»Es gibt ein Bild von Paul Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muss so aussehen. Er hat das Gesicht der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm« (Walter Benjamin »Über den Begriff der Geschichte«, 1940).
In einer Zeit neuerer kriegerischer Auseinandersetzungen, die seit Monaten unter forcierten Gerechtigkeits- und wenig ambitionierten Friedensdebatten sowie verworrenen Wirtschaftsnachrichten, erratischen Absichtserklärungen und debattenloser Umleitung von Volksvermögen an die Rüstungsindustrie in großem Stil geführt werden – hinzu kommen im Wochentakt neu aufflammende Konflikte mit sozialem und ökologischem Sprengpotential, etwa in Taiwan, gerüstet wie ein Stachelschwein, oder dem zerstörten, auf absehbare Zeit seiner zivilgesellschaftlichen Entwicklungsmöglichkeiten beraubten Nahen Osten – entstand in Berlin-Zehlendorf ein Friedenswerk. Eine Kindertagesstätte wird gebaut und in den nächsten Monaten eröffnet. Sie bietet auf drei Ebenen Raum für 75 Betreuungsplätze und 20 neu geschaffene Arbeitsplätze und verstärkt damit die soziale Infrastruktur in Zehlendorf. Initiiert wurde der Bau durch das Unternehmen »El mundo de los niños« (Die Welt der Kinder) unter Leitung der Geschäftsführerin Verónica Schallnau in enger Zusammenarbeit mit dem Architekturbüro ImmoBau GmbH des Diplomingenieurs und Architekten Béchir Chikhaoui, beide Immigranten der ersten Generation, die in Berlin erfolgreiche Unternehmen gründeten. Das Kitaunternehmen schuf in den vergangenen 22 Jahren 12 Kitas mit 337 Betreuungsplätzen und 100 Arbeitsplätzen und wird Anfang des kommenden Jahres diese und eine weitere Kita in Lichterfelde für 90 Kinder und 20 MitarbeiterInnen eröffnen. Das denkmalsgeschützte Gebäude wurde 1903 erbaut und unter Erhaltung der historischen Fassade und der geschützten Teile der Innenräume sowie alter hoher Bäume des Grundstückes für den neuen Zweck umgebaut. Ebenso wurde der große Garten mit selbst entworfenen Holzelementen – Haus, Brücke und Spielplatz – neugestaltet. Eine große Außentreppe führt am hinteren Gebäudeteil vom Erdgeschoss in den zweiten Stock, und die großzügigen Räume zeigen Fliesen, Parkett, alte Holztüren und Erker. Sie vermitteln Licht und viel Raum für Inspiration, Atem und Bewegung.
Das pädagogische bilinguale Konzept der Kitas dieses Unternehmens, offen für Menschen jeden kulturellen Hintergrundes und verbunden mit Zusatzangeboten wie Musik und Bewegung, biologischer Ernährung und eigenen Küchen, spricht vor allem Familien mit Migrationshintergrund an, die ihre familiären Erfahrungen in der Kita pädagogisch aufnehmen möchten. Auch der Anteil der ImmigrantInnen unter den Mitarbeiten – Pädagogen, Psychologin, ErzieherInnen, Quereinsteigern, Studenten in dualen Ausbildungen, Köchen, Hausmeistern und Reinigungskräften ist in den flachen Hierarchien mit starker kollektiver Partizipation an Unternehmensentscheidungen hoch – etwa 90 Prozent aller Beschäftigten haben, oft direkt, einen Migrationshintergrund. Dies trifft vergleichbar auch auf die Beschäftigungsstruktur des Architekturbüros zu.
Migranten sind Grenzgänger, die im direkten Sinne über Grenzen gegangen sind und sich hier ständig neu entgrenzen und neue Strukturen für sich erfinden müssen. Es ist ein Prozess ständiger Häutung, die in jedem Moment die Persönlichkeit in Transformation, Kreativität und Neuerschaffung zwingt. In diesem sehr dynamischen und oft auch schmerzhaften Vorgang, mitunter im Außenfeld rassistisch konnotiert, kommen in dem Unternehmen unter Angestellten und Eltern als einem Sozialverbund Menschen zusammen, die einerseits viele alternative Lebenserfahrungen und oft mehrere Berufe mitbringen, andererseits verletzlich sind, da sie unter Bedingungen sich nur langsam verfestigender Aufenthalte, langwierigen Berufsanerkennungsverfahren, Sprachkursen, zahlreichen dualen Qualifikationen und häufig finanziellen Engpässen und prekären Arbeits- und Sozialverhältnissen leben. Viele von ihnen unterstützen, aus dem traditionell starken familiären Zusammenhalt heraus, Angehörige in den lateinamerikanischen und anderen Herkunftsländern. Mit der Stabilität des Unternehmens wurden, auch in sozialrechtlicher Hinsicht, nicht nur Betreuungsplätze für Kleinkinder geschaffen, sondern es entstanden helfende Netzwerke, die weit über die Kitas hinausreichen und alle Lebensfelder von Eltern und Angestellten umfassen. Die Integrationsleistung, die vom Kern des Unternehmens in die Peripherie strahlt, ist daher thematisch und vom eingebundenen Personenkreis her viel größer, als der reine Arbeitsrahmen vermuten ließe. Oft finden sich frühere Kitakinder später mit ihren Familien in den Berliner Europaschulen und Ausbildungseinrichtungen im In- und Ausland wieder. Die Erfahrung der Bilingualität im Kindesalter erleichtert ihnen lebenslang Lernprozesse und schafft Weltoffenheit, die sich in späteren eigenen Familien und Arbeitsfeldern reproduziert. Das Empowerment und die intensiven, langen und starken solidarischen Beziehungen, die sich aus der Arbeit herleiten, helfen besonders alleinerziehenden Müttern und Vätern, aus der Position einer gesicherten Kinderbetreuung heraus überhaupt berufstätig werden zu können. Der wirtschaftliche und auch persönliche Nutzen dieser win-win-Situation liegt auf der Hand und stellt ein starkes und alternatives Votum für ein anderes mögliches Zusammenleben in Sozialräumen dar.
Der Bau selbst findet unter erschwerten Bedingungen statt; nur schrittweise ermöglichten staatliche Zuwendungen aus prekär ausgestatteten Sozialhaushalten, trotz gesetzlicher Ansprüche auf Kitaplätze bei enormem Bedarf in Berlin, Fachkräftemangel bei beteiligten Firmen, Lieferengpässe und besonders in letzter Zeit schnell und stark steigende Preise für alle Materialien und Dienstleistungen machten viele organisatorische Anpassungen und ständige Improvisationen nötig.
In dem märchenhaft anmutenden Ambiente dieser neuen Kita, einem Ensemble der Künste – Architektur, Gartengestaltung, Kochkunst, Musik und Pädagogik –, in dem man einen langen Tag verbringt, der sechs Jahre währt, liegt aber die Chance, Zeit anders verlaufen zu lassen: nicht chronologisch, sondern aufgeladen mit der utopischen Chance, Geschichte umzukehren, die verborgene Geschichte zu offenbaren, sie zu erschaffen und sie auch rückwirkend zu heilen, Biografien zusammenzufügen und jungen Menschen Kraft für ihren gesamten weiteren Weg zufließen zu lassen. Die Arbeit mit Kindern ist eine sehr optimistische, denn sie bedeutet, dass man von der möglichen Verfertigung von Kommendem als sicherer Tatsache ausgeht. Könnte dies bedeuten, dass an diesem kleinen und punktuellen Ort der Engel der Geschichte in diesem Moment, das sichere Paradies im Rücken, mehr als Trümmerhaufen vor sich sehen kann und es wagt, sein Gesicht der Zukunft zuzuwenden?