»Laut Verordnung des Reichspräsidenten vom 4.2.1933 § 7 zur Vernichtung bestimmt!« Das Buch, das diesen mehr als deutlichen Vermerk trug, würde die »öffentliche Sicherheit oder Ordnung« gefährden, hieß es in den seltsamen Statuten dieses ominösen Paragrafen. 1931 war die »Reportage aus den dunklen Vierteln der Großstädte« des französischen Journalisten Roger Salardenne auch in deutscher Sprache unter dem Titel »Hauptstädte des Lasters« erschienen und hatte Berlin zu einer Art Sodom und Gomorrha deklassiert. Zwei Jahre später ging das Buch dann den Weg vieler Publikationen, die nicht in das nationalsozialistische Weltbild passten. Es wurde zur verbotenen Literatur, zu »Schmutz und Schund«, mit einem somit auch gebrandmarkten Autor, der für seine Recherchen mehrere europäische Brutstätten des Lasters besucht hatte. Doch das Verbot tangierte den wackeren Journalisten wenig. Der war nämlich Kritik und Verachtung gewöhnt, die nicht ausblieb, wenn man sich dem Naturalismus, einer literarischen Kunstform, verschrieben hatte und die düsteren Seiten des Lebens in allen seinen Facetten beleuchten wollte. Alltag in Armut, die Bedrohung durch den mittlerweile omnipräsenten Nationalsozialismus, Hunger, Leid, Verzweiflung, Prostitution, Bandenkriminalität, das alles und noch viel mehr durfte ihn nicht abschrecken, er wollte und musste es ertragen, wenn er seinem naturalistischen Anspruch gerecht werden wollte – Wahnsinn und Wahrheit.
Wenig ist heute über den 1902 in Sedan in den Ardennen als Sohn eines Briefzustellers geborenen Journalisten und Schriftsteller Salardenne bekannt. Als er 1933 eine neue Berlin-Reportage verfasst, ist er in seiner Heimat schon länger als Reporter tätig. Er hat ein Faible für Deutschland, unter anderem haben es ihm die deutschen Nudisten angetan, über die er mehrmals geschrieben hat. Und jetzt sollen sich eben die Berliner Verbrecher blank machen, so der kühne Plan – das natürlich nur verbal. Hilfe vor Ort bekommt er vor allem von seinem deutschen Berufskollegen Rudolf Schweitzer von der B.Z. am Mittag. Schweitzer vermittelt die nötigen Kontakte, über seine Quellen hüllt er diskret den Mantel des Schweigens.
Im Juli 1933 erscheint in der Ausgabe Nr. 136 der Zeitschrift Le Détéctive der erste von insgesamt zehn Teilen der Reportage Salardennes (https://criminocorpus.org/fr). Salardenne stellt sich dafür als eine Art Leitmotiv die Frage: Ist Berlin wirklich das Chicago Berlins? Das moderne Babylon? Er wird das nach den wochenlangen Recherchen eindeutig mit »Ja!« beantworten Und er wird mit seinem Werk eine Topografie der Berliner Unterwelt entwerfen, nennt Ross und Reiter, Namen und Straßen, in denen Bandenkriege am helllichten Tag mittlerweile keine Seltenheit mehr sind. Und die Protagonisten lassen sich auch nicht von den Schergen Hitlers oder Görings einschüchtern, die zum Beispiel als »Sturm 33« Angst und Schrecken verbreiten.
Salardenne begegnet im Lauf seiner Recherchen sehr vielen unterschiedlichen Menschen, die ihm freimütig Auskunft geben. Selbst der zunächst misstrauischen Wirtin eines dubiosen Restaurants in der Elbinger Straße, wo ein Bandenkrieg mit Schusswechsel und Schwerverletzten getobt hat, entlockt er das ein oder andere Geheimnis. Leben und leben lassen. Und wenn Mitglieder des Ringvereins »Atlantik« der Gastronomin im Problemviertel schon mal im Übermut das Mobiliar kaputtschlagen, so entschädige man sie ja sofort, erzählt sie freudestrahlend. Und was macht Salardenne? Fährt eben genau in diese Straße.
Die Weberstraße entpuppt sich bei Salardenne schließlich als Treffpunkt des berüchtigten Ringvereins »Atlantik«. Unermüdlich und wissbegierig taumelt Salardenne weiter, immer weiter, von einer Kneipe in die andere, von einer Kaschemme in die nächste Destille, um das geheimnisumwitterte Stammlokal zu finden. Ein gewisser »Bubi Bergmann«, den er unterwegs trifft – natürlich ein Pseudonym – sei einem Interview nicht abgeneigt, flüstert man ihm diskret zu. Und dieser »Bubi«, den er tatsächlich in irgendeinem schäbigen Hinterzimmer einer billigen Absteige findet, ist tatsächlich in Plauderlaune und erzählt mit einer Selbstverständlichkeit von seiner handverlesenen Bande namens »Niedlich«. Bubi führt die Bande an. Doch der Name »Niedlich« ist keineswegs Programm, die ehemaligen Fürsorgezöglinge leben von Diebstählen. Es sind junge Menschen, die keine Aussicht auf eine Arbeitsstelle haben, »Flüchtlinge der Fürsorge«. Ziellose junge Leute, die exemplarisch für viele andere in der Stadt sind, die sich für ein paar Almosen hingeben müssen. Und oft sind es ältere Männer, die die Bekanntschaft von Minderjährigen machen wollen. Und so versucht Richard, auszusehen wie 14, obwohl er bereits 20 ist. Ella ist spezialisiert darauf, Trinker auszurauben, »Georg, der Sachse«, Sohn eines Trinkers aus kinderreicher Familie, kann hervorragend auf Kommando weinen und heischt so Mitleid bei seinen Opfern, um sie dann auszunehmen. Doch gibt man ihm Schnaps, wird er zum Tier, dann bricht seine Krankheit, die Epilepsie, bei ihm aus. Ärztliche Behandlung? Fehlanzeige, das kostet Geld, und so wird auch er sich selber überlassen. Und da ist auch noch Alwin, ein junger Mann, der am liebsten an Autos herumschraubt oder mit Motorrädern herumfährt, die ihm in der Regel nicht gehören. Ein Mensch mit Talent zum Mechaniker, das ungenutzt bleiben wird. Gestohlene Kindheit.
Salardenne lernte im Laufe seines Aufenthaltes in Berlin so einige Menschen kennen, denen man ansonsten nie ein Forum gegeben hätte, aus ihrem Leben zu erzählen. Und die Menschen dürfen sich erklären, der Reporter nimmt sich selber zurück und gibt ihnen dieses Stück Würde, die sie von anderer Seite nicht bekommen. Sie dürfen fluchen, toben und schimpfen, alles andere wäre geschönt und falsch. Das gilt auch für die ungezählten Bettler der Stadt. Die Armut ist so groß, dass sie die Stullen, die ihnen die Gastwirte ihres Kiezes regelmäßig schenken, für ein paar Cent verkaufen müssen. »Stullenbörse« nennt sich dieser traurige Handel, der tagtäglich in einer der berüchtigten Straßen stattfindet. Und das ist die »Münze«, korrekt heißt sie Münzstraße. Doch die Bettler legen großen Wert auf die pflegliche Behandlung der Stullen, verpacken sie geradezu liebevoll, um sie dann weiterzuverkaufen. Ungefähr 80 Stullen muss man verkaufen, um 2 Mark 40 zu erhalten. Es sind unvorstellbar schwere Zeiten.
Natürlich spielte das Thema »Prostitution« in Salardennes Reportage die größte Rolle. Salardenne fragt sich, wo die Damen der Nacht eigentlich ihr Zuhause haben und muss dann ernüchtert feststellen: Sie haben keins! Hin- und hergetrieben von der Armut, von der Gunst der Freier abhängig, ist ihr zuhause das Nachtasyl, das sie mit anderen Gestrandeten der Gesellschaft teilen. Aber nur bis acht Uhr morgens, dann müssen sie das Haus verlassen. Wie oft sie wohl am nächsten Tag »Willste mitgehen?« gesagt haben? Das fragt sich nicht nur Salardenne. Und der letzte Ausweg für die Verzweifelten, das ist dann oft die Spree.
Und Salardenne grast sie alle ab, die Orte des Lasters, die Schweitzer und andere ihm vorgegeben haben, selbst, wenn das Tageslicht schon lange versiegt ist. Er ist kein sinnierender schöngeistiger Flaneur, aber auch kein gnadenloser Sensationsreporter. Er hat eine klare Mission: die Armseligkeit des Daseins eines Großteils der Berliner zu entlarven. Alles genau zu beschreiben, und zwar so, dass man tatsächlich manchmal Mitleid empfindet mit diesen Menschen. Im dunklen Berlin in einer fernen Zeit, die jedoch aktueller als je zuvor scheint. An den Orten des viel zitierten Berliner Lasters, der Dragonerstraße, Grenadierstraße, Mulackstraße, und wie sie damals alle hießen. Ein veritabler Albtraum der menschlichen Abgründe, der erzwungenen Erniedrigung im Angesicht des schnöden Mammons, der dort nur kleckerweise verteilt wird, weil die Damen oder auch männliche
Prostituierte zu den niedrigsten Preisen zu haben sind. Hauptstadt des Lasters? Eher die Hauptstadt der Verzweiflung, die sehr gut verborgen wird, weil man ja überleben muss. Schwäche kann man sich nicht leisten, sonst steht man schon bald am Ufer der Spree. Überall Abgründe und Schmutz, Menschen ohne Zukunft, misstrauisch beäugt von den Schergen Hitlers, denen man sich besser nicht in den Weg stellt.
Heute sind Salardennes Berlin-Texte tatsächlich eine fulminante Reise in die traurige Vergangenheit der Stadt, und dabei auch erschreckend aktuell. »Deutschland ist verrückt!«, ruft einer der Berufskollegen Salardennes, ein Journalist vom Berliner Tageblatt, aus, als ein Trupp Nationalsozialisten kurz davor ist, das Lokal zu zerlegen, dann aber unverrichteter Dinge fluchend abzieht. Der Ausruf wird nicht nur an diesem Abend zum Mantra des französischen Reporters, der im Auftrag seines Arbeitgebers beherzt – und durch sein Werk den deutschen Zeitgeist entlarvend – im deutschen Schicksalsjahr 1933 in Berlin unterwegs war. Die Reportage manifestierte das Ansehen Deutschlands in Frankreich endgültig als »Chicago Europas«.