Olaf Scholz hat es weit gebracht. Nicht nur »unsere« Ukraine wird mit allen möglichen Quasi-Kulturauszeichnungen eingedeckt; um einmal bildlich so schief zu formulieren wie die jahresendzeitlich enthusiasmierten Medien: Auch der eisern entschlossene Kanzler kann sich im Bereich sprachlichen Schaffens eine Feder an die Haubitze stecken, mit der er sein Volk behütet. »›Zeitenwende‹ steht im Zusammenhang mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine und wurde unter anderem von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) aufgegriffen und(!) geprägt« (zdf.de, 09.12.2022). Nun, dazu sei zuerst einmal nur wortklauberisch angemerkt: Man muss sich schon entscheiden, ob der Begriff »aufgegriffen« oder »geprägt« wurde. Beides zusammen geht nicht; Odo Marquard z. B. griff das Wort »Inkompetenzkompensationskompetenz« nicht einfach auf – er prägte damit einen, seinen Begriff.
Weshalb nun »prägt« Scholz trotzdem? Die das Wort des Jahres Kürenden geben Auskunft: »Das keineswegs neue Wort, das speziell für den Beginn der christlichen Zeitrechnung, in allgemeinerer Bedeutung auch für jeden beliebigen Übergang in eine neue Ära steht, wurde in diesem zweiten Sinne prominent von Bundeskanzler Olaf Scholz verwendet« (Begründung der GfDS-Jury). Der Umstand, dass sich die Sprache der Macht des Begriffs bedient, adelt diesen und durch den ständigen Widerhall in den medialen Echokammern auch dessen Verkünder. Anscheinend trifft »die Zeitenwende« den Nagel der Zeit so markant auf den Kopf, dass sich Martin Benninghoff in der Weihnachtsausgabe der Frankfurter Rundschau tief beeindruckt zeigt: »Der Begriff saß, und er sitzt immer noch, zehn Monate später, am Puls der Zeit (klingt komisch, aber: egal!), und er kam zum richtigen Zeitpunkt. Als Claim wird er die Amtszeit(en) dieses Kanzlers überdauern.« Also: Welch Sprachkraft!
Die Wahl des Begriffs ist begründet und von anhaltender Relevanz. Ihm wohnt inne, was man braucht, um mit sprachlicher Falsch- und Ummünzerei eine wolkige Rechtfertigung dessen zu konstruieren, dass, weil nichts mehr so ist, wie es war (wofür »wir« natürlich überhaupt nichts können), alles notgedrungen anders werden muss. Diesem Imperativ »der Geschichte«, dieser »historischen Notwendigkeit«, deren unhintergehbarer Grund leicht namhaft zu machen ist, kann sich der deutsche Staat nicht entziehen. Das ist schon ein hehres überlebensnotwendiges und lauteres Motiv dafür, die Gesellschaft so umzubauen, dass sie auf keine Verbindung dem Feind gegenüber mehr angewiesen ist, und »die Zeitenwende« mit neuen Arsenalen und frischer Vernichtungskraft so in Angriff zu nehmen, dass wir begründet auf eine Welt ohne Putin hoffen dürfen. Mit dem Ausrufen der »Zeitenwende« – man spürt geradezu das Wehen des Mantels der Geschichte, der sich um die für des Geschickes Mächte gerüsteten Kanzlerschultern legt – wird der Bevölkerung das, was die Politik will, weil sie es kann, als neues »Schicksal« präsentiert. Darein, in »unseren Kampf«, wird und lässt sich der anständige Bürger auch engagiert schicken. Er ist es ja gewohnt und hat, jeder an seinem Platz, die Botschaft des Jahres schon verinnerlicht. Das Wort des Herrn ist volksempfänglich angekommen.