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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Ein neues Lied von einem braven Mann

Hoch klingst du, Lied vom bra­ven Mann, /​ Wie Orgel­ton und Glocken­klang! /​ Wer sol­chen Muts sich rüh­men kann, /​ Den lohnt kein Gold, den lohnt Gesang. /​ Gott­lob! daß ich sin­gen und prei­sen kann, /​ Unsterb­lich zu prei­sen den bra­ven Mann. (Gott­fried August Bür­ger, 1747-1794, Das Lied vom bra­ven Man­ne)

 Mar­seil­le, die Mil­lio­nen­stadt am Mit­tel­meer, gilt heu­te als »Ort har­ter sozia­ler Gegen­sät­ze«, des­sen »nörd­li­che Vier­tel von Dro­gen­gangs beherrscht wer­den« (stern online, 18. Mai 2024), eine Stadt zwi­schen Nie­der­gang und tap­fe­rem Auf­be­geh­ren gegen das Verbrechen.

Vor fast 85 Jah­ren war die Situa­ti­on eine ande­re. Die fran­zö­si­sche Hafen­stadt lag im unbe­setz­ten Teil Frank­reichs und wur­de daher zum Hoff­nungs­ort und Ziel für die Men­schen­strö­me aus vie­len Län­dern Euro­pas, vor allem aber für jene Migran­ten, die sich im Som­mer 1940, als die Wehr­macht die fran­zö­si­sche Haupt­stadt erreich­te, auf den Weg gen Süden mach­ten, der schein­bar letz­ten Zuflucht.

Hier in Mar­seil­le begann Anna Seg­hers unter dem unmit­tel­ba­ren Ein­druck per­sön­li­cher Erleb­nis­se ihren welt­be­rühm­ten Roman Tran­sit zu schrei­ben und setz­te damit der Stadt ein lite­ra­ri­sches Denk­mal. »Alles war auf der Flucht, alles war nur vor­über­ge­hend, aber wir wuß­ten noch nicht, ob die­ser Zustand bis mor­gen dau­ern wür­de, oder noch ein paar Wochen, oder Jah­re, oder gar unser gan­zes Leben.«

»Die Liste der­je­ni­gen Schrift­stel­ler, die unter den Natio­nal­so­zia­li­sten dif­fa­miert wur­den, trägt Hun­der­te von Namen. So rigo­ros hat sich kein Volk von einer gan­zen Lite­ra­tur-Epo­che tren­nen las­sen, die in ihrer Haupt­rich­tung den Namen Expres­sio­nis­mus trägt. Es war jene Kunst, wel­che die Zer­falls­er­schei­nun­gen des Kapi­ta­lis­mus offen­leg­te und gegen die Restau­ra­ti­on kämpf­te, die mit dem Natio­nal­so­zia­lis­mus in die Kata­stro­phe führ­te.« Dies schrieb der Jour­na­list Jür­gen Ser­ke 1977 im Vor­wort sei­nes Buches Ver­brann­te Dich­ter, das 33 Por­träts von Autorin­nen und Autoren ent­hält, deren lite­ra­ri­schen Lebens­läu­fe von den Natio­nal­so­zia­li­sten gekappt wor­den waren. Das Buch basier­te auf sei­ner im Jahr zuvor im stern ver­öf­fent­lich­ten Serie, mit der Ser­ke zum ersten Mal nach dem Krieg die­se Ver­fem­ten und Ver­folg­ten samt ihren ver­brann­ten und ver­bo­te­nen Wer­ken der Ver­ges­sen­heit ent­ris­sen hat­te. (Jür­gen Ser­ke starb vor zwei Mona­ten, am 13. April, weni­ge Tage vor sei­nem 86. Geburtstag.)

Den Beginn die­ser Kata­stro­phe nach Hit­lers Macht­er­grei­fung hat der Schrift­stel­ler Uwe Witt­stock vor drei Jah­ren in sei­nem Buch Febru­ar 1933. Der Win­ter der Lite­ra­tur beschrie­ben. Er hat dabei »von Tag zu Tag ver­folgt, wie das glanz­vol­le lite­ra­ri­sche Leben der Wei­ma­rer Zeit in weni­gen Wochen einem lan­gen Win­ter wich und sich das Netz für Tho­mas Mann und Ber­tolt Brecht, für Else Las­ker-Schü­ler, Alfred Döb­lin und vie­le ande­re immer fester zuzog«.

Anfang die­ses Jah­res ließ Witt­stock mit Mar­seil­le 1940. Die gro­ße Flucht der Lite­ra­tur den zwei­ten Teil sei­ner Zeit­ge­schich­te fol­gen: Die deut­sche Wehr­macht hat Frank­reich besiegt. Die Gesta­po fahn­det nach deut­schen und öster­rei­chi­schen Schrift­stel­le­rin­nen und Schrift­stel­lern, nach Intel­lek­tu­el­len sowie Künst­le­rin­nen und Künst­lern, nach Hein­rich Mann und Golo Mann und Franz Wer­fel, nach Han­nah Are­ndt, Lion Feucht­wan­ger, nach Wal­ter Ben­ja­min und Wal­ter Hasen­cle­ver und Wal­ter Meh­ring, nach Anna Seg­hers und unzäh­li­gen ande­ren, die seit 1933 in Frank­reich Asyl gefun­den hat­ten. Und die Wege der mei­sten kreu­zen sich auf der Suche nach Flucht­mög­lich­kei­ten in Marseille.

Zur sel­ben Zeit, es ist der 16. Mai 1940, erhält in New York Vari­an Fry, Chef­lek­tor einer wohl­ha­ben­den Stif­tung, die eine Buch­rei­he zu außen­po­li­ti­schen The­men her­aus­gibt, den Anruf von Paul Hagen, einem Jour­na­li­sten aus Deutsch­land, der aus Rück­sicht auf zurück­ge­blie­be­ne Fami­li­en­an­ge­hö­ri­ge unter die­sem Tarn­na­men in New York lebt. Nach dem Ersten Welt­krieg hat­te es Hagen zur KPD gezo­gen, dann wur­de er Mit­glied der SPD. Gleich nach Hit­lers Macht­über­nah­me muss­te er Deutsch­land ver­las­sen. Nach sei­ner Ankunft in den USA hat­te er unver­züg­lich mit ande­ren Akti­vi­sten die Orga­ni­sa­ti­on Ame­ri­can Fri­ends of Ger­man Free­dom gegrün­det und auch Ver­bin­dung zu Vari­an Fry aufgenommen.

Bei­de mach­ten sich kei­ne Illu­sio­nen über die gefähr­li­che Lage der Exi­lan­ten in Euro­pa, vor allem seit ihnen Para­graf 19 des Waf­fen­still­stands­ver­trags zwi­schen Fran­zo­sen und Deut­schen bekannt wur­de: »Die fran­zö­si­sche Regie­rung ist ver­pflich­tet, alle in Frank­reich befind­li­chen Deut­schen, die von der Deut­schen Reichs­re­gie­rung nam­haft gemacht wer­den, auf Ver­lan­gen auszuliefern.«

Der sie­ben­und­zwan­zig­jäh­ri­ge Fry hat­te sich im Som­mer 1935 auf einer Recher­che­rei­se in Ber­lin auf­ge­hal­ten, »um sich ein eige­nes Bild von Hit­lers neu­em Deutsch­land zu machen«, denn nach sei­ner Ansicht ging »die größ­te Gefahr in der inter­na­tio­na­len Poli­tik von den faschi­sti­schen Regi­men in Euro­pa aus, von Ita­li­en, Öster­reich und vor allem von Deutsch­land«. Auf dem Kur­für­sten­damm wur­de er Zeu­ge, wie jun­ge Män­ner, ein­heit­lich in wei­ße Hem­den geklei­det, Autos stopp­ten, Insas­sen her­aus­zerr­ten, auf sie ein­schlu­gen, Auto­schei­ben zer­trüm­mer­ten. Er beob­ach­te­te, wie SA-Leu­te in Uni­form vor einem Stra­ßen­ca­fé das Geschirr vom Tisch feg­ten, wie sie Stüh­le in die Fen­ster­schei­ben war­fen und wie zwei SA-Leu­te durch das Lokal patrouil­lier­ten und einem mög­li­cher­wei­se jüdi­schen Gast mit dem Ehren­dolch eine Hand an die Tisch­plat­te hef­te­ten. Alles beglei­tet von dem wil­den Geschrei: »Jude! Ein Jude! Tod den Juden!«

Noch in der Nacht geht Frys Bericht an die New York Times, er erscheint auf der ersten Sei­te. Am näch­sten Mor­gen erhielt er auf sei­nen Anruf hin umge­hend einen Gesprächs­ter­min im Infor­ma­ti­ons­bü­ro der NSDAP für die aus­län­di­sche Pres­se, und zwar bei des­sen Chef Ernst Hanf­staengl. Die­ser bestä­tig­te ihm über­ra­schen­der­wei­se, »alles sei selbst­ver­ständ­lich von Leu­ten der Par­tei orga­ni­siert wor­den« und daher kei­ne »spon­ta­ne Auf­wal­lung des Volks­zorns gewe­sen«, wie die offi­zi­el­le Sprach­re­ge­lung lau­te­te. Im Lau­fe des Gesprächs erläu­ter­te Hanf­staengl dem Jour­na­li­sten, »unter Hit­lers Pala­di­nen (gebe) es zwei Lager: Eine mode­ra­te Grup­pe möch­te die Juden in spe­zi­ell aus­ge­wie­se­nen Reser­va­ten unter­brin­gen, um sie kon­se­quent von der ari­schen Bevöl­ke­rung zu tren­nen. Die radi­ka­le Grup­pe dage­gen (wol­le) die Juden­fra­ge durch ein Blut­bad lösen«. Das Wort »Blut­bad« gräbt sich tief in Frys Gedächt­nis ein. Ihm wur­de klar, »dass er etwas gehört hat, das sel­ten in die­ser Deut­lich­keit aus­ge­spro­chen wird und das wohl kaum jeman­dem in Ame­ri­ka bewusst ist«.

Fry und Hagen begin­nen umge­hend, die Grund­zü­ge ihres Vor­ge­hens zu ent­wer­fen. Erfin­dungs­geist und Tat­kraft sind gefor­dert. Sie wis­sen, »wenn sie den Bedroh­ten hel­fen wol­len, müs­sen sie sehr schnell sein, schnel­ler als die Gesta­po«. Sie sind sich einig, dass sie »für eine rasche Ret­tungs­ak­ti­on in Frank­reich pro­mi­nen­te Mit­strei­ter (brau­chen), die ihrem Vor­ha­ben öffent­li­che Auf­merk­sam­keit ver­schaf­fen, dazu eine klei­ne, schlag­kräf­ti­ge Orga­ni­sa­ti­on und nicht zuletzt Geld, viel Geld«. Das Ziel ist klar: Es sol­len so vie­le Ver­folg­te wie mög­lich geret­tet werden.

Wie Fry und sei­ne Mit­strei­ter dabei vor­ge­hen und wie sie es schaf­fen, dass vie­len die Flucht gelingt – nicht allen; und man­che geben auf oder neh­men sich aus Angst das Leben – davon erzählt Uwe Witt­stock anschau­lich und prä­zi­se, berüh­rend und so span­nend, dass man das Buch nicht vor der letz­ten Sei­te aus der Hand legen möch­te. Bei der Dar­stel­lung des Gesche­hens hat er sich, wie er im Nach­wort schreibt, »eng an das (gehal­ten), was sei­ne Prot­ago­ni­stin­nen und Prot­ago­ni­sten über ihre Flucht berich­tet haben«.

In einem Inter­view mit der Zeit­schrift Bücher­men­schen beschrieb Witt­stock Vari­an Fry als jemand, der oft Depres­sio­nen hat­te und schnell mit ande­ren in Streit geriet. »Aber als er in Mar­seil­le ein­traf, ent­pupp­te er sich plötz­lich als exzel­len­ter Men­schen­ken­ner. Er hat mit traum­haft siche­rem Griff lau­ter hoch­be­gab­te, loya­le, muti­ge Leu­te um sich geschart. Ohne sie hät­te er nie­mals so vie­le Men­schen ret­ten kön­nen. Es klingt absurd, aber bei sei­ner gefahr­vol­len Arbeit in Frank­reich ist er oft glück­lich gewe­sen. (…) Dass es in der Geschich­te immer wie­der sol­che Men­schen gibt, ist eine enor­me Ermutigung.«

Fry selbst habe nach dem Zwei­ten Welt­krieg trotz sei­ner Hel­den­ta­ten »nie den Ein­druck ent­ste­hen (las­sen), er erzäh­le die Geschich­te eines sin­gu­lä­ren Hel­den«. Immer wie­der habe er betont, »wie wenig ein Ein­zel­ner damals errei­chen konn­te und in wie hohem Maße das Über­le­ben der Ver­folg­ten von einem still­schwei­gen­den Zusam­men­wir­ken vie­ler Men­schen abhän­gig war«. Hoch klingst du, Lied vom bra­ven Mann!

Uwe Witt­stock: Mar­seil­le 1940. Die gro­ße Flucht der Lite­ra­tur, C.H.Beck, Mün­chen 2024, 351 S., 26 €.