Was mich vom ersten Tag des Überfalls auf die Ukraine an verzweifeln lässt, ist seine Sinnlosigkeit. Natürlich liegt es im Bereich des Vorstellbaren, dass Russland dem Nachbarn militärisch eine Niederlage bereitet, aber die Ukrainer werden sich mehrheitlich niemals dem Willen Moskaus unterwerfen.
Gibt es nicht zu denken, dass Putins Truppen vor den Toren der ukrainischen Hauptstadt plötzlich Halt gemacht und den Rückzug angetreten haben? Der Braten war ihnen sichtlich zu heiß. Ihre Wut haben sie an den wehrlosen Bewohnern von Butscha ausgelassen. Umgekehrt ist es ebenso vorstellbar, dass die Ukraine Russland tödliche Schläge versetzt. Was dann? Die Regierung in Kiew dürfte kaum über so viel Personal verfügen, um die Verwaltung großer russischer Städte wie Moskau oder Wladiwostok nach ihren Vorstellungen umzugestalten.
Dass der Führer einer atomar gerüsteten Großmacht öffentlich über die angeblich ständige Bedrohung durch die Ukraine jammert, ist schwer zu verstehen. Dasselbe gilt für seine Behauptung, aus Sicherheitsgründen müsse die Ukraine entnazifiziert und demilitarisiert werden, zumal da die Menschen in den Volksrepubliken Donezk und Luhansk einem Genozid, also einem Völkermord ausgesetzt seien. Das Internationale Auschwitz-Komitee äußerte sich unmittelbar nach dem Angriff auf die Ukraine bestürzt über Putins Vorgehen und bezeichnete seine Äußerungen als »zynische und tückische Lügen«. In der Tat, um ein Land zu entnazifizieren, braucht man weder Panzer noch sonstiges Militärgerät, sondern zuverlässige Demokraten. Wer die antifaschistische Idee zur Tarnung seiner Machtgelüste missbraucht, beschmutzt die Ehre der europäischen Widerstandskämpfer, die der Naziherrschaft um den Preis des eigenen Lebens die Stirn geboten haben.
Damit sich niemals wiederholt, was die Völker Europas erdulden mussten, beschlossen die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs 1945 die Entnazifizierung Deutschlands. Dabei fiel kein einziger Schuss. Die Deutschen mussten sich an den Bestimmungen eines Gesetzes zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus messen lassen, das am 5. März 1946 in Kraft trat. Der von der Militärregierung in der amerikanischen Besatzungszone erlassene Fragebogen umfasste nicht weniger als sechs Seiten. Gefragt wurde nach der Mitgliedschaft in 95 namentlich aufgeführten ehemaligen Nazi-Organisationen.
In allen größeren Städten wurden Spruchkammern mit unbelasteten Berufsrichtern oder bewährten Antifaschisten an der Spitze eingerichtet, vor denen die ehemaligen Würdenträger der Naziregimes Rechenschaft ablegen mussten. Die politische Verantwortung oblag einem eigens dafür in den Landeshauptstädten eingerichteten Ministerium für politische Befreiung. Wer keiner der 95 Organisationen angehörte, bekam vom Öffentlichen Kläger der jeweils zuständigen Spruchkammer auf einer Postkarte einen entsprechenden vorgedruckten Bescheid. Im Oktober 1948 wurden die Spruchkammern aufgelöst. Eine nachhaltige Wirkung hatten sie nicht. Im Jahr darauf begann mit Gründung der Bundesrepublik Deutschland ein neuer Frühling für das Millionenheer der einstigen Parteigänger Hitlers, von denen die meisten ungeschoren durch die Maschen der Entnazifizierung geschlüpft waren.
So wie heute darüber gestritten wird, ob der Angriff auf die Ukraine als Völkermord bezeichnet werden kann, so wurde vor einem halben Menschenalter darüber gestritten, ob die Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg als Völkermord bezeichnet werden darf. Vordergründig richtete sich der Vorwurf gegen Polen und Tschechien, in Wirklichkeit hatten die Urheber der Parole aber die Siegermächte des Zweiten Weltkrieges im Visier. Nachdrücklich warnte damals der Direktor des Instituts für Genozidforschung an der Ruhruniversität, Mihran Dabag, davor, die Bezeichnung Genozid zum Kampfbegriff werden zu lassen. Die Gleichsetzung von Völkermord und Vertreibung sei völlig inakzeptabel.
Heute geht es darum, im Propagandakrieg um den Angriff auf die Ukraine mit dem Wort Völkermord Punkte zu machen. In dem einen, wie in dem anderen Fall wird dem millionenfachen Mord an den Juden seine Einmaligkeit abgesprochen und die Shoa zu einem jederzeit möglichen x-beliebigen Verbrechen herabgestuft. Ich halte das für einen schwerwiegenden Eingriff in die Trauerarbeit der jüdischen Weltgemeinschaft. Mich entsetzt der Gedanke, dass die Erinnerung an das größte Verbrechen aller Zeiten unter die Räder eines Propagandakrieges gerät, der die Hinterbliebenen der Shoa und die Angehörigen der von den Nazis ermordeten Widerstandskämpfer mit ihrer Trauer allein lässt. Hoffen wir, dass dem sinnlosen Töten bald ein Ende gesetzt wird.