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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Ein Jahr danach

Was mich vom ersten Tag des Über­falls auf die Ukrai­ne an ver­zwei­feln lässt, ist sei­ne Sinn­lo­sig­keit. Natür­lich liegt es im Bereich des Vor­stell­ba­ren, dass Russ­land dem Nach­barn mili­tä­risch eine Nie­der­la­ge berei­tet, aber die Ukrai­ner wer­den sich mehr­heit­lich nie­mals dem Wil­len Mos­kaus unterwerfen.

Gibt es nicht zu den­ken, dass Putins Trup­pen vor den Toren der ukrai­ni­schen Haupt­stadt plötz­lich Halt gemacht und den Rück­zug ange­tre­ten haben? Der Bra­ten war ihnen sicht­lich zu heiß. Ihre Wut haben sie an den wehr­lo­sen Bewoh­nern von But­scha aus­ge­las­sen. Umge­kehrt ist es eben­so vor­stell­bar, dass die Ukrai­ne Russ­land töd­li­che Schlä­ge ver­setzt. Was dann? Die Regie­rung in Kiew dürf­te kaum über so viel Per­so­nal ver­fü­gen, um die Ver­wal­tung gro­ßer rus­si­scher Städ­te wie Mos­kau oder Wla­di­wo­stok nach ihren Vor­stel­lun­gen umzugestalten.

Dass der Füh­rer einer ato­mar gerü­ste­ten Groß­macht öffent­lich über die angeb­lich stän­di­ge Bedro­hung durch die Ukrai­ne jam­mert, ist schwer zu ver­ste­hen. Das­sel­be gilt für sei­ne Behaup­tung, aus Sicher­heits­grün­den müs­se die Ukrai­ne ent­na­zi­fi­ziert und demi­li­ta­ri­siert wer­den, zumal da die Men­schen in den Volks­re­pu­bli­ken Donezk und Luhansk einem Geno­zid, also einem Völ­ker­mord aus­ge­setzt sei­en. Das Inter­na­tio­na­le Ausch­witz-Komi­tee äußer­te sich unmit­tel­bar nach dem Angriff auf die Ukrai­ne bestürzt über Putins Vor­ge­hen und bezeich­ne­te sei­ne Äuße­run­gen als »zyni­sche und tücki­sche Lügen«. In der Tat, um ein Land zu ent­na­zi­fi­zie­ren, braucht man weder Pan­zer noch son­sti­ges Mili­tär­ge­rät, son­dern zuver­läs­si­ge Demo­kra­ten. Wer die anti­fa­schi­sti­sche Idee zur Tar­nung sei­ner Macht­ge­lü­ste miss­braucht, beschmutzt die Ehre der euro­päi­schen Wider­stands­kämp­fer, die der Nazi­herr­schaft um den Preis des eige­nen Lebens die Stirn gebo­ten haben.

Damit sich nie­mals wie­der­holt, was die Völ­ker Euro­pas erdul­den muss­ten, beschlos­sen die Sie­ger­mäch­te des Zwei­ten Welt­kriegs 1945 die Ent­na­zi­fi­zie­rung Deutsch­lands. Dabei fiel kein ein­zi­ger Schuss. Die Deut­schen muss­ten sich an den Bestim­mun­gen eines Geset­zes zur Befrei­ung von Natio­nal­so­zia­lis­mus und Mili­ta­ris­mus mes­sen las­sen, das am 5. März 1946 in Kraft trat. Der von der Mili­tär­re­gie­rung in der ame­ri­ka­ni­schen Besat­zungs­zo­ne erlas­se­ne Fra­ge­bo­gen umfass­te nicht weni­ger als sechs Sei­ten. Gefragt wur­de nach der Mit­glied­schaft in 95 nament­lich auf­ge­führ­ten ehe­ma­li­gen Nazi-Organisationen.

In allen grö­ße­ren Städ­ten wur­den Spruch­kam­mern mit unbe­la­ste­ten Berufs­rich­tern oder bewähr­ten Anti­fa­schi­sten an der Spit­ze ein­ge­rich­tet, vor denen die ehe­ma­li­gen Wür­den­trä­ger der Nazi­re­gimes Rechen­schaft able­gen muss­ten. Die poli­ti­sche Ver­ant­wor­tung oblag einem eigens dafür in den Lan­des­haupt­städ­ten ein­ge­rich­te­ten Mini­ste­ri­um für poli­ti­sche Befrei­ung. Wer kei­ner der 95 Orga­ni­sa­tio­nen ange­hör­te, bekam vom Öffent­li­chen Klä­ger der jeweils zustän­di­gen Spruch­kam­mer auf einer Post­kar­te einen ent­spre­chen­den vor­ge­druck­ten Bescheid. Im Okto­ber 1948 wur­den die Spruch­kam­mern auf­ge­löst. Eine nach­hal­ti­ge Wir­kung hat­ten sie nicht. Im Jahr dar­auf begann mit Grün­dung der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land ein neu­er Früh­ling für das Mil­lio­nen­heer der ein­sti­gen Par­tei­gän­ger Hit­lers, von denen die mei­sten unge­scho­ren durch die Maschen der Ent­na­zi­fi­zie­rung geschlüpft waren.

So wie heu­te dar­über gestrit­ten wird, ob der Angriff auf die Ukrai­ne als Völ­ker­mord bezeich­net wer­den kann, so wur­de vor einem hal­ben Men­schen­al­ter dar­über gestrit­ten, ob die Ver­trei­bung der Deut­schen nach dem Zwei­ten Welt­krieg als Völ­ker­mord bezeich­net wer­den darf. Vor­der­grün­dig rich­te­te sich der Vor­wurf gegen Polen und Tsche­chi­en, in Wirk­lich­keit hat­ten die Urhe­ber der Paro­le aber die Sie­ger­mäch­te des Zwei­ten Welt­krie­ges im Visier. Nach­drück­lich warn­te damals der Direk­tor des Insti­tuts für Geno­zid­for­schung an der Ruhr­uni­ver­si­tät, Mih­ran Dabag, davor, die Bezeich­nung Geno­zid zum Kampf­be­griff wer­den zu las­sen. Die Gleich­set­zung von Völ­ker­mord und Ver­trei­bung sei völ­lig inakzeptabel.

Heu­te geht es dar­um, im Pro­pa­gan­da­krieg um den Angriff auf die Ukrai­ne mit dem Wort Völ­ker­mord Punk­te zu machen. In dem einen, wie in dem ande­ren Fall wird dem mil­lio­nen­fa­chen Mord an den Juden sei­ne Ein­ma­lig­keit abge­spro­chen und die Shoa zu einem jeder­zeit mög­li­chen x-belie­bi­gen Ver­bre­chen her­ab­ge­stuft. Ich hal­te das für einen schwer­wie­gen­den Ein­griff in die Trau­er­ar­beit der jüdi­schen Welt­ge­mein­schaft. Mich ent­setzt der Gedan­ke, dass die Erin­ne­rung an das größ­te Ver­bre­chen aller Zei­ten unter die Räder eines Pro­pa­gan­da­krie­ges gerät, der die Hin­ter­blie­be­nen der Shoa und die Ange­hö­ri­gen der von den Nazis ermor­de­ten Wider­stands­kämp­fer mit ihrer Trau­er allein lässt. Hof­fen wir, dass dem sinn­lo­sen Töten bald ein Ende gesetzt wird.