Die Erinnerung an ein frühkindliches Kriegserlebnis lässt mich nicht zur Ruhe kommen, wenn ich tagtäglich in den Medien vom Kriegsgeschehen in der Ukraine erfahre. Es war im Jahr 1944, ich war drei Jahre alt, und meine Familie wohnte in Bromberg in Polen, dem damaligen »General-Gouvernement«. Ich fuhr mit unserer Hausgehilfin Steffi im Zug nach Posen, wo wir Steffis Bruder besuchen wollten. Meine Erinnerung beginnt mit dem Blick auf einen geöffneten Koffer, in dem sich bunte Ostereier befanden, die wir gerade essen wollten. Ich saß auf Steffis Schoß. Da gab es plötzlich einen furchtbaren Knall. Die Scheiben des Zuges zersplitterten und ich rutschte auf den Boden. Ich sah, dass Steffi auf dem Sitz zusammengesunken war und blutete. Dass sie tot war, wusste ich nicht. Ich kletterte zurück auf ihren Schoß, streichelte ihr blutiges Gesicht und sagte weinend immer wieder: »Arme Tante Steffi!«.
Das nächste Erinnerungsbruchstück: Da kommen Menschen durch den Wagen und holen mich heraus. Ich kann nur meinen Vornamen sagen. Ich sehe eine riesige Feuerwand, und auf dem Boden des Bahnsteigs liegen überall Menschen, die sich nicht bewegen. Heute weiß ich aus Berichten über den Bombenangriff auf den Posener Bahnhof am Ostersonntag 1944, dass dort 82 getötete Menschen lagen.
Vier Tage später fand mich mein Vater in einem Krankenhaus und nahm mich mit nach Hause.
Aus der Autobiografie von Baldur von Schirach erfuhr ich jetzt, dass einen Monat nach diesem Bombenangriff der Reichsführer SS Heinrich Himmler vor Soldaten der Waffen-SS in Posen eine zu entsetzlichen Taten aufhetzende Rede gehalten hat, in der er sagte:
»Die Vernichtung der Juden ist eine harte und schwere Aufgabe. Es trat an uns die Frage heran, wie ist es mit den Frauen und Kindern? Ich habe mich entschlossen, auch hier eine ganz klare Lösung zu finden. Ich hielt mich nämlich nicht für berechtigt, Männer auszurotten – sprich also, umzubringen oder umbringen zu lassen – und die Rächer in der Gestalt der Kinder für unsere Söhne und Enkel großwerden zu lassen …. Es musste der schwere Entschluss gefasst werden, dieses Volk von der Erde verschwinden zu lassen …. Er ist durchgeführt, ohne dass – wie ich glaube, sagen zu können – unsere Männer dabei einen Schaden an Geist und Seele erlitten …«
Für Baldur von Schirach, aus dessen Buch »Ich glaubte an Hitler« ich die Sätze der Himmler-Rede zitiere, war diese Rede ein Anlass zu politischer Umkehr. Der einstige Reichsführer der Hitler-Jugend hatte begriffen, dass er einem mörderischen Regime diente. Er schrieb:
»Und während ich fassungslos zuhörte, kam mir die Erkenntnis, dass Himmler mit dieser Rede uns alle durch Mitwisserschaft zu seinen Komplizen machte …«
Für mich ist Himmlers Rede ein empörendes Beispiel für den verbrecherischen Charakter des Krieges und seiner Macher. Mein Posener Kriegserlebnis habe ich meinen Söhnen schon frühzeitig erzählt, um sie zum Widerstand gegen jede Kriegsbereitschaft zu erziehen. In den Verfahren meiner Söhne auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer, in denen junge Menschen nach Einführung der Wehrpflicht in Adenauers CDU-Staat bis 1983 ihre Gewissensentscheidung gegen den Kriegsdienst begründen mussten, habe ich als Zeitzeugin mitgewirkt und von meinem Posener Kindheitserlebnis berichtet, das auch zur pazifistischen Gesinnung meiner Söhne beigetragen hat.
Es hätte einem deutschen Bundeskanzler gut zu Gesicht gestanden, auf den von der Nato provozierten Konflikt in der Ukraine mit dem Ruf »Die Waffen nieder!« zu reagieren und sich als Vermittler anzubieten. Stattdessen hielt er es für richtig, der Ukraine Milliarden Euro teure Waffen zu schicken, also Waffen zur Tötung unzähliger Menschen. Das lässt sich nicht mit dem üblichen Argument entschuldigen, dass die Waffen nur zur Abschreckung dienen, denn sie werden für einen Konflikt geliefert, der schon bewaffnet ausgetragen wird. Die deutschen Waffen werden also nicht abschrecken, sondern töten und den Krieg nicht beenden, sondern verlängern. Ich schäme mich für den SPD-Bundeskanzler und seine Gefolgschaft, zu der natürlich auch die waffengeilen Christen der CDU gehören.
Ich habe den Bombenangriff auf den Posener Bahnhof überlebt. Aber wie viele Kinder werden noch durch die von deutscher Obrigkeit gelieferten Waffen sterben müssen?