Im Frühjahr 2014 hielt das bis zur Stunde ungeklärte Verschwinden von Flug MH 370 die halbe Welt in Atem. Wer krähte heute noch danach? Eine Boeing 777 mit 239 Menschen und einiger Fracht an Bord war (am 8. März) auf ihrem planmäßigen Nachtflug von Kuala Lumpur, Malaysia, nach Peking schon bald nach dem Start nicht mehr ansprech- und auffindbar. Nun begann ein wochenlanges Verwirrspiel, das unter Geheimdienstlern Desinformation heißt. Um von der Wahrheit abzulenken und alle Empörten zu beschwichtigen, arbeitet man also emsig mit Gerüchten, Falschmeldungen, Trugspuren und so weiter. In diesem Fall wurde ein rätselhafter Umschwenk der Linienmaschine nach Süden erfunden, in die Weiten des Indischen Ozeans, wo trotz aufwendigster, australisch geleiteter Suche nie etwas Handfestes aus dem Wasser gezogen wurde. Die höchstwahrscheinlich zurechtfrisierten Notsignale, die den Südkurs erhärten sollten, hatten die Briten mit Hilfe der Londoner Firma Inmarsat geliefert. In Wahrheit dürfte die nordwärts fliegende Riesenmaschine schon 90 bis 120 Minuten nach dem Start ihr Ende in vietnamesischen Gewässern gefunden haben: durch Notlandung oder Abschuss. Dort benötigte man jedoch Muße zur Trümmerbeseitigung, wovon auch einige Zeugenbeobachtungen sprachen. Zur Erklärung des Schwenks und des ausgedehnten Ausflugs nach Süden bevorzugten die malaysischen und australischen PolitikerInnen oder Behörden die Mutmaßung auf »erweiterten Pilotensuizid«. Das klingt bereits wie ein Witz, wenn man Verschwunden, das neue, nun übersetzte (Berlin 2022) umfangreiche Buch Florence de Changys, noch gar nicht zur Hand genommen hat. Übrigens versichert die Autorin, hauptsächlich Hongkong-Korrespondentin für Le Monde, Paris, grundsätzlich seien Selbstmorde von diensthabenden Piloten »sehr selten«. Häufigste Unfallursachen seien technisches Versagen oder (irrtümliches) militärisches Eingreifen, doch genau die würden auch häufig vertuscht. Schließlich möchten weder die Herstellerfirmen noch die Aufsichtsorgane ihre Umsätze und ihr Gesicht einbüßen. Den Ehrverlust mutet man dann lieber den sowieso schon mausetoten Piloten zu.
Es ist nicht immer bequem, der französischen Journalistin zu folgen, hat sie sich doch durch einen wahren Dschungel an Fakten, Lügen und Theorien zu kämpfen. Ich hätte manches abgekürzt, aber das ist vielleicht Geschmacksache. De Changys Gründlichkeit hat freilich den Vorteil, das Märchen vom Abstecher in den südlichen Indischen Ozean mit 100- und das Märchen vom Amok laufenden Piloten mit 98-prozentiger Wahrscheinlichkeit vergessen zu können. Für den Südabstecher reicht eigentlich schon eine Parallele zu 9/11, die De Changy wohlweislich vermeidet. Damals, 2001 in New York City, soll es bekanntlich einigen »Terroristen«, die Riesenmaschinen gekapert hatten, gelungen sein, die Luftabwehr des Giganten des Militarismus und der Scheinheiligkeit USA mit ein paar Teppichmessern in der Hand auszuhebeln. Was nun Indischen Ozean und Chinesisches Meer angeht, hält es De Changy für nahezu unmöglich, mit einem fetten Passagierflugzeug dem äußerst dichten Spähnetz der Yankees zu entgehen. Mit Diego Garcia und U-Tapao lagen zwei US-Militärstützpunkte, übrigens mit ausreichend langer Landebahn versehen, ganz in der Nähe. Zur Verschwindens-Zeit waren sogar sehr wahrscheinlich zwei AWACS der USA in der fraglichen Luft. Das sind fliegende Spionage- und Einsatzzentralen. Doch die Yankees ließen sich nie dazu herab, irgendwelche Radar- oder Satellitenbilder aus der Unfall- oder Tatzeit zur Verfügung zu stellen, obwohl sie dadurch doch vielfach geäußerte Verdächtigungen auf Faulspiel hätten entkräften können. Sie taten einfach so, als besäßen sie solche Aufzeichnungen nicht. Der nächste Witz.
Nachdem sie zahlreiche Theorien von Dritten erschüttert hat, wagt De Changy ein eigenes »Szenario« vorzustellen, das sie zugleich für das naheliegendste und wahrscheinlichste hält. Die Frachtpapiere von MH 370 wiesen mehrere Mängel oder Lücken auf. Kuala Lumpur gilt ohnehin als bekannter Schmuggelplatz. Demnach könnte sich ein wertvolles US-Spionagegerät im Frachtgut befunden haben, das Peking nur zu gern entgegengenommen hätte. Die Yankees bemerkten den Diebstahl jedoch und bedrängten die Boeing mit den bereits erwähnten AWACS-Flugzeugen, wodurch sie auch den Funkverkehr ihres Opfers lahmlegten. Schließlich riefen sie aber einen Jäger herbei, weil sich die Piloten nicht zu einer Zwischenlandung auf einer US-Base bereitgefunden, vielmehr gehofft hatten, noch rechtzeitig den rettenden chinesischen Luftraum zu erreichen. Nun, im Grenzgebiet Vietnam/China, schoss der Jäger die Boeing ab. 239 Leichen wegen eines ausgefeilten elektronischen Spielzeugs. Möglicherweise seien es aber auch die Chinesen selber gewesen, weil da fremde Maschinen in ihren Luftraum eingedrungen waren.
Für mich hat dieses »Szenario« lediglich eine Schwachstelle, nämlich die Piloten der geopferten Linienmaschine. Mit De Changy probeweise angenommen, sie lassen sich auf die Vorwände eines Zwischenhalts in U-Tapao (Thailand) ein und warten dort 20 Minuten, bis Agenten das Spionagegerät aus der Fracht gerettet haben: Und anschließend setzen den Linienflug, mit Verspätung, einfach so fort? Stumm machen konnte man sie ja schlecht. Man durfte ihnen noch nicht einmal die Augen zubinden. Aber hätten sie dann nicht, ob in Peking oder in Kuala Lumpur, von diversen Ungereimtheiten ihres Fluges berichten müssen, »höhere Gewalt« eingeschlossen? Das wäre für die Yankees ziemlich peinlich geworden. De Changy übergeht diese Schwachstelle – die hoffentlich kein Denkfehler von mir ist.