Die Wahrheit »ist eine immerwährende Bemühung, sich ihr anzunähern«, schreibt Werner Herzog über eigene Erfahrungen. »Bemühungen«, sich der »Wahrheit« anzunähern, erfordern den Zweifel, der von sich weiß, dass er nach allen Seiten schauen muss. Er muss Fakten prüfen, die Folgen des Handelns bedenken, das von der Vernunft auf den Frieden gerichtet sein muss. Soweit ich mich im westlichen Ausland umhöre, bis Macron einen Einfall hatte, ist die deutsche Debatte über Hilfen, vor allem über die Art der Waffenlieferungen, die Unterstützung angegriffener Staaten, die sich demokratisch und republikanisch wähnen, besonders. Der französische Präsident spielt mit dem Gedanken, Truppen in die Ukraine zu senden. Der frühere Chef der Münchner Sicherheitskonferenz, Ischinger, findet die Idee gar nicht so übel, zumindest sei sie »aus taktischen« Gründen nicht auszuschließen. Russland müsste mit allem rechnen. Das stärke die Position der Ukraine und des Westens! Die deutsche Seele trägt ihre Lasten der Geschichte, bildet Metamorphosen, die besonders und sonderbar sind. Eine risikobereite nicht mehr preußische, sondern neue Form eines Konglomerats aus Politiker-, Sicherheitsexperten und Medien-Militarismus hat sich gebildet.
Seit Verkündung der Zeitenwende durch Bundeskanzler Scholz versucht eine Armada von politischen Zivilisten, »Militärkundigen«, angeblichen Expertinnen und Experten »unserer« Sicherheit, von selbstgewählter Einseitigkeit der Medien ins Bild gesetzt, halbwahre Informationen als die »Wahrheit« zu verbreiten. Schwer zu entzaubern, die Verführung zum Kriegseintritt.
Deutschland muss sich militarisierend verteidigen, den Vereinigten Staaten, ein »wankelmütiger Freund« (Frankfurter Allgemeine Zeitung am Sonntag), ist nicht mehr zu trauen. Die FAS stellte die Frage zur Atombewaffnung listig, denn sie war rhetorisch gemeint, um die Debatte über eine atomare Bewaffnung weiter zu köcheln. Was die kriegerischen CDU-Politiker von Norbert Röttgen bis Roderich Kiesewetter oder Strack-Zimmermann von der FDP und Hofreiter von den Grünen beschwören, den »starken transatlantischen Verbund« des Militärbündnisses, geht anderen Stimmen aus dem Lager der Abschreckung und Aufrüstung nicht weit genug, den Stimmen um Finanzminister Lindner (FDP), um die ehemaligen Außenminister Fischer (Grüne) und Gabriel (SPD), sowie Barley (SPD), der SPD-Spitzenkandidatin für die Europawahlen. Sie sinnieren über EU-eigene atomare Fähigkeiten. Die FAS nährt Zweifel an der transatlantischen Treue der USA, verstärkt die Überlegung nach Besitz von atomaren Waffen: »Man vertraut also auf Appelle an den wankelmütigen Freund«? – Doch wohl nicht, wäre eine Antwort! Und versteckt damit die noch nicht sagbare direkte Forderung nach deutsch-europäischer Atombewaffnung. Alle diese Spielbälle treiben zum Wettkampf um Eskalation. Grundgesetzwidrig!
Denn von deutschem Boden soll Frieden ausgehen. Die Medien verbreiten »Kriegsführungsparolen«, für Krieg sollen wir unseren Gürtel enger schnallen: »Den Deutschen müsse jetzt klar gemacht werden«, so zitiert die FAS Roderich Kiesewetter, »dass wir uns in einer bedrohlichen Situation befinden und die Zeit der Work-Life-Balance vorbei ist«. »Europa ist im Krieg!« legt der englische Historiker Timothy Garton Ash in der Süddeutschen Zeitung nach. Ihr Deutschen, »ihr seid im Krieg!« »Putin muss geschlagen werden«, das sei »der einzige Weg diesen Krieg zu töten!« Wollen wir auf diese KriegsberichterstatterInnen, Kriegs-HistorikerInnen, aufrüstenden »Sicherheits«-ExpertInnen hören, auf die Hetze reinfallen?
Was sagt ein General dazu, ehemals oberster Militär Deutschlands, der sich als Soldat ans Grundgesetz und an das Friedensgebot unserer Verfassung gebunden fühlt? Harald Kujat, unter rot-grünen Regierungen nach 1998 zuerst Generalinspekteur der Bundeswehr, später Vorsitzender des Militärausschusses der Nato (2002-2005) in Brüssel, stellt in Gesprächsrunden zum Krieg in der Ukraine infrage, dass die schlimmsten Schreihälse des Kriegerischen das Friedensgebot des Grundgesetzes achten oder auch nur die Fakten kennen, wie sie behaupten. Dieser Harald Kujat, ein Mann vom Fach, ein wirklicher »Fachmann« und aufgeklärter Sicherheitsexperte, sieht Vernunft im Gewirr der Kriegspropaganda auf verlorenem Posten. Abwägend, Fakten und Alternativen prüfend und durchdenkend, löst der General, der wieder gefragt ist, bei den Kiesewetters und Strack-Zimmermanns hysterische Reaktionen aus. Doch in sich abgeschlossenes Denken, unangreifbare »Sicherheitskonzepte« und Gewissheitsverbreiter, die den Krieg in der Ukraine bis zum bitteren Ende weiterführen wollen, liegt unter seinem Denkniveau. Hören wir ihm zu:
In seinen letzten Interviews bewertet er die Kriegslage für die Ukraine so, dass ihr Waffen und vor allem Soldaten fehlen und deshalb Russland auf dem Vormarsch ist. Die Ukraine wolle weiterhin Krieg führen, deshalb ist ein Aspekt, den »Westen« stärker hineinzuziehen. Um das zu realisieren, fordert man Waffensysteme von der Nato, die den Krieg nach Russland tragen. Eine Strategie lautet, das mit den Cruise-Missiles Taurus zu tun. Weitreichende Waffensysteme sollen strategische Ziele erreichen, um militärische Stützpunkte des Gegners zu treffen, heißt es im Deutschen Bundestag. Damit aber sei das russische Nuklearpotenzial bedroht, so Harald Kujat, der dafür ein Beispiel parat hat, den Vorfall vom 26. September 2022 als die russische strategische Bomberflotte in Engels von ukrainischen Drohnen getroffen wurde. Wäre die Nuklearanlage getroffen worden, hätten wir 50 Jahre nuklearen Winter, enorme weitreichende Zerstörungen oder eine nukleare Gegenreaktion. Russland müsste massiv reagieren. Offensichtlich sind wir bereit, das Risiko einzugehen, das der Mainstream »unserer« Sicherheitsexperten, Politiker und Medien bagatellisieren.
Auch »Taurus« kann nicht die militärstrategische Lage ändern, so dass Russland in die Defensive gerät. Der Marschflugkörper, keine Rakete, wird in der Regel von einem Flugzeug abgehängt. Ihn zeichnen drei Fähigkeiten aus: Er fliegt über 500 Kilometer, das System ist äußerst leistungsfähig, bunkerbrechend über mehrere Beton-Etagen, er ist praktisch nicht bekämpfbar, mit drei Navigationssystemen ausgestattet, er kann vom gegnerischen Radar nicht erfasst werden und fliegt mit hoher Geschwindigkeit in geringer Höhe reliefangepasst. Ein wichtiger Aspekt. Man kann dafür nicht jedes Flugzeug nutzen, z. B. nicht die ukrainisch-russischen; ein aufwändiger Anpassungsprozess über Monate wäre erforderlich, um das System zu beherrschen, und es stellt hohe Anforderungen an die Programmierung. Die könnte man auch in Deutschland durchführen, müsste dann aber mit jeder neuen Programmierung einzeln in die Ukraine fliegen. Dann wäre Deutschland an Planung und Vorbereitung des Kriegs beteiligt, es würde den direkten Kriegseintritt bedeuten. Kujat verweist auf das AWACS-Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Im deutschen Rechtssystem, im Völkerrecht und in der Verfassung gäbe es dafür klare Grenzen.
Wir seien nicht in der Lage, den Einsatz des Systems zu kontrollieren – einen Vertrag mit der Ukraine zu schließen, über Einsatzorte, wie manche glaubhaft machen wollen, bedeutet nicht etwa Kontrolle; zumal einige Vorfälle bekannt sind, die Vertragstreue bezweifeln lassen (auch der Nord-Stream-Vorfall). Ob es ein Kriegseintritt wäre, könne nur das Bundesverfassungsgericht feststellen. Die Reaktion Russlands hänge davon allerdings nicht ab. Für den General ist die alles entscheidende Frage, ob wir an den Punkt kommen, wo Vernunft sich durchsetzt. Der Einsatz von Taurus wäre eine Eskalation, denn es ist unsinnig und ausgeschlossen, dass sich durch diese Waffe die militärisch-strategische Lage zugunsten der Ukraine ändert. Die einzige Alternative ist: Wie kommen wir zu einem Waffenstillstand? Was Kiesewetters und andere fordern, so Kujat, sei »unpatriotisch«, eine »Missachtung des Rechts unseres Volkes auf Überleben, Sicherheit, auf Wohlstand, auf Frieden«. Hinzu kommt: Die zunehmend konfrontative Haltung ist strafrechtlich relevant. Damit sollte man sich genauer auseinandersetzen.