft am Bau, schleppt Kohlen oder ist Geschäftsdiener, fasst in einer Wäschefirma Fuß.
Seit 1934 ist Österreich ein Ständestaat und die Sozialdemokratie verboten. Baldermann lernt in der Wäschefabrik die Näherin Hermine Konschitzky kennen. Drei Monate nach seiner Heirat und zwölf Tage nach der Geburt seines Sohnes wird Baldermann am 29. Juli 1941 verhaftet. Er gehört zu jenen 1507 Widerstandskämpfern, die die Gestapo-Stelle Wien im Jahre 1941 festnimmt. Baldermann hat in einer kleinen kommunistischen Zelle mitgearbeitet, illegale Flugblätter verteilt und Geld für Angehörige von Verhafteten gesammelt. Die Zelle bestand aus einer Frau und zwölf Männern. Sieben werden in Berlin-Plötzensee hingerichtet, drei sterben in KZ-Haft.
In Berlin-Plötzensee, in dessen Gefängnis von 1933 bis 1945 2891 Todesurteile vollstreckt wurden, findet Jahr für Jahr ein Gedenken statt, und man gedenkt vor allem der Beteiligten am Attentat vom 20. Juli 1944. Von Baldermann und den vielen Namenlosen, die ihren Widerstand gegen die Nazi-Diktatur mit dem Leben bezahlten, liest man nichts.
Der Sohn des Ermordeten, Josef Richard Baldermann, hat der Autorin Marianne Enigl eine einzigartige Sammlung von Erinnerungsstücken und Dokumenten zur Verfügung gestellt. Damit jene Menschen, die zusammen mit seinem Vater vom NS-Regime verfolgt wurden, nicht in Vergessenheit geraten.
18 Sekunden: »Vollstreckung des Todesurteils gegen Josef Baldermann. Gegenwärtig als Vollstreckungsleiter: Landesgerichtrat Welp, als Beamter der Geschäftsstelle: Justizangestellter Karpe. Um 18.34 wurde der Verurteilte, die Hände auf den Rücken gefesselt, durch zwei Gefängnisbeamte vorgeführt. Der Scharfrichter Röttger aus Berlin stand mit seinen drei Gehilfen bereit. Anwesend war ferner: der Gefängnisbeamte Verwaltungsinspektor Palaske. Nach Feststellung der Personengleichheit des Vorgeführten mit dem Verurteilten beauftragte der Vollstreckungsleiter den Scharfrichter mit der Vollstreckung. Der Verurteilte, der ruhig und gefasst war, ließ sich ohne Widerstreben auf das Fallbeilgestell legen, worauf der Scharfrichter die Enthauptung mit dem Fallbeil ausführte und sodann meldete, dass das Urteil vollstreckt sei. Die Vollstreckung dauerte von der Vorführung bis zur Vollzugsmeldung 18 Sekunden. Unterschriften. Berlin, 2.3.1943«
Kurz vor seiner Ermordung darf Baldermanns Frau mit dem Baby nach Berlin fahren. Sie nimmt Abschied. Auf dem Weg in den Tod hat Baldermann das Foto seines Sohnes in der Hosentasche mitgenommen.
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Marianne Enigl: »Baldermann«, Mandelbaum Verlag, 235 Seiten, 19,90 €