Hoch klingst du, Lied vom braven Mann, / Wie Orgelton und Glockenklang! / Wer solchen Muts sich rühmen kann, / Den lohnt kein Gold, den lohnt Gesang. / Gottlob! daß ich singen und preisen kann, / Unsterblich zu preisen den braven Mann. (Gottfried August Bürger, 1747-1794, Das Lied vom braven Manne)
Marseille, die Millionenstadt am Mittelmeer, gilt heute als »Ort harter sozialer Gegensätze«, dessen »nördliche Viertel von Drogengangs beherrscht werden« (stern online, 18. Mai 2024), eine Stadt zwischen Niedergang und tapferem Aufbegehren gegen das Verbrechen.
Vor fast 85 Jahren war die Situation eine andere. Die französische Hafenstadt lag im unbesetzten Teil Frankreichs und wurde daher zum Hoffnungsort und Ziel für die Menschenströme aus vielen Ländern Europas, vor allem aber für jene Migranten, die sich im Sommer 1940, als die Wehrmacht die französische Hauptstadt erreichte, auf den Weg gen Süden machten, der scheinbar letzten Zuflucht.
Hier in Marseille begann Anna Seghers unter dem unmittelbaren Eindruck persönlicher Erlebnisse ihren weltberühmten Roman Transit zu schreiben und setzte damit der Stadt ein literarisches Denkmal. »Alles war auf der Flucht, alles war nur vorübergehend, aber wir wußten noch nicht, ob dieser Zustand bis morgen dauern würde, oder noch ein paar Wochen, oder Jahre, oder gar unser ganzes Leben.«
»Die Liste derjenigen Schriftsteller, die unter den Nationalsozialisten diffamiert wurden, trägt Hunderte von Namen. So rigoros hat sich kein Volk von einer ganzen Literatur-Epoche trennen lassen, die in ihrer Hauptrichtung den Namen Expressionismus trägt. Es war jene Kunst, welche die Zerfallserscheinungen des Kapitalismus offenlegte und gegen die Restauration kämpfte, die mit dem Nationalsozialismus in die Katastrophe führte.« Dies schrieb der Journalist Jürgen Serke 1977 im Vorwort seines Buches Verbrannte Dichter, das 33 Porträts von Autorinnen und Autoren enthält, deren literarischen Lebensläufe von den Nationalsozialisten gekappt worden waren. Das Buch basierte auf seiner im Jahr zuvor im stern veröffentlichten Serie, mit der Serke zum ersten Mal nach dem Krieg diese Verfemten und Verfolgten samt ihren verbrannten und verbotenen Werken der Vergessenheit entrissen hatte. (Jürgen Serke starb vor zwei Monaten, am 13. April, wenige Tage vor seinem 86. Geburtstag.)
Den Beginn dieser Katastrophe nach Hitlers Machtergreifung hat der Schriftsteller Uwe Wittstock vor drei Jahren in seinem Buch Februar 1933. Der Winter der Literatur beschrieben. Er hat dabei »von Tag zu Tag verfolgt, wie das glanzvolle literarische Leben der Weimarer Zeit in wenigen Wochen einem langen Winter wich und sich das Netz für Thomas Mann und Bertolt Brecht, für Else Lasker-Schüler, Alfred Döblin und viele andere immer fester zuzog«.
Anfang dieses Jahres ließ Wittstock mit Marseille 1940. Die große Flucht der Literatur den zweiten Teil seiner Zeitgeschichte folgen: Die deutsche Wehrmacht hat Frankreich besiegt. Die Gestapo fahndet nach deutschen und österreichischen Schriftstellerinnen und Schriftstellern, nach Intellektuellen sowie Künstlerinnen und Künstlern, nach Heinrich Mann und Golo Mann und Franz Werfel, nach Hannah Arendt, Lion Feuchtwanger, nach Walter Benjamin und Walter Hasenclever und Walter Mehring, nach Anna Seghers und unzähligen anderen, die seit 1933 in Frankreich Asyl gefunden hatten. Und die Wege der meisten kreuzen sich auf der Suche nach Fluchtmöglichkeiten in Marseille.
Zur selben Zeit, es ist der 16. Mai 1940, erhält in New York Varian Fry, Cheflektor einer wohlhabenden Stiftung, die eine Buchreihe zu außenpolitischen Themen herausgibt, den Anruf von Paul Hagen, einem Journalisten aus Deutschland, der aus Rücksicht auf zurückgebliebene Familienangehörige unter diesem Tarnnamen in New York lebt. Nach dem Ersten Weltkrieg hatte es Hagen zur KPD gezogen, dann wurde er Mitglied der SPD. Gleich nach Hitlers Machtübernahme musste er Deutschland verlassen. Nach seiner Ankunft in den USA hatte er unverzüglich mit anderen Aktivisten die Organisation American Friends of German Freedom gegründet und auch Verbindung zu Varian Fry aufgenommen.
Beide machten sich keine Illusionen über die gefährliche Lage der Exilanten in Europa, vor allem seit ihnen Paragraf 19 des Waffenstillstandsvertrags zwischen Franzosen und Deutschen bekannt wurde: »Die französische Regierung ist verpflichtet, alle in Frankreich befindlichen Deutschen, die von der Deutschen Reichsregierung namhaft gemacht werden, auf Verlangen auszuliefern.«
Der siebenundzwanzigjährige Fry hatte sich im Sommer 1935 auf einer Recherchereise in Berlin aufgehalten, »um sich ein eigenes Bild von Hitlers neuem Deutschland zu machen«, denn nach seiner Ansicht ging »die größte Gefahr in der internationalen Politik von den faschistischen Regimen in Europa aus, von Italien, Österreich und vor allem von Deutschland«. Auf dem Kurfürstendamm wurde er Zeuge, wie junge Männer, einheitlich in weiße Hemden gekleidet, Autos stoppten, Insassen herauszerrten, auf sie einschlugen, Autoscheiben zertrümmerten. Er beobachtete, wie SA-Leute in Uniform vor einem Straßencafé das Geschirr vom Tisch fegten, wie sie Stühle in die Fensterscheiben warfen und wie zwei SA-Leute durch das Lokal patrouillierten und einem möglicherweise jüdischen Gast mit dem Ehrendolch eine Hand an die Tischplatte hefteten. Alles begleitet von dem wilden Geschrei: »Jude! Ein Jude! Tod den Juden!«
Noch in der Nacht geht Frys Bericht an die New York Times, er erscheint auf der ersten Seite. Am nächsten Morgen erhielt er auf seinen Anruf hin umgehend einen Gesprächstermin im Informationsbüro der NSDAP für die ausländische Presse, und zwar bei dessen Chef Ernst Hanfstaengl. Dieser bestätigte ihm überraschenderweise, »alles sei selbstverständlich von Leuten der Partei organisiert worden« und daher keine »spontane Aufwallung des Volkszorns gewesen«, wie die offizielle Sprachregelung lautete. Im Laufe des Gesprächs erläuterte Hanfstaengl dem Journalisten, »unter Hitlers Paladinen (gebe) es zwei Lager: Eine moderate Gruppe möchte die Juden in speziell ausgewiesenen Reservaten unterbringen, um sie konsequent von der arischen Bevölkerung zu trennen. Die radikale Gruppe dagegen (wolle) die Judenfrage durch ein Blutbad lösen«. Das Wort »Blutbad« gräbt sich tief in Frys Gedächtnis ein. Ihm wurde klar, »dass er etwas gehört hat, das selten in dieser Deutlichkeit ausgesprochen wird und das wohl kaum jemandem in Amerika bewusst ist«.
Fry und Hagen beginnen umgehend, die Grundzüge ihres Vorgehens zu entwerfen. Erfindungsgeist und Tatkraft sind gefordert. Sie wissen, »wenn sie den Bedrohten helfen wollen, müssen sie sehr schnell sein, schneller als die Gestapo«. Sie sind sich einig, dass sie »für eine rasche Rettungsaktion in Frankreich prominente Mitstreiter (brauchen), die ihrem Vorhaben öffentliche Aufmerksamkeit verschaffen, dazu eine kleine, schlagkräftige Organisation und nicht zuletzt Geld, viel Geld«. Das Ziel ist klar: Es sollen so viele Verfolgte wie möglich gerettet werden.
Wie Fry und seine Mitstreiter dabei vorgehen und wie sie es schaffen, dass vielen die Flucht gelingt – nicht allen; und manche geben auf oder nehmen sich aus Angst das Leben – davon erzählt Uwe Wittstock anschaulich und präzise, berührend und so spannend, dass man das Buch nicht vor der letzten Seite aus der Hand legen möchte. Bei der Darstellung des Geschehens hat er sich, wie er im Nachwort schreibt, »eng an das (gehalten), was seine Protagonistinnen und Protagonisten über ihre Flucht berichtet haben«.
In einem Interview mit der Zeitschrift Büchermenschen beschrieb Wittstock Varian Fry als jemand, der oft Depressionen hatte und schnell mit anderen in Streit geriet. »Aber als er in Marseille eintraf, entpuppte er sich plötzlich als exzellenter Menschenkenner. Er hat mit traumhaft sicherem Griff lauter hochbegabte, loyale, mutige Leute um sich geschart. Ohne sie hätte er niemals so viele Menschen retten können. Es klingt absurd, aber bei seiner gefahrvollen Arbeit in Frankreich ist er oft glücklich gewesen. (…) Dass es in der Geschichte immer wieder solche Menschen gibt, ist eine enorme Ermutigung.«
Fry selbst habe nach dem Zweiten Weltkrieg trotz seiner Heldentaten »nie den Eindruck entstehen (lassen), er erzähle die Geschichte eines singulären Helden«. Immer wieder habe er betont, »wie wenig ein Einzelner damals erreichen konnte und in wie hohem Maße das Überleben der Verfolgten von einem stillschweigenden Zusammenwirken vieler Menschen abhängig war«. Hoch klingst du, Lied vom braven Mann!
Uwe Wittstock: Marseille 1940. Die große Flucht der Literatur, C.H.Beck, München 2024, 351 S., 26 €.