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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Ein fleckiges Dasein

Armut – ist das ein The­ma mit neu­en Nuan­cen, Aspek­ten, Per­spek­ti­ven? Oder ist es immer die­sel­be alte Schei­ße, mit der man sich nicht befas­sen möch­te, weil sie einen hilf­los macht, egal ob man betrof­fen ist oder sie sich anschaut.

Solan­ge sie ein flä­chen­decken­des Phä­no­men ist, wirkt sie wie eine Natur­ka­ta­stro­phe, weil dann halt alle im glei­chen Dreck sit­zen und einer die Pro­ble­me des andern kennt. Wenn alle unter sich blei­ben, gibt’s kein gro­ßes Auf­se­hen damit. Her­un­ter­ge­kom­me­ne, Kran­ke, Ver­wahr­lo­ste tei­len sich ein flecki­ges Dasein und wenn jemand sel­ber stinkt, lei­det er nicht sehr unter dem Gestank von ande­ren – buch­stäb­lich, aber auch bild­lich gese­hen. Erst wenn die Armut mit ihrem Gefol­ge in die Ter­ri­to­ri­en des Wohl­stands ein­bricht, wird sie unge­müt­lich. Auch das in bei­den Fäl­len, ob ich betrof­fen bin oder nicht.

Bei mir sel­ber ange­fan­gen: in den Pha­sen von Armut/​Armutsproblemen, die ich im Zusam­men­hang mit mei­ner selbst­ver­schul­de­ten Insol­venz erlebt habe, war ich über­rascht, wie deut­lich man mir das anmerk­te. immer­hin hat­te ich noch die­sel­ben Klei­der wie frü­her an. Zum Fri­seur bin ich sowie­so nie gegan­gen. Mei­ne selbst­ge­stopf­ten Ziga­ret­ten waren in einem schicken Etui. Trotz­dem ist anders mit mir umge­gan­gen wor­den. Ich muss also mei­ne Armut vor mir her­ge­tra­gen haben. Auch die Kunst des Schul­den­ma­chens konn­te das nur unwe­sent­lich abmil­dern. Aller­dings habe ich auch einen Lern­pro­zess erlebt und mir eine wach­sen­de Kalt­blü­tig­keit zuge­legt, die aber immer wie­der bröckel­te. Gleich­zei­tig ist das Erleb­nis von Armut ein uner­setz­li­cher Indi­ka­tor für die Cha­rak­te­re, mit denen man es zu tun hat: wenn du arm bist, lernst du die Leu­te anders ken­nen – bes­ser, wie ich mei­ne. Wahr­schein­lich ist es mit Krank­hei­ten nicht viel anders. Muss man alles mal mit­ge­macht haben. Für den Fall, dass man die­se Din­ge wis­sen will.

In den letz­ten zwan­zig Jah­ren hat die Sozi­al­de­mo­kra­tie zusam­men mit den Grü­nen, wie wir alle wis­sen, eine neue Qua­li­tät des armen Lebens her­vor­ge­bracht; es wur­de mit Schuld­ge­füh­len auf­ge­la­den, Schuld für das eige­ne Leben halt, jeder ist sei­nes Glückes Schmied, und wer es nicht schafft, sich dau­er­haft auf dem Glücks­damp­fer Kon­sum hei­misch zu machen, der schul­det den ande­ren, den Glücks­damp­fer-Bewoh­nern, sich qua­si abzu­schaf­fen, indem er sein Selbst­wert­ge­fühl den Hasen gibt, sich in eine Dau­er­schlei­fe des Bewer­bens, also Bet­telns um Aner­ken­nung begibt etc.

Armut soll nicht mehr bedeu­ten, dass jemand nur mate­ri­el­le Not erlebt, son­dern auch, dass er sich fast tag­täg­lich selbst beweist, dass er es nicht bes­ser ver­dient hat. Er/​sie, sorry.

Damals wur­de in Duis­burg ein klei­nes Arran­ge­ment von Hecken ent­fernt, an dem sich ver­arm­te Indu­strie-Kli­en­tel mit Dosen­bie­ren vom Büd­chen getrof­fen hat. Nun konn­ten sie sich nicht mehr dort tref­fen und in mei­ner Fan­ta­sie haben sie nur noch allein in ihren eige­nen Buden getrun­ken. Zur glei­chen Zeit ver­schwan­den auf der Kö (ja, so was gibt’s nicht nur in Düs­sel­dorf) die bes­se­ren Geschäf­te zugun­sten von Ein­Eu­ro­Lä­den, aus denen die­ser Gestank ent­weicht, der jede Schil­de­rung von Pla­stik­müll obso­let macht. Wo die armen Leu­te sich mit Sachen ein­decken kön­nen, die außer stin­ken nicht viel tun. Gleich­zei­tig began­nen die Sperr­müll­hal­den vor den geräum­ten Woh­nun­gen zu wuchern, zu quel­len, zu plat­zen, dass es eine Seu­che war. Auf den regel­mä­ßi­gen ›Volks‹festen bestimm­ten die kran­ken Pas­san­ten das Bild: Schwer­ge­wich­ti­ge, Asth­ma-Kan­di­da­ten, mit Perücken ihre Che­mo­the­ra­pie kaschie­ren­de Leu­te – alle mit dem ver­bis­se­nen Wunsch, am all­ge­mei­nen Fei­ern teilzunehmen.

Den todes­mu­ti­gen Flücht­lin­gen sind sol­che Bil­der von Men­schen im gelob­ten Sozi­al­staat nicht gezeigt wor­den. Ich wer­de immer wie­der fas­sungs­los gefragt von mei­nen Kurs-Teil­neh­mern, denen ich Deutsch bei­brin­gen soll: War­um gibt’s hier sowas? Dass bei ihnen zu Hau­se Leu­te auf der Stra­ße ver­fau­len, ist ihnen geläu­fig. Aber hier?

In Ber­lin herrscht ten­den­zi­ell eher stadt­teil­ori­en­tier­tes Leben; jeder bleibt in sei­nem Kiez, man ist unter sich. Die Armen erhal­ten Platz­ver­wei­se von den guten Bür­gern. Nicht wie in Cara­cas, wo Stra­ßen­kin­der vor den Juwe­lier­lä­den auf der Fla­nier­mei­le bet­teln. Aber die Ber­li­ner Ring­bahn durch­läuft unter­schied­li­che Ter­ri­to­ri­en und dem­entspre­chend merkt man an der Anzahl und der Qua­li­tät der Schnor­rer, wo man gera­de lang­fährt. Die gut auf­ge­stell­ten Ver­käu­fer von Stra­ßen-Maga­zi­nen wech­seln mit völ­lig deso­la­ten und ver­stör­ten Hil­fe­su­chen­den, die man (ich) auch ohne Abstands­re­geln nicht an sich her­an­las­sen möch­te. Jetzt auch noch das lei­di­ge Virus, die neue Stra­ßen­ver­kehrs­ord­nung. Jeder fragt sich, wie die »Hin­ten­ge­blie­be­nen« das wohl schaf­fen. Eini­ge sind immer­hin sicht­bar. Mei­ne Ver­mu­tung geht aber dahin, dass die Armen immer unsicht­ba­rer wer­den. In außer­eu­ro­päi­schen Län­dern habe ich immer vie­le arme Men­schen auf den Stra­ßen der Städ­te gese­hen, ach, was sag ich: Auch in Süd­ita­li­en, auch im Bal­kan: wenn die Men­schen Sor­gen haben, dann suchen sie dort bei den ande­ren Ablen­kung, viel­leicht Hil­fe, viel­leicht Trost. Hier­zu­lan­de ver­steckt man sich meist mit die­ser Art von Wun­den. Man ver­einsamt sich. Man schämt sich eben. Mir kommt immer wie­der der schreck­li­che Gedan­ke, dass genau damit der Vor­schub gelei­stet wird für die neue Neid- und Hass­kul­tur‘ gegen ande­re Benach­tei­lig­te, die dem xeno­pho­ben Schub zugrun­de liegt. Wie bei Lacan die Gefäng­nis­wär­ter über­flüs­sig wer­den, wenn der Delin­quent sich selbst bewacht, so wird die Armut ein Knüp­pel, der das frem­de Unglück erschla­gen soll. Drängt sich mir manch­mal auf.

Neben ihrer Arbeit als Schau­spie­le­rin arbei­tet Chri­sti­ne Sohn auch als Regis­seu­rin und Autorin. Und gibt Deutsch­kur­se für Flüchtlinge.