Armut – ist das ein Thema mit neuen Nuancen, Aspekten, Perspektiven? Oder ist es immer dieselbe alte Scheiße, mit der man sich nicht befassen möchte, weil sie einen hilflos macht, egal ob man betroffen ist oder sie sich anschaut.
Solange sie ein flächendeckendes Phänomen ist, wirkt sie wie eine Naturkatastrophe, weil dann halt alle im gleichen Dreck sitzen und einer die Probleme des andern kennt. Wenn alle unter sich bleiben, gibt’s kein großes Aufsehen damit. Heruntergekommene, Kranke, Verwahrloste teilen sich ein fleckiges Dasein und wenn jemand selber stinkt, leidet er nicht sehr unter dem Gestank von anderen – buchstäblich, aber auch bildlich gesehen. Erst wenn die Armut mit ihrem Gefolge in die Territorien des Wohlstands einbricht, wird sie ungemütlich. Auch das in beiden Fällen, ob ich betroffen bin oder nicht.
Bei mir selber angefangen: in den Phasen von Armut/Armutsproblemen, die ich im Zusammenhang mit meiner selbstverschuldeten Insolvenz erlebt habe, war ich überrascht, wie deutlich man mir das anmerkte. immerhin hatte ich noch dieselben Kleider wie früher an. Zum Friseur bin ich sowieso nie gegangen. Meine selbstgestopften Zigaretten waren in einem schicken Etui. Trotzdem ist anders mit mir umgegangen worden. Ich muss also meine Armut vor mir hergetragen haben. Auch die Kunst des Schuldenmachens konnte das nur unwesentlich abmildern. Allerdings habe ich auch einen Lernprozess erlebt und mir eine wachsende Kaltblütigkeit zugelegt, die aber immer wieder bröckelte. Gleichzeitig ist das Erlebnis von Armut ein unersetzlicher Indikator für die Charaktere, mit denen man es zu tun hat: wenn du arm bist, lernst du die Leute anders kennen – besser, wie ich meine. Wahrscheinlich ist es mit Krankheiten nicht viel anders. Muss man alles mal mitgemacht haben. Für den Fall, dass man diese Dinge wissen will.
In den letzten zwanzig Jahren hat die Sozialdemokratie zusammen mit den Grünen, wie wir alle wissen, eine neue Qualität des armen Lebens hervorgebracht; es wurde mit Schuldgefühlen aufgeladen, Schuld für das eigene Leben halt, jeder ist seines Glückes Schmied, und wer es nicht schafft, sich dauerhaft auf dem Glücksdampfer Konsum heimisch zu machen, der schuldet den anderen, den Glücksdampfer-Bewohnern, sich quasi abzuschaffen, indem er sein Selbstwertgefühl den Hasen gibt, sich in eine Dauerschleife des Bewerbens, also Bettelns um Anerkennung begibt etc.
Armut soll nicht mehr bedeuten, dass jemand nur materielle Not erlebt, sondern auch, dass er sich fast tagtäglich selbst beweist, dass er es nicht besser verdient hat. Er/sie, sorry.
Damals wurde in Duisburg ein kleines Arrangement von Hecken entfernt, an dem sich verarmte Industrie-Klientel mit Dosenbieren vom Büdchen getroffen hat. Nun konnten sie sich nicht mehr dort treffen und in meiner Fantasie haben sie nur noch allein in ihren eigenen Buden getrunken. Zur gleichen Zeit verschwanden auf der Kö (ja, so was gibt’s nicht nur in Düsseldorf) die besseren Geschäfte zugunsten von EinEuroLäden, aus denen dieser Gestank entweicht, der jede Schilderung von Plastikmüll obsolet macht. Wo die armen Leute sich mit Sachen eindecken können, die außer stinken nicht viel tun. Gleichzeitig begannen die Sperrmüllhalden vor den geräumten Wohnungen zu wuchern, zu quellen, zu platzen, dass es eine Seuche war. Auf den regelmäßigen ›Volks‹festen bestimmten die kranken Passanten das Bild: Schwergewichtige, Asthma-Kandidaten, mit Perücken ihre Chemotherapie kaschierende Leute – alle mit dem verbissenen Wunsch, am allgemeinen Feiern teilzunehmen.
Den todesmutigen Flüchtlingen sind solche Bilder von Menschen im gelobten Sozialstaat nicht gezeigt worden. Ich werde immer wieder fassungslos gefragt von meinen Kurs-Teilnehmern, denen ich Deutsch beibringen soll: Warum gibt’s hier sowas? Dass bei ihnen zu Hause Leute auf der Straße verfaulen, ist ihnen geläufig. Aber hier?
In Berlin herrscht tendenziell eher stadtteilorientiertes Leben; jeder bleibt in seinem Kiez, man ist unter sich. Die Armen erhalten Platzverweise von den guten Bürgern. Nicht wie in Caracas, wo Straßenkinder vor den Juwelierläden auf der Flaniermeile betteln. Aber die Berliner Ringbahn durchläuft unterschiedliche Territorien und dementsprechend merkt man an der Anzahl und der Qualität der Schnorrer, wo man gerade langfährt. Die gut aufgestellten Verkäufer von Straßen-Magazinen wechseln mit völlig desolaten und verstörten Hilfesuchenden, die man (ich) auch ohne Abstandsregeln nicht an sich heranlassen möchte. Jetzt auch noch das leidige Virus, die neue Straßenverkehrsordnung. Jeder fragt sich, wie die »Hintengebliebenen« das wohl schaffen. Einige sind immerhin sichtbar. Meine Vermutung geht aber dahin, dass die Armen immer unsichtbarer werden. In außereuropäischen Ländern habe ich immer viele arme Menschen auf den Straßen der Städte gesehen, ach, was sag ich: Auch in Süditalien, auch im Balkan: wenn die Menschen Sorgen haben, dann suchen sie dort bei den anderen Ablenkung, vielleicht Hilfe, vielleicht Trost. Hierzulande versteckt man sich meist mit dieser Art von Wunden. Man vereinsamt sich. Man schämt sich eben. Mir kommt immer wieder der schreckliche Gedanke, dass genau damit der Vorschub geleistet wird für die neue Neid- und Hasskultur‘ gegen andere Benachteiligte, die dem xenophoben Schub zugrunde liegt. Wie bei Lacan die Gefängniswärter überflüssig werden, wenn der Delinquent sich selbst bewacht, so wird die Armut ein Knüppel, der das fremde Unglück erschlagen soll. Drängt sich mir manchmal auf.
Neben ihrer Arbeit als Schauspielerin arbeitet Christine Sohn auch als Regisseurin und Autorin. Und gibt Deutschkurse für Flüchtlinge.