Bis zuletzt hat der 97-jährige Walter Kaufmann geschrieben, noch Tage vor seinem Tod eine Buchbesprechung für Ossietzky. Mit dieser Energie hat er es auf über 40 welthaltige Bücher gebracht, in einem Leben, von dem mitunter gesagt wird, es habe selbst einem Roman geglichen. Doch es war in seinem Ausgangspunkt traumatische Realität, auf die er als Romanvorlage gern verzichtet hätte. Als unehelicher Sohn einer jüdischen Mutter im Berliner Scheunenviertel geboren, wurde er mit zwei Jahren von einem wohlhabenden jüdischen Ehepaar aus Duisburg adoptiert, was er erst Jahre nach deren Tod in Auschwitz erfährt. Indizien ließen es ihn später für denkbar halten, dass der Adoptivvater auch sein leiblicher war. Was er nur im vertrauten Kreis erwähnte – wir kannten uns lange.
Zu Hause zunächst wohlbehütet aufgewachsen, bleiben ihm die Demütigungen auf dem Schulhof nicht erspart. Dafür, dass sein bester Freund zu ihm hält, wird der von den anderen verpönt, es rutscht ihm heraus: »Schade, dass du Jude bist.« (Daraus wurde viel später der Titel eines Buches, das für »meisterliche Kurzprosa« mit dem Literaturpreis des Ruhrgebietes ausgezeichnet wurde.) Als 14-Jähriger erlebte er das Grauen beim Anblick der brennenden Synagoge, deren Flammen auf seine Schule übergriffen, und wie sein Vater am selben Tag brutal verhaftet und seine Anwaltskanzlei demoliert wurde. Mit einem der letzten Transporte für jüdische Kinder schickten die Eltern ihn nach London.
Dort wurde er allerdings an seinem 15. Geburtstag als feindlicher Ausländer interniert und später mit 2000 anderen Flüchtlingen nach Australien geschifft, wo er die ersten 18 Monate in einem eingezäunten Wüstencamp verbringen muss. Weiterer Haft entkommt er durch freiwillige Meldung zur Armee, ist danach mal Obstpflücker, Hafenarbeiter, Fotograf, am liebsten Seemann. Ob dort Decksmann oder Kohlentrimmer, neben der Knochenarbeit bleibt Zeit, um an Deck erste Schreibversuche zu machen. Die Short Storys trägt er Interessierten gleich vor Ort vor, bekommt so Kontakt zur Gewerkschaft und zur KP-nahen Melbourne Realist Writers Group. 1953 erscheint auf Englisch sein erster Roman: Stimmen im Sturm. Zwei Jahre später wird er von der Australischen Seemannsgewerkschaft zu den Weltfestspielen nach Warschau delegiert.
Dort lernt er den DDR-Verleger Bruno Peterson kennen, der ihn zum bald stattfindenden Schriftstellerkongress nach Ostberlin einlädt. Die dortige Begegnung mit namhaften Re-Migranten wie Anna Seghers, Arnold Zweig, Bodo Uhse, die sich nach ihrem Exil alle für die DDR entschieden hatten, und ihn »ungemein beeindruckten«, war der Auslöser, sich für die DDR zu interessieren. Doch der Vorsitzende des Schriftstellerverbandes, der Spanienkämpfer Eduard Claudius, selbst aus dem Ruhrgebiet, sagte ihm: »Du kommst aus dem Ruhrgebiet, auch dort werden gute Leute gebraucht. Überleg dir das.«
Kaufmann nimmt den Rat an und reist nach 17 Jahren erstmalig wieder nach Duisburg. Es kostet ihn Überwindung, an seinem Elternhaus zu klingeln. Seit die Villa »frei gezogen« war, so hatte er gehört, wohnte dort eine Unternehmerfamilie. Hereingelassen wird er nicht. Auf der Steintreppe erklärt ihm die nunmehrige Besitzerin großherzig, sie habe seiner Mutter auf deren Bitten ihr festes Schuhwerk mit auf »die lange Reise« gegeben. Durch die offene Tür sieht er im Foyer noch das Bild hängen, das seine Mutter einst gemalt hatte. Von Nachbarn, auf Behörden und Ämtern wird er kühl empfangen – niemand weiß was, niemand will was wissen. »Ich fand die Erfahrung so kläglich, so wenig ermunternd, dass für mich nur die Alternative blieb, entweder nach Ostberlin oder zurück nach Australien«, sagt er im Mai 2019 der Jüdischen Rundschau. »Aber Sie hatten nicht irgendwelche prinzipiellen Sympathien für das ›andere System‹«, fragte das konservative Blatt nach und musste sich anhören: »Ich wollte, wenn überhaupt nach Deutschland, nur in dieses, das rote, das linke Deutschland, wo versucht wurde, den Sozialismus aufzubauen.«
Als perfekt Englisch sprechender Autor mit australischem Pass ist er in der DDR willkommen, wird als Berichterstatter in die ganze Welt geschickt. Etwa zum Prozess gegen Angela Davis in die USA. Im Künstlerort Kleinmachnow, dem Westberliner Zehlendorf benachbart, bekommt er bald ein schmuckes Häuschen am Waldrand zugewiesen. Später bin ich als Oberschülerin im örtlichen Jugendclub für Literatur verantwortlich und lade als allerersten diesen Kaufmann ein, der uns mit seinem charakteristischen, schwarzen Schnauzbart an Mark Twain erinnert. Er liest aus »Stefan, Mosaik einer Kindheit«, noch aus dem Englischen übersetzt. Und wir begriffen betroffen: Um Abenteuer geht es hier nicht.
Das Buch erschien, wie andere autobiografische Romane und Kinderbücher auch, in mehreren Auflagen und machte Walter Kaufmann in der DDR zu einem der authentischen Zeitzeugen der NS-Judenverfolgung. Ob er nicht gespürt habe, dass die Presse nicht frei war, insistierte die Jüdische Rundschau weiter. »Ich war ein jüdischer Emigrant in der DDR und wurde als solcher wahrgenommen. Alles, was ich an Erfahrungen mitbrachte, wurde unverfälscht gedruckt.« Das betraf auch seinen 1980 erschienenen Reportage-Band »Drei Reisen ins gelobte Land«, der enorme Resonanz fand. Israel hatte ihn fasziniert, etwa Begegnungen mit der Anwältin Felicitas Langner und mit Arbeitern oder Minderheiten aller Art; seine Beobachtungen veranlassten ihn aber auch zu dem dringlichen Appell, Araber und Juden mögen friedlich und freundschaftlich zusammenleben.
Zweifellos blieb auch Walter Kaufmann kleinkarierter Dogmatismus nicht erspart, aber er wusste sich übers Reisen hinaus Freiräume zu schaffen. Von 1985 bis 1993 war er Generalsekretär des ostdeutschen PEN und nahm als solcher manch repräsentative oder auch vermittelnde Funktion war. So konnte er durchsetzen, dass die eigentlich verfemten PEN-Mitglieder Stefan Heym und Ralph Giordano in der Vorwendezeit eine öffentliche Lesung bekamen. In seinem 2010 erschienenen Buch »Im Fluss der Zeit« beschrieb er dann seine Freude über die geöffnete Grenze, gleichzeitig war ihm, als habe er »ein Stück Heimat verloren«. Auf eine roten Ziegelmauer in Berlin-Lichtenberg sah er mit weißer Farbe einen Galgen gepinselt, an dem die Buchstaben GYSI hingen. »Damals fragte ich mich, ob nicht eine Rückkehr nach Australien zu erwägen wäre.«
Schon bald wurde sein Kleinmachnow zum Hotspot für Rückgabeforderungen einstiger westlicher Hausbesitzer. Erst da erinnerte er sich wieder der elterlichen Villa – schließlich wurde jüdisches Eigentum nun zurecht bevorzugt restituiert. Er erzählte mir, wie der Anwalt Otto Schily den Fall übernahm und ihm sagte: Das erledigen wir mit links. Doch beide mussten sich von Rechts wegen belehren lassen. Das Bundesministerium der Finanzen teilte Herrn Kaufmann im Juni 1995 mit: »Ansprüche nach dem Gesetz zur Regelung offener Vermögensfragen sind nicht gegeben, da dieses Gesetz nur für im Beitrittsgebiet belegenes Vermögen gilt.« Der Gesetzgeber hatte es also ermöglicht, dass in Ostdeutschland 2,2 Millionen Anträge auf Rückgabe von Immobilien gestellt werden konnten, in Westdeutschland aber kein einziger.
Trotz manchen Frustes gehörte Walter Kaufmann nach der Vereinigung zu den nicht so zahlreichen Ost-Autoren, die auch im Westen Verlage und Beachtung fanden. »Ein Leben auf Reisen«, so der Titel eines 2016 erschienenen Buches, blieb sein Thema. Aber er war auch in Berlin ständig auf Achse. Ob auf Demos, Konferenzen, im Theater, auf Ausstellungen, bei Lesungen von Kollegen oder PEN-Club Treffen, es war eine vertraut gewordene, schöne Gewohnheit, Walter und seine Lissy zu treffen. Man traf ihn auch auf dem Bildschirm, etwa 2018 im von der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur geförderten rbb-Film »Schalom Neues Deutschland – Juden in der DDR«. Nach dessen Voraufführung im Kino schrieb er mir: »Meine Aussage, dass ich in der DDR nie mit Antisemitismus konfrontiert worden war, fehlt im Film – sie wurde weggelassen oder fiel einer Panne bei den Dreharbeiten zum Opfer. Ich habe sie mündlich bei der Premiere wiederholt – es ist eine Plage mit diesen Filmmenschen!«
Im letzten Jahr setzte er sich einer solchen Plage noch zweimal aus und machte gute Erfahrungen. Sobald das Berliner Kino Babylon öffnen kann, wird man ihm dort immerhin wiederbegegnen, in einem Dokumentarfilm zu seinem dramatischen Leben. Wie schon jetzt in dem zweistündigen, biografischen Interview, das Sabine Kebir zuletzt auf weltnetz.tv mit dem Hellwachen führte. Nun ist seine Reise zu Ende gegangen. Nicht aber die Möglichkeit, sich auf die literarische Wanderschaft zu begeben, auf der er den Bedrängten eine Stimme gab.