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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Ein Franzose in (Babylon)Berlin

»Laut Ver­ord­nung des Reichs­prä­si­den­ten vom 4.2.1933 § 7 zur Ver­nich­tung bestimmt!« Das Buch, das die­sen mehr als deut­li­chen Ver­merk trug, wür­de die »öffent­li­che Sicher­heit oder Ord­nung« gefähr­den, hieß es in den selt­sa­men Sta­tu­ten die­ses omi­nö­sen Para­gra­fen. 1931 war die »Repor­ta­ge aus den dunk­len Vier­teln der Groß­städ­te« des fran­zö­si­schen Jour­na­li­sten Roger Salar­den­ne auch in deut­scher Spra­che unter dem Titel »Haupt­städ­te des Lasters« erschie­nen und hat­te Ber­lin zu einer Art Sodom und Gomor­rha deklas­siert. Zwei Jah­re spä­ter ging das Buch dann den Weg vie­ler Publi­ka­tio­nen, die nicht in das natio­nal­so­zia­li­sti­sche Welt­bild pass­ten. Es wur­de zur ver­bo­te­nen Lite­ra­tur, zu »Schmutz und Schund«, mit einem somit auch gebrand­mark­ten Autor, der für sei­ne Recher­chen meh­re­re euro­päi­sche Brut­stät­ten des Lasters besucht hat­te. Doch das Ver­bot tan­gier­te den wacke­ren Jour­na­li­sten wenig. Der war näm­lich Kri­tik und Ver­ach­tung gewöhnt, die nicht aus­blieb, wenn man sich dem Natu­ra­lis­mus, einer lite­ra­ri­schen Kunst­form, ver­schrie­ben hat­te und die düste­ren Sei­ten des Lebens in allen sei­nen Facet­ten beleuch­ten woll­te. All­tag in Armut, die Bedro­hung durch den mitt­ler­wei­le omni­prä­sen­ten Natio­nal­so­zia­lis­mus, Hun­ger, Leid, Ver­zweif­lung, Pro­sti­tu­ti­on, Ban­den­kri­mi­na­li­tät, das alles und noch viel mehr durf­te ihn nicht abschrecken, er woll­te und muss­te es ertra­gen, wenn er sei­nem natu­ra­li­sti­schen Anspruch gerecht wer­den woll­te – Wahn­sinn und Wahrheit.

Wenig ist heu­te über den 1902 in Sedan in den Arden­nen als Sohn eines Brief­zu­stel­lers gebo­re­nen Jour­na­li­sten und Schrift­stel­ler Salar­den­ne bekannt. Als er 1933 eine neue Ber­lin-Repor­ta­ge ver­fasst, ist er in sei­ner Hei­mat schon län­ger als Repor­ter tätig. Er hat ein Fai­ble für Deutsch­land, unter ande­rem haben es ihm die deut­schen Nudi­sten ange­tan, über die er mehr­mals geschrie­ben hat. Und jetzt sol­len sich eben die Ber­li­ner Ver­bre­cher blank machen, so der küh­ne Plan – das natür­lich nur ver­bal. Hil­fe vor Ort bekommt er vor allem von sei­nem deut­schen Berufs­kol­le­gen Rudolf Schweit­zer von der B.Z. am Mit­tag. Schweit­zer ver­mit­telt die nöti­gen Kon­tak­te, über sei­ne Quel­len hüllt er dis­kret den Man­tel des Schweigens.

Im Juli 1933 erscheint in der Aus­ga­be Nr. 136 der Zeit­schrift Le Détéc­ti­ve der erste von ins­ge­samt zehn Tei­len der Repor­ta­ge Salar­den­nes (https://criminocorpus.org/fr). Salar­den­ne stellt sich dafür als eine Art Leit­mo­tiv die Fra­ge: Ist Ber­lin wirk­lich das Chi­ca­go Ber­lins? Das moder­ne Baby­lon? Er wird das nach den wochen­lan­gen Recher­chen ein­deu­tig mit »Ja!« beant­wor­ten Und er wird mit sei­nem Werk eine Topo­gra­fie der Ber­li­ner Unter­welt ent­wer­fen, nennt Ross und Rei­ter, Namen und Stra­ßen, in denen Ban­den­krie­ge am hell­lich­ten Tag mitt­ler­wei­le kei­ne Sel­ten­heit mehr sind. Und die Prot­ago­ni­sten las­sen sich auch nicht von den Scher­gen Hit­lers oder Görings ein­schüch­tern, die zum Bei­spiel als »Sturm 33« Angst und Schrecken verbreiten.

Salar­den­ne begeg­net im Lauf sei­ner Recher­chen sehr vie­len unter­schied­li­chen Men­schen, die ihm frei­mü­tig Aus­kunft geben. Selbst der zunächst miss­traui­schen Wir­tin eines dubio­sen Restau­rants in der Elb­in­ger Stra­ße, wo ein Ban­den­krieg mit Schuss­wech­sel und Schwer­ver­letz­ten getobt hat, ent­lockt er das ein oder ande­re Geheim­nis. Leben und leben las­sen. Und wenn Mit­glie­der des Ring­ver­eins »Atlan­tik« der Gastro­no­min im Pro­blem­vier­tel schon mal im Über­mut das Mobi­li­ar kaputt­schla­gen, so ent­schä­di­ge man sie ja sofort, erzählt sie freu­de­strah­lend. Und was macht Salar­den­ne? Fährt eben genau in die­se Straße.

Die Weber­stra­ße ent­puppt sich bei Salar­den­ne schließ­lich als Treff­punkt des berüch­tig­ten Ring­ver­eins »Atlan­tik«. Uner­müd­lich und wiss­be­gie­rig tau­melt Salar­den­ne wei­ter, immer wei­ter, von einer Knei­pe in die ande­re, von einer Kaschem­me in die näch­ste Destil­le, um das geheim­nis­um­wit­ter­te Stamm­lo­kal zu fin­den. Ein gewis­ser »Bubi Berg­mann«, den er unter­wegs trifft – natür­lich ein Pseud­onym – sei einem Inter­view nicht abge­neigt, flü­stert man ihm dis­kret zu. Und die­ser »Bubi«, den er tat­säch­lich in irgend­ei­nem schä­bi­gen Hin­ter­zim­mer einer bil­li­gen Abstei­ge fin­det, ist tat­säch­lich in Plau­der­lau­ne und erzählt mit einer Selbst­ver­ständ­lich­keit von sei­ner hand­ver­le­se­nen Ban­de namens »Nied­lich«. Bubi führt die Ban­de an. Doch der Name »Nied­lich« ist kei­nes­wegs Pro­gramm, die ehe­ma­li­gen Für­sor­ge­zög­lin­ge leben von Dieb­stäh­len. Es sind jun­ge Men­schen, die kei­ne Aus­sicht auf eine Arbeits­stel­le haben, »Flücht­lin­ge der Für­sor­ge«. Ziel­lo­se jun­ge Leu­te, die exem­pla­risch für vie­le ande­re in der Stadt sind, die sich für ein paar Almo­sen hin­ge­ben müs­sen. Und oft sind es älte­re Män­ner, die die Bekannt­schaft von Min­der­jäh­ri­gen machen wol­len. Und so ver­sucht Richard, aus­zu­se­hen wie 14, obwohl er bereits 20 ist. Ella ist spe­zia­li­siert dar­auf, Trin­ker aus­zu­rau­ben, »Georg, der Sach­se«, Sohn eines Trin­kers aus kin­der­rei­cher Fami­lie, kann her­vor­ra­gend auf Kom­man­do wei­nen und heischt so Mit­leid bei sei­nen Opfern, um sie dann aus­zu­neh­men. Doch gibt man ihm Schnaps, wird er zum Tier, dann bricht sei­ne Krank­heit, die Epi­lep­sie, bei ihm aus. Ärzt­li­che Behand­lung? Fehl­an­zei­ge, das kostet Geld, und so wird auch er sich sel­ber über­las­sen. Und da ist auch noch Alwin, ein jun­ger Mann, der am lieb­sten an Autos her­um­schraubt oder mit Motor­rä­dern her­um­fährt, die ihm in der Regel nicht gehö­ren. Ein Mensch mit Talent zum Mecha­ni­ker, das unge­nutzt blei­ben wird. Gestoh­le­ne Kindheit.

Salar­den­ne lern­te im Lau­fe sei­nes Auf­ent­hal­tes in Ber­lin so eini­ge Men­schen ken­nen, denen man anson­sten nie ein Forum gege­ben hät­te, aus ihrem Leben zu erzäh­len. Und die Men­schen dür­fen sich erklä­ren, der Repor­ter nimmt sich sel­ber zurück und gibt ihnen die­ses Stück Wür­de, die sie von ande­rer Sei­te nicht bekom­men. Sie dür­fen flu­chen, toben und schimp­fen, alles ande­re wäre geschönt und falsch. Das gilt auch für die unge­zähl­ten Bett­ler der Stadt. Die Armut ist so groß, dass sie die Stul­len, die ihnen die Gast­wir­te ihres Kiezes regel­mä­ßig schen­ken, für ein paar Cent ver­kau­fen müs­sen. »Stul­len­bör­se« nennt sich die­ser trau­ri­ge Han­del, der tag­täg­lich in einer der berüch­tig­ten Stra­ßen statt­fin­det. Und das ist die »Mün­ze«, kor­rekt heißt sie Münz­stra­ße. Doch die Bett­ler legen gro­ßen Wert auf die pfleg­li­che Behand­lung der Stul­len, ver­packen sie gera­de­zu lie­be­voll, um sie dann wei­ter­zu­ver­kau­fen. Unge­fähr 80 Stul­len muss man ver­kau­fen, um 2 Mark 40 zu erhal­ten. Es sind unvor­stell­bar schwe­re Zeiten.

Natür­lich spiel­te das The­ma »Pro­sti­tu­ti­on« in Salar­den­nes Repor­ta­ge die größ­te Rol­le. Salar­den­ne fragt sich, wo die Damen der Nacht eigent­lich ihr Zuhau­se haben und muss dann ernüch­tert fest­stel­len: Sie haben keins! Hin- und her­ge­trie­ben von der Armut, von der Gunst der Frei­er abhän­gig, ist ihr zuhau­se das Nacht­asyl, das sie mit ande­ren Gestran­de­ten der Gesell­schaft tei­len. Aber nur bis acht Uhr mor­gens, dann müs­sen sie das Haus ver­las­sen. Wie oft sie wohl am näch­sten Tag »Will­ste mit­ge­hen?« gesagt haben? Das fragt sich nicht nur Salar­den­ne. Und der letz­te Aus­weg für die Ver­zwei­fel­ten, das ist dann oft die Spree.

Und Salar­den­ne grast sie alle ab, die Orte des Lasters, die Schweit­zer und ande­re ihm vor­ge­ge­ben haben, selbst, wenn das Tages­licht schon lan­ge ver­siegt ist. Er ist kein sin­nie­ren­der schön­gei­sti­ger Fla­neur, aber auch kein gna­den­lo­ser Sen­sa­ti­ons­re­por­ter. Er hat eine kla­re Mis­si­on: die Arm­se­lig­keit des Daseins eines Groß­teils der Ber­li­ner zu ent­lar­ven. Alles genau zu beschrei­ben, und zwar so, dass man tat­säch­lich manch­mal Mit­leid emp­fin­det mit die­sen Men­schen. Im dunk­len Ber­lin in einer fer­nen Zeit, die jedoch aktu­el­ler als je zuvor scheint. An den Orten des viel zitier­ten Ber­li­ner Lasters, der Dra­go­ner­stra­ße, Gre­na­dier­stra­ße, Mulack­stra­ße, und wie sie damals alle hie­ßen. Ein veri­ta­bler Alb­traum der mensch­li­chen Abgrün­de, der erzwun­ge­nen Ernied­ri­gung im Ange­sicht des schnö­den Mam­mons, der dort nur kleck­er­wei­se ver­teilt wird, weil die Damen oder auch männliche
Pro­sti­tu­ier­te zu den nied­rig­sten Prei­sen zu haben sind. Haupt­stadt des Lasters? Eher die Haupt­stadt der Ver­zweif­lung, die sehr gut ver­bor­gen wird, weil man ja über­le­ben muss. Schwä­che kann man sich nicht lei­sten, sonst steht man schon bald am Ufer der Spree. Über­all Abgrün­de und Schmutz, Men­schen ohne Zukunft, miss­trau­isch beäugt von den Scher­gen Hit­lers, denen man sich bes­ser nicht in den Weg stellt.

Heu­te sind Salar­den­nes Ber­lin-Tex­te tat­säch­lich eine ful­mi­nan­te Rei­se in die trau­ri­ge Ver­gan­gen­heit der Stadt, und dabei auch erschreckend aktu­ell. »Deutsch­land ist ver­rückt!«, ruft einer der Berufs­kol­le­gen Salar­den­nes, ein Jour­na­list vom Ber­li­ner Tage­blatt, aus, als ein Trupp Natio­nal­so­zia­li­sten kurz davor ist, das Lokal zu zer­le­gen, dann aber unver­rich­te­ter Din­ge flu­chend abzieht. Der Aus­ruf wird nicht nur an die­sem Abend zum Man­tra des fran­zö­si­schen Repor­ters, der im Auf­trag sei­nes Arbeit­ge­bers beherzt – und durch sein Werk den deut­schen Zeit­geist ent­lar­vend – im deut­schen Schick­sals­jahr 1933 in Ber­lin unter­wegs war. Die Repor­ta­ge mani­fe­stier­te das Anse­hen Deutsch­lands in Frank­reich end­gül­tig als »Chi­ca­go Europas«.