CALVADOS – Der Apfelschnaps wird in der Bar am Bahnhof in Caen, einer Stadt im Zentrum der Normandie, schon frühmorgens in den schwarzen Kaffee oder gleich so gekippt. Die einen zelebrieren den »Café Calva« zum Abschluss ihrer Schicht, ehe sie nach Hause gehen, die anderen nehmen ihn als Tagesöffner zu sich. An kalten und verregneten Tagen bestellen sie stehend am Zinc ihren Kaffee eiliger, und der Barmann, der den Calvados gleich neben sich stehen hat, blickt zur Flasche und zum Gast, der nickt und wartet den Moment des Einschenkens ungeduldig ab, bis er die Mischung zum Mund führen kann, um das morgendliche Ritual abzuschließen, ehe es hinaus in den Tag geht. Diese Szenerie erinnert mich an eine Beobachtung Walter Benjamins vor fast einhundert Jahren in einem Pariser Bahnhof: »was nimmst du mit diesem Kaffee nicht alles zu dir: den ganzen Morgen, den Morgen von diesem Tag und manchmal auch den verlorenen des Lebens.«
TROU NORMAND – Jeanne, die Mutter meines Freundes Loïc, besorgt den Calvados für den familiären Gebrauch auf dem Wochenmarkt. Es gibt da einen speziellen Gemüsehändler, der bietet seine Ware auf einem Handwagen an, über den er eine breite Holzplatte legt. Nachdem die Kartoffeln, die Zwiebeln, die Tomaten in der Einkaufstasche verstaut sind, zeigt der stumme Blick der Kundin auf den Wagen unter der Platte, und der Händler verschiebt diese ein wenig und holt eine Flasche darunter hervor, die, bereits diskret in die Seiten einer Ausgabe der Libération gewickelt, ebenfalls in der Tasche verschwindet. »Es gibt keinen besseren Calva«, schwärmt Jeanne, wenn sie ihn bei einem längeren Essen zwischendurch aus der Küche holt, in der anderen Hand vier Schnapsgläser. Stimmt, denken alle und glauben an das »Trou Normand«, das Normannische Loch, den Genuss des französischen Apfelbranntweins, ein Pausenfüller, der Platz schaffen soll für die Fortsetzung des Essens.
INVITATION – Jeanne und André haben mich zu sich eingeladen, zur traditionell gefeierten Réveillon, und ich gehe mit Loïc zu seinen Eltern, die seit ein paar Jahren in einem Neubaugebiet wohnen. Die Blaue Stunde ist schon vorüber. Allzu viel weihnachtliches Dekor begegnet uns nicht unterwegs, hier und da ein paar Zweige und Lichter in den Fenstern. Bei den Eltern steht ein karg geschmückter, etwas besenartiger Baum mit elektrischen Kerzen. Überhaupt strahlt das Wohn- und Esszimmer wenig anheimelnde Wärme aus. Ein Tisch mit durchsichtiger Plastikdecke und vier Stühle füllen den vorderen und größeren Teil des Raumes. Vor der einen geweißten Wand steht eine halbhohe, dunkel gebeizte Kommode mit Obstteller und daneben ein schmaler Schrank, der im oberen Teil hinter zwei Glasscheiben etliches Geschirr verstaut hält. Im hinteren Teil des Zimmers, vor der Tür, die zum Garten führt, fällt im lockeren Faltenwurf eine bodenlange Gardine, die über die ganze Wand reicht. Davor haben sie als einzig bequemes Möbel einen Klappliegestuhl hingestellt, der im Sommer im Garten steht und mich an einen Film von Jaques Tati erinnert, in dem er sich beim Aufstellen eines Liegestuhls völlig verheddert. An der Wand, vor dem der Esstisch steht, hängt als einzig wärmender Blickfang ein großformatiges Ölbild, das Loïc im ersten Jahr seines Studiums an der École des Beaux-Arts gemalt hat und das ihm heute peinlich ist; aber zu Hause darf es hängen, zum Stolz der Eltern.
UND BEI EUCH? – Schon tags zuvor fragte mich Loïc nach dem typischen Weihnachtsessen in Deutschland, am Heiligen Abend. »Ach, Kartoffelsalat mit Würstchen, manchmal auch selbstgemachter Heringssalat mit Rote Beete, nichts Besonderes«, winkte ich ab, und fügte hinzu: »Das richtige Weihnachtsessen gibt es am 1. Weihnachtstag. Gänsebraten mit Rotkohl und Kartoffeln, oder Forelle Blau oder Müllerinnen Art.« Loïc schaute, als hätte er eine Kröte verschluckt, und sonst? – »Naja, ’ne Suppe vorweg und Nachtisch«, schob ich nach, »es ist halt sehr norddeutsch und evangelisch«.
SAMEDIE 24 DÉCEMBRE – Es hat bereits am Morgen ein wenig zu schneien begonnen, und wir klopfen im schmalen Hausflur unsere Jacken ab, schlüpfen aus den nassen Schuhen in die bereitstehenden Filzpantoffeln. Jeanne steht in der Küchentür. Rosig glänzende Wangen. Sie schnippt mit zwei Fingern ein paar Haarsträhnen beiseite und plaudert gleich drauflos: »Da werde ich heut meine drei Männer bekochen, benehmt Euch«, droht sie mit dem Finger. »André, schenk den jungen Männern einen Pastis ein«, ruft sie zum Wohnzimmer hinüber und zwinkert uns zu, »wir haben schon ein Gläschen genommen«.
André hat den Aperitif längst auf dem Tisch platziert und einen Teller mit Oliven und Holzspießchen dazu. Er schenkt ein und ruft seine Frau. Doch die wehrt aus der Küche ab: »Nein, dann bin ich nachher gleich malade, trinkt, trinkt.« Der Tisch ist gedeckt, eine Festtafel! Und es duftet in allen Zimmern nach Gewürzen, Gebratenem und Gekochtem. Wir stehen rum, André erklärt mir das große Bild seines Sohnes, der sich zu Jeanne in die Küche verzieht und mit einem Tablett zurückkehrt: »Coquilles Saint-Jacques avec Haricots de Mer«, flötet Loïc, spielt den Kellner und ordert: »Papa, der Weiße!« Und Papa verschwindet und kehrt mit einer entkorkten Flasche Muscadet zurück. Auffällig schweigsam nehmen wir diesen ersten Gang ein, Jakobsmuscheln mit Meerspargel, nie zuvor habe ich etwas Ähnliches geschmeckt. Ich verheimliche mein Entzücken nicht, und Jeanne lächelt mit gesenktem Kopf in sich hinein, während ihre Männer stolz auf die Köchin weisen.
Damit ist der Reigen der Vorspeisen erst eröffnet. Es folgt die in Butter sautierte Foie Gras, eine Delikatesse, die im Deutschen allerdings weniger delikat klingt: Gänsestopfleber. Wer sieht nicht die gequälten, gestopften Gänse vor sich. Foie Gras klingt da für deutsche Ohren weniger verdächtig, und mit einer raffinierten Zwiebelkonfitüre und auf kräftig getoastetem Weißbrot genossen, ist alle Gänsestopferei vergessen. Dazu wechselt der Weißwein ins Liebliche.
Dann entsteht eine längere Pause. Essen ist in Frankreich eine Aufführung, unterteilt in mehrere Akte, wohingegen man in Deutschland zumeist rasch durch ist. André wärmt die etwas zu kalte, aber bereits geöffnete Flasche Rotwein zwischen seinen Beinen an. Sie ragt ein wenig obszön aus den Schenkeln hervor und lugt gerade eben über die Tischkante. Die Kommentierung dieses Anblicks lässt sich als süffisantes Grinsen auf allen Gesichtern ablesen. Bald wird die Hauptsache, der Truthahn oder die Pute, aufgetragen werden, die Dinde aux Marrons, die die duftgeschwängerte Luft schon seit unserer Ankunft dominiert. Aber noch ist es nicht so weit. Jeanne kommt immer wieder von der Küche an den Tisch, schaltet sich in die Gespräche ein und eilt wieder an den Herd zurück, »mon Dieu, la sauce«!
Bei einem ihrer Gänge zwischen Küche und Esstisch bringt sie den Putenhals mit, legt ihn auf ihren Teller und geht wieder zurück, weil irgendwas sonst anbrennt. Sie liebt es, das Fleisch des Halses allein und vorab zu verspeisen. André nimmt rasch den Putenhals und versteckt ihn unterm Tisch. Als sie zurückkommt, schaut sie irritiert auf den Teller, schüttelt den Kopf, geht wieder in die Küche, redet mit sich, klappert mit Geschirr, kommt an den Tisch: »Habe ich den Putenhals schon gegessen? Ich weiß es nicht mehr«, sieht sie uns ratlos-fragend an. Loïc kann sich vor Lachen nicht halten und verrät damit natürlich André, der den Hals mit unschuldigem Augenaufschlag unter dem Tisch hervorholt. »Oh, Kerle«, gespielt-verärgert, aber beglückt, macht sie sich über den Hals des Vogels her. Sie belohnt sich für ihre Arbeit und steigert unsere Erwartung auf den Hauptgang des Menu de Noël.
Sieben Sorten Fleisch liegen alsbald – von Maronenfüllung und Gemüsevariationen umgeben – tranchiert auf einem Präsentierteller vor uns. Da zeigt sich helles, trocken-zartes Brustfleisch, umschlossen von saftigen, fein zerlegten Unter- und Oberkeulen, ein dunkles Fleisch, und die überraschend würzigen, weißfleischigen Flügel schließen das noch dampfende Gemälde zum Plattenrand ab. André erlöst die Rotweinflasche aus der Umklammerung seiner Schenkel und schenkt uns ein.
Wer nach diesem Gipfel verstohlen auf die Armbanduhr linst, sollte des Tisches, hinaus in den nasskalten Abend der Normandie, verwiesen werden. Nein, es ist die richtige Zeit, den auf dem Markt erworbenen, schwarzgebrannten Calvados auszuschenken, um etwas Platz zu schaffen für die folgenden Gaumenfreuden. Der Wochenmarkt in Caen ist der Vorplatz zum Schlaraffenland des Speisens. Nirgendwo ist das Fleisch, sind die Fische, das Gemüse frischer und der Calvados besser. »So«, ruft Loïc, »jetzt ein Trou Normand«, erhebt sich, eilt an die Anrichte, zaubert die Flasche hervor, entkorkt sie, reibt mit dem Korken an der Flasche, bis es frohlockend quietscht, und schenkt allen in die bereitstehenden Gläschen ein. Es ist ein Augenblick des Innehaltens, zu spüren, wie der leicht goldfarbene Tropfen seinen Weg durch die Kehle in die Tiefen des Leibes findet. Gleich wird Jeanne wieder in der Küche hantieren und wir die geplünderte Platte, die Saucieren, Schüsselchen, Teller, Besteck und Gläser abdecken, hinaustragen und den Tisch neu eindecken.
Grüner Salat mit einer Essig-Öl-Senf-Vinaigrette leitet den Übergang zum Käse ein, der in den Variationen der Normandie auf einem langen Holzbrett auf den Tisch kommt, ein Korb mit aufgeschnittener Baguette, und wahlweise Rot- oder Weißwein, bei Letzterem füllt ein geschmeidiger Chablis die Gläser.
DESSERTS – Wer jetzt schon pumpelsatt ist, verfügt nicht über die hier notwendige Kondition, hat zuvor zu heftig zugelangt oder lässt sich täuschen. Nach einer launigen Pause, Zigarette im Garten, einem Kaffee oder Likör, geht es weiter auf der Stufenleiter der süßen Abschiede, die die Weihnachtsspeisegesellschaft nun erwartet. Selbstverständlich wird der einem Holzstamm ähnliche Schokoladenkuchen, Bûche de Noël, aufgetischt, der eine alte Tradition symbolisiert, aus Zeiten, in denen trockenes Feuerholz teuer war und jeder Gast ein Holzscheit zum Heizen mitbrachte. Nach diesem Kalorienanschlag, der Puter war dagegen harmlos, eröffnet die Köchin und Hüterin der Speisekammer das weite Feld der süßen Verführungen: Fougasse (Pfannkuchen), getrocknete Feigen, Pistazien, Datteln, Nüsse, Mandeln, Haselnussnougat – und alles in kleinen, raffinierten Verwandlungen kombiniert. Längst wird der Wunsch nach Mocca laut und erfüllt. André holt noch ein paar edle Schnäpse aus der Anrichte hervor, die den Übergang in die späte Nacht begleiten helfen und die allesamt, versichert er sich und uns, verdauungsfördernd seien. Zum Schluss noch einen sanften Marc de Champagne, und Loïc und ich taumeln in die mitternächtliche Schneeluft, zurück in die Rue de Bayeux. Ich weiß nicht, wie sich Gott in Frankreich fühlt, aber so muss es in etwa sein.
POSTSKRIPTUM – Das ist lange her. Mein Berliner Nachbar Denis M., ein gebürtiger Nordfranzose, erzählte mir letztens vom Ursprung des legendären Trou Normand, das aus der bäuerlichen Welt der Normandie sich herleitet. Es ging einst um die ausführlichen Mittagessen mit guten Freunden, Bauern der Umgebung, die sich oft bis in den späten Nachmittag hinziehen konnten. Sie wurden gegen 17 Uhr vom plötzlichen Verschwinden der Gäste unterbrochen, die noch schnell einen Calvados tranken und weg waren, daheim die Kühe zu melken. Als sie zurückkamen, war bereits Abendessen angesagt, nicht ganz so üppig wie zu Mittag, aber auch das zog sich. Diese Unterbrechung zwischen Mittag- und Abendessen, das ist das ursprüngliche und weit größere Normannische Loch, umstellt von einigen Gläsern Calvados.