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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Ein Kind erlebt den Krieg

Die Erin­ne­rung an ein früh­kind­li­ches Kriegs­er­leb­nis lässt mich nicht zur Ruhe kom­men, wenn ich tag­täg­lich in den Medi­en vom Kriegs­ge­sche­hen in der Ukrai­ne erfah­re. Es war im Jahr 1944, ich war drei Jah­re alt, und mei­ne Fami­lie wohn­te in Brom­berg in Polen, dem dama­li­gen »Gene­ral-Gou­ver­ne­ment«. Ich fuhr mit unse­rer Haus­ge­hil­fin Stef­fi im Zug nach Posen, wo wir Stef­fis Bru­der besu­chen woll­ten. Mei­ne Erin­ne­rung beginnt mit dem Blick auf einen geöff­ne­ten Kof­fer, in dem sich bun­te Oster­ei­er befan­den, die wir gera­de essen woll­ten. Ich saß auf Stef­fis Schoß. Da gab es plötz­lich einen furcht­ba­ren Knall. Die Schei­ben des Zuges zer­split­ter­ten und ich rutsch­te auf den Boden. Ich sah, dass Stef­fi auf dem Sitz zusam­men­ge­sun­ken war und blu­te­te. Dass sie tot war, wuss­te ich nicht. Ich klet­ter­te zurück auf ihren Schoß, strei­chel­te ihr blu­ti­ges Gesicht und sag­te wei­nend immer wie­der: »Arme Tan­te Steffi!«.
Das näch­ste Erin­ne­rungs­bruch­stück: Da kom­men Men­schen durch den Wagen und holen mich her­aus. Ich kann nur mei­nen Vor­na­men sagen. Ich sehe eine rie­si­ge Feu­er­wand, und auf dem Boden des Bahn­steigs lie­gen über­all Men­schen, die sich nicht bewe­gen. Heu­te weiß ich aus Berich­ten über den Bom­ben­an­griff auf den Pose­ner Bahn­hof am Oster­sonn­tag 1944, dass dort 82 getö­te­te Men­schen lagen.
Vier Tage spä­ter fand mich mein Vater in einem Kran­ken­haus und nahm mich mit nach Hause.
Aus der Auto­bio­gra­fie von Bal­dur von Schi­rach erfuhr ich jetzt, dass einen Monat nach die­sem Bom­ben­an­griff der Reichs­füh­rer SS Hein­rich Himm­ler vor Sol­da­ten der Waf­fen-SS in Posen eine zu ent­setz­li­chen Taten auf­het­zen­de Rede gehal­ten hat, in der er sagte:
»Die Ver­nich­tung der Juden ist eine har­te und schwe­re Auf­ga­be. Es trat an uns die Fra­ge her­an, wie ist es mit den Frau­en und Kin­dern? Ich habe mich ent­schlos­sen, auch hier eine ganz kla­re Lösung zu fin­den. Ich hielt mich näm­lich nicht für berech­tigt, Män­ner aus­zu­rot­ten – sprich also, umzu­brin­gen oder umbrin­gen zu las­sen – und die Rächer in der Gestalt der Kin­der für unse­re Söh­ne und Enkel groß­wer­den zu las­sen …. Es muss­te der schwe­re Ent­schluss gefasst wer­den, die­ses Volk von der Erde ver­schwin­den zu las­sen …. Er ist durch­ge­führt, ohne dass – wie ich glau­be, sagen zu kön­nen – unse­re Män­ner dabei einen Scha­den an Geist und See­le erlitten …«
Für Bal­dur von Schi­rach, aus des­sen Buch »Ich glaub­te an Hit­ler« ich die Sät­ze der Himm­ler-Rede zitie­re, war die­se Rede ein Anlass zu poli­ti­scher Umkehr. Der ein­sti­ge Reichs­füh­rer der Hit­ler-Jugend hat­te begrif­fen, dass er einem mör­de­ri­schen Regime dien­te. Er schrieb:
»Und wäh­rend ich fas­sungs­los zuhör­te, kam mir die Erkennt­nis, dass Himm­ler mit die­ser Rede uns alle durch Mit­wis­ser­schaft zu sei­nen Kom­pli­zen machte …«
Für mich ist Himm­lers Rede ein empö­ren­des Bei­spiel für den ver­bre­che­ri­schen Cha­rak­ter des Krie­ges und sei­ner Macher. Mein Pose­ner Kriegs­er­leb­nis habe ich mei­nen Söh­nen schon früh­zei­tig erzählt, um sie zum Wider­stand gegen jede Kriegs­be­reit­schaft zu erzie­hen. In den Ver­fah­ren mei­ner Söh­ne auf Aner­ken­nung als Kriegs­dienst­ver­wei­ge­rer, in denen jun­ge Men­schen nach Ein­füh­rung der Wehr­pflicht in Ade­nau­ers CDU-Staat bis 1983 ihre Gewis­sens­ent­schei­dung gegen den Kriegs­dienst begrün­den muss­ten, habe ich als Zeit­zeu­gin mit­ge­wirkt und von mei­nem Pose­ner Kind­heits­er­leb­nis berich­tet, das auch zur pazi­fi­sti­schen Gesin­nung mei­ner Söh­ne bei­getra­gen hat.
Es hät­te einem deut­schen Bun­des­kanz­ler gut zu Gesicht gestan­den, auf den von der Nato pro­vo­zier­ten Kon­flikt in der Ukrai­ne mit dem Ruf »Die Waf­fen nie­der!« zu reagie­ren und sich als Ver­mitt­ler anzu­bie­ten. Statt­des­sen hielt er es für rich­tig, der Ukrai­ne Mil­li­ar­den Euro teu­re Waf­fen zu schicken, also Waf­fen zur Tötung unzäh­li­ger Men­schen. Das lässt sich nicht mit dem übli­chen Argu­ment ent­schul­di­gen, dass die Waf­fen nur zur Abschreckung die­nen, denn sie wer­den für einen Kon­flikt gelie­fert, der schon bewaff­net aus­ge­tra­gen wird. Die deut­schen Waf­fen wer­den also nicht abschrecken, son­dern töten und den Krieg nicht been­den, son­dern ver­län­gern. Ich schä­me mich für den SPD-Bun­des­kanz­ler und sei­ne Gefolg­schaft, zu der natür­lich auch die waf­fen­gei­len Chri­sten der CDU gehören.
Ich habe den Bom­ben­an­griff auf den Pose­ner Bahn­hof über­lebt. Aber wie vie­le Kin­der wer­den noch durch die von deut­scher Obrig­keit gelie­fer­ten Waf­fen ster­ben müssen?