Skip to content

Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

Menu
Menu

Ein »h« gibt Erinnerung Raum

Nach der »Groß­ak­ti­on Juden« der Gehei­men Staats­po­li­zei (Gesta­po) im Febru­ar 1943 wur­den soge­nann­te Gel­tungs­ju­den und Misch­lin­ge ver­haf­tet und in Sam­mel­la­ger gepfercht. In Ber­lin betraf das etwa 15.000 jüdi­sche Frau­en und Män­ner, die bis­lang Zwangs­ar­beit in Rüstungs­be­trie­ben wie Sie­mens & Hals­ke lei­sten muss­ten. Lan­ge Trans­port­li­sten ent­stan­den für die Depor­ta­tio­nen nach Ausch­witz, The­re­si­en­stadt und in ande­re KZ. Die Büro­kra­tie des Todes schrieb ein wei­te­res düste­res Kapitel.

Ange­regt von der »Gedenk­stät­te der Mär­ty­rer und Hel­den des Staa­tes Isra­el im Holo­caust« in Jeru­sa­lem, begann das Bun­des­ar­chiv in den 1960er Jah­ren, ein Gedenk­buch für die Opfer der Juden­ver­fol­gung in Nazi-Deutsch­land zu erar­bei­ten. Die erste Auf­la­ge kam 1986 her­aus. Seit Dezem­ber 2007 wird es im Inter­net prä­sen­tiert, um eine brei­te­re Öffent­lich­keit an den Ergän­zun­gen und »Kor­rek­tu­ren des regel­mä­ßig aktua­li­sier­ten Gedenk­bu­ches teil­ha­ben zu lassen«.

Mei­ne Recher­chen für einen Stol­per­stein in Ber­lin-Neu­kölln brach­ten zuta­ge, dass nach 76 Jah­ren zwei Ein­trä­ge zu ergän­zen und zu kor­ri­gie­ren sind.

Die Liste für den 34. Ost­trans­port vom 4. März 1943 zum Depor­ta­ti­ons­ziel Ausch­witz weist aus: Nach­na­me, Vor­na­me, Geburts­da­tum und -ort, Wohn­ort und Stra­ße. Es waren 1142 Män­ner, Frau­en und Kin­der. Eine Rück­mel­dung von »Arbeits­ein­satz­füh­rer Schwarz« besagt, dass 389 Män­ner und 96 Frau­en »zum Arbeits­ein­satz gelang­ten. Son­der­be­han­delt wur­den 151 Män­ner u. 492 Frau­en u. Kin­der«. Zu 14 Feh­len­den wur­de nichts notiert. Der Ein­trag zu Nr. 930 lau­tet: »Hirsch­weg geb. Reich­mann, Lie­se­lot­te Sara, 21.1.1922, Mag­de­burg, Nkln. Brau­nau­er­str. 174 b/​Reichmann«. Nkln. steht für Ber­lin-Neu­kölln, und die Stra­ße heißt heu­te Sonnenallee.

Auf den Papie­ren des 36. Ost­trans­ports nach Ausch­witz befin­det sich unter Nr. 136 und der iden­ti­schen Adres­se noch­mals der Name Reich­mann, geb. Mei­er. Der Vor­na­me Ber­tha, gebo­ren 12.12.1888 in Burg­stein­furt. Im Ber­li­ner Adress­buch von 1940 dort auf­ge­führt als B. Reich­mann, Pflegerin.

Zwei­mal Reich­mann unter glei­cher Adres­se? Zufall?

Nein! In der ersten Liste wur­de der Name Hirsch­weh falsch geschrieben.

Ein klei­nes, doch wich­ti­ges »h« gibt der Erin­ne­rung Raum und Gestalt.

Die Ein­rich­te­rin Lie­se­lot­te Sara* Reich­mann, wohn­haft in Neu­kölln, hat­te am 28. August 1941 den Gebrauchs­gra­phi­ker Hans-Peter Isra­el* Hirsch­weh, wohn­haft in Ber­lin, im Stan­des­amt Ber­lin-Tier­gar­ten gehei­ra­tet. Die zusätz­li­chen auf­ge­zwun­ge­nen *Vor­na­men wie­sen bei­de als Juden aus.

Lie­se­lot­te wur­de im KZ Ausch­witz ermor­det. Ihr Ehe­mann kam spä­ter eben­falls dort­hin und trug bis zu sei­nem Tod die ein­tä­to­wier­te Num­mer 164145. Sein Vater Erich Hirsch­weh war bereits im August 1942 nach The­re­si­en­stadt depor­tiert wor­den und wur­de spä­ter in Ausch­witz ermor­det. Peter Hirsch­weh bewahr­te sein Beruf als Gebrauchs­gra­fi­ker in letz­ter Minu­te vor dem Tod. Er kam ins KZ Sach­sen­hau­sen zum »Fäl­scher­kom­man­do« im Block 19. Anfang 1945 wur­de es in die KZ Maut­hau­sen und Eben­see verlegt.

Nach der Befrei­ung am 6. Mai 1945 durch die US Army begann Hans-Peter Edel-Hirsch­weh sei­nen Weg als Künst­ler, Jour­na­list und Schrift­stel­ler in Bad Ischl. Einer sei­ner ersten Arti­kel ging nach Ber­lin an sei­ne Mut­ter, die ihn an Die Weltbühne lei­te­te. In Num­mer 19 vom 1. Okto­ber 1947 wur­de die Zeit im »Block neun­zehn« des KZ Sach­sen­hau­sen geschil­dert. Seit­her war Peter Edel, der unter dem Geburts­na­men sei­ner Mut­ter schrieb, ein von der Redak­ti­on über­aus geschätz­ter Autor.

Im Roman »Die Bil­der des Zeu­gen Schattmann« (Ber­lin 1969) sowie mit der Auto­bio­gra­fie »Wenn es ans Leben geht« arbei­te­te Edel sei­nen Lebens­weg und die Geschich­te der Fami­lie auf. In der Bio­gra­fie beschreibt er ab Sei­te 192 ff. sei­ne Zeit mit Lie­se­lot­te, seit Kind­heits­ta­gen »Esther« genannt, die Hoch­zeit und die Umstän­de der Trau­ung. So klärt sich, dass Ber­tha Reich­mann sei­ne Schwie­ger­mut­ter war, bei der die jun­gen Ehe­leu­te wohn­ten. Die Ehe-Urkun­de ist im Peter-Edel-Archiv der Aka­de­mie der Kün­ste in Ber­lin einsehbar.

Äuße­rer Anlass für den Roman war 1963 der DDR-Pro­zess gegen den Staats­se­kre­tär im Bon­ner Bun­des­kanz­ler­amt Hans Glob­ke, des­sen Mit­schuld am Holo­caust all­ge­mein bekannt ist. Edel war in dem Pro­zess als Zeu­ge ange­hört wor­den. 1972 erfolg­te die Ver­fil­mung des Romans. Erst­mals konn­te ein deut­sches Team in Ausch­witz dre­hen. Der vier­tei­li­ge Film kann in sei­ner Bedeu­tung der US-Serie »Holo­caust« (1978) und dem DEFA-Spiel­film »Nackt unter Wöl­fen« (1963) gleich­ge­setzt werden.

Am 17. Okto­ber 2019 erhielt ich Ant­wort vom Bun­des­ar­chiv: Mit der näch­sten voll­stän­di­gen Aktua­li­sie­rung des Online-Gedenk­buchs wird nun der Fami­li­en­na­me Hirsch­weh über­nom­men wer­den und der Ein­trag wie folgt abge­bil­det sein: »Lie­se­lot­te Hirsch­weh geb. Reich­mann (*21.01.1922 in Mag­de­burg /​ - /​ Pro­vinz Sach­sen); wohn­haft in Ber­lin (Neu­kölln); am 04.03.1943 von Ber­lin nach Ausch­witz, Kon­zen­tra­ti­ons- und Ver­nich­tungs­la­ger deportiert.«

Peter Edel selbst also ist es zu dan­ken, dass sei­ne »Esther« und ihre Mut­ter nicht mehr anonym blei­ben wer­den. Mit Blick auf 2021 wäre sein 100. Geburts­tag und bei­der 80. Hoch­zeits­tag Anlass für eine offi­zi­el­le ange­mes­se­ne Wür­di­gung. Längst über­fäl­lig die Wie­der­ent­deckung von Roman, Auto­bio­gra­fie und Fern­seh­film. In Anbe­tracht der heu­ti­gen deut­schen Zustän­de drin­gen­der denn je.

Der erschüt­tern­de anti­se­mi­ti­sche Angriff auf die Syn­ago­ge in Hal­le sowie die Mor­de las­sen kei­nen Zwei­fel: Faschis­mus ist in der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land wie­der all­täg­li­che Bedro­hung dank demo­kra­ti­scher Dul­dung – sie­he AfD und Co.

Nach­trag 1: Die 2. Kam­mer des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts gab einer Kla­ge des Lan­des­ver­ban­des Ber­lin der NPD gegen eine Geld­bu­ße statt. Mit Beschluss vom 27. August 2019 wur­den Urtei­le auf­ge­ho­ben, weil sie »den Beschwer­de­füh­rer in sei­nem Grund­recht aus Arti­kel 5 Absatz 1 Satz 1 des Grund­ge­set­zes« ver­letz­ten. Obwohl sich Bei­trä­ge auf Face­book zur Flücht­lings­po­li­tik, wie die Rich­ter ein­räu­men muss­ten, »gezielt gegen eine Min­der­heit rich­te­ten, het­ze­ri­schen und mög­li­cher­wei­se offen ras­si­sti­schen Gehalt auf­wie­sen«, fie­len sie des­halb »nicht schon aus dem Schutz­be­reich des Art. 5 Abs. 1 Satz1 GG.« Das Land Ber­lin hat »dem Beschwer­de­füh­rer sei­ne not­wen­di­gen Aus­la­gen zu erstat­ten. Der Wert des Gegen­stands der anwalt­li­chen Tätig­keit im Ver­fas­sungs­be­schwer­de­ver­fah­ren wird auf 15.000 € (in Wor­ten: fünf­zehn­tau­send Euro) fest­ge­setzt.« Das Buß­geld betrug 1300 €! Mei­nungs­frei­heit für Nazis hat ihren Preis.

Nach­trag 2: Der evan­ge­li­sche Lan­des­bi­schof von Sach­sen, Car­sten Rent­zing, ver­zich­tet auf sein Amt. Rechts­la­sti­ge Ver­gan­gen­heit wur­de publik. Wer sol­che Hir­ten hat, darf sich über die Far­be der Läm­mer nicht wundern.

Noch Fra­gen? Im 70. (!) Jahr der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land sind zwölf Ver­fah­ren gegen KZ-Wach­leu­te offen – zu Sach­sen­hau­sen, sechs zu Buchen­wald, je zwei zu Stutt­hof und Maut­hau­sen sowie ein Ver­fah­ren zu Ravensbrück.

Quel­len: https://yvng.yadvashem.org./index.html…

https://www.statistik-des-holocaust.de/list_ger_ber_ot34.html und ot36.html

https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2019/bvg19-066.html

In Yad Vas­hem wird Lie­se­lot­te Hirsch­wehs Name nun um per­sön­li­che Anga­ben wie Fotos aus der Aus­stel­lung »Écra­ser l’infâme! Künst­ler und das Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger – die Kunst­samm­lung der Gedenk­stät­te Sach­sen­hau­sen« und Doku­men­te aus dem Peter-Edel-Archiv der Aka­de­mie der Kün­ste ergänzt werden.