Mit großen Schritten nähern wir uns dem 9. November. Das Datum hat in der deutschen Geschichte bereits mehrfach eine besondere Rolle gespielt. In diesem Jahr werden sich die Geister vermutlich scheiden: Während die einen sich nachdenklich an die Reichspogromnacht 1938 erinnern werden, begehen andere wahrscheinlich mit übergroßem Jubel den 30. Jahrestag der Öffnung der Staatsgrenze der DDR zur Bundesrepublik. Wieder andere ziehen vermutlich Bilanz, was ihnen die zurückliegenden Jahrzehnte seit 1989 persönlich gebracht haben. Unter ihnen wird auch der eine oder andere sein, der spätestens dann die Dinge nüchterner betrachtet und nicht nur Anlass zu überschäumender Freude hat.
Mit der Öffnung der Staatsgrenze verbanden sich zunächst in keiner Weise Überlegungen, dass die DDR ein knappes Jahr später dem Geltungsbereich des Grundgesetzes beitreten würde. Erst einmal waren die Wünsche und Erwartungen doch ganz andere, auch in Bezug auf die weitere Gestaltung der Gesellschaft innerhalb der DDR und die Verbesserung der Situation in den verschiedensten Bereichen. Und auch als der Anschluss am 3. Oktober 1990 vollzogen war, gab es genügend Mitmenschen, die damit zunächst ausschließlich positive Erwartungen verbanden, auch weil es ihnen durch die maßgeblichen Politiker jener Tage, allen voran Helmut Kohl von der CDU, so vermittelt wurde. Die Enttäuschung kam erst später. Für nicht wenige war sie vor allem mit dem Verlust des Arbeitsplatzes und der damit einhergehenden sozialen Unsicherheit verbunden. Massenentlassungen waren 1991/92 im Osten Deutschlands an der Tagesordnung. Die noch durch Rechtsvorschrift der Volkskammer im März 1990 gebildete Treuhandanstalt leistete ihren Beitrag dazu. Die neugewonnenen Möglichkeiten des öffentlichen Protestes gegen diese Entwicklungen erwiesen sich in den meisten Fällen als folgenlos. Man konnte für oder gegen alles Mögliche demonstrieren, nur die Wirkung war in der Regel verhalten. Auch die gegen viele Kündigungen geführten Arbeitsrechtsprozesse erwiesen sich oftmals nicht als zufriedenstellende Lösung, da letztlich der verlorengegangene Arbeitsplatz nicht wieder erklagt werden konnte. Der eine oder andere Abfindungsbetrag wurde stattdessen gezahlt, konnte aber immer nur für eine kurze Zeit eine Überbrückung darstellen. In manchen Tarifverträgen oder anderen Vereinbarungen waren solche Abfindungen vorgesehen und wurden oft auch ohne gerichtliche Auseinandersetzung gezahlt. Aber dies führt zu keiner anderen Bewertung. Hinzu kam, dass die Ostdeutschen, die man noch bei der Öffnung der Staatsgrenze am 9. November 1989 als »Brüder und Schwestern« tituliert hatte, nicht selten im Westen Deutschlands als unbequem empfunden wurden, weil sie sich über ihr mitunter nicht gerade angenehmes Schicksal beklagten. So entstand der Begriff von den »Jammer-Ossis«.
Interesse am östlichen Teil des neu gebildeten »Vaterlandes« bestand im geographisch entgegengesetzten Teil oft nur, wenn es um die Erschließung von Absatzmärkten oder das Einrichten einer »verlängerten Werkbank« ging. Dabei machte man sich gezielt zu Nutze, dass die Löhne und Gehälter im Osten deutlich geringer waren, was gern damit begründet wurde, dass die Lebenshaltungskosten dort auch deutlich niedriger seien. In Bezug auf den Kauf von Lebensmitteln und anderen Waren des täglichen Bedarfs traf dies überhaupt nicht zu. Auch bei den Mieten wurde sukzessive eine Anpassung nach oben vorgenommen. Bis heute haben wir diese Form der Diskriminierung, die letztlich auch Auswirkungen auf das Rentensystem hat, nicht vollständig überwunden.
Die Jahre vergingen, und der ehemals in der DDR lebende Teil der Bevölkerung versuchte, sich nach besten Kräften den neuen Gegebenheiten anzupassen und auch Fuß zu fassen. Eine andere Alternative war auch nicht in Sicht. Das bedeutete allerdings keineswegs, dass nicht doch ein kleinerer Teil davon sich weiterhin für eine Verbesserung der in Ostdeutschland herrschenden Verhältnisse einsetzte. Die Ergebnisse waren leider eher mäßig.
Auch heute ergeben Umfragen, dass noch immer etwa ein Fünftel der in Westdeutschland lebenden Bevölkerung noch nie den Osten besucht hat und auch keinen Hehl daraus macht, sich nicht dafür zu interessieren. Selbst Adenauer wurde einst nachgesagt, dass für ihn dort irgendwo schon Sibirien begonnen habe. So wurde es schwer mit der wechselseitigen Annäherung, und Unterschiede bleiben bis heute. Mancher hatte angenommen, innerhalb von 30 Jahren »verwächst« sich das. Heute stellen wir fest, dass dem nicht so ist, und Historiker, Soziologen und manch andere Wissenschaftler suchen nach den Ursachen. Das von Willy Brandt einst beschworene Zusammenwachsen dessen, was zusammen gehöre, war eben doch leichter gesagt als dann vollzogen. So müssen wir heute feststellen, dass Ostdeutsche selten in Führungspositionen bei Ministerien, höheren Bundesbehörden, aber auch großen Wirtschaftsunternehmen gelangen. Aus einer aktuellen Antwort des Bundesinnenministeriums an den Bundestagsabgeordneten Höhn ergibt sich, dass von 1750 Referatsleitern in Bundesministerien und im Kanzleramt nur 217 aus Ostdeutschland stammen. Bei den Abteilungsleitern in den Ministerien sind es nur drei von 121. Nach einer Studie der Universität Leipzig für die Jahre 2015/16, die die Bereiche Politik, Unternehmensvorstände, Wissenschaft, Medien (Chefredakteure), Justiz (Richter) und Bundeswehr (Generäle) erfasst, beträgt der Anteil der Ostdeutschen nur 23 Prozent. Berlin blieb dabei unberücksichtigt. Die Untersuchung von 100 der größten ostdeutschen Unternehmen ergab, dass nur etwa ein Drittel aller Stellen von Ostdeutschen besetzt ist, bei den 19 Rektoren ostdeutscher Hochschulen sind es lediglich drei, von 60 Staatssekretären stammen ebenfalls nur drei aus Ostdeutschland. Dies, obgleich inzwischen eine Generation heranwuchs, die die DDR aus eigenem Erleben kaum noch kennt und insofern auch nicht von den dortigen Lebensumständen »indoktriniert« sein kann, was wohl einer der stärksten Vorbehalte nach 1990 in Bezug auf die Beschäftigung Ostdeutscher in solchen Positionen war. Man fragt sich besorgt, was ist es dann, wenn man es nicht mehr auf eine sozialistisch ausgerichtete Ausbildung schieben kann? Eine schlüssige Antwort darauf hat mir bisher noch niemand geben können. Dennoch müssen wir die Realitäten zur Kenntnis nehmen.
Leider haben auch etablierte Intellektuelle aus dem Westen dazu beigetragen, den Menschen im östlichen Teil der neuen BRD das Gefühl zu vermitteln, sie seien wenig wert und Menschen zweiter Klasse. Noch immer steht für mich geradezu symptomatisch die Äußerung des Anfang März verstorbenen Historikers und Juristen Arnulf Baring (1932 – 2019), der 1991 in einem Gespräch mit dem Verleger Wolf Jobst Siedler bezogen auf die DDR sagte: »Das Regime hat fast ein halbes Jahrhundert die Menschen verzwergt, ihre Bildung verhunzt. Jeder sollte nur noch ein hirnloses Rädchen im Getriebe sein, ein willenloser Gehilfe. Ob sich dort heute einer Jurist nennt oder Ökonom, Pädagoge, Psychologe, Soziologe, selbst Arzt oder Ingenieur, das ist völlig egal. Sein Wissen ist auf weiten Strecken völlig unbrauchbar. […] viele Menschen sind wegen ihrer fehlenden Fachkenntnisse nicht weiter verwendbar. Sie haben einfach nichts gelernt, was sie in eine freie Marktgesellschaft einbringen könnten.« Die Ungeheuerlichkeit, die in dieser arroganten Bemerkung steckt, macht deutlich, mit welchem Blick der eine oder andere aus der geistigen Elite der BRD auf die Intellektuellen der früheren DDR blickte. Bis heute bleibt mir unerklärlich, woher solche Menschen die Berechtigung nahmen, derartige Werturteile zu fällen. Deutlicher konnte man eigentlich nicht zum Ausdruck bringen, dass man die Bürger aus der DDR nicht braucht beziehungsweise nicht für verwendungsfähig hält. Auch von Seiten der bundesdeutschen Politik wurde nahezu nichts als erhaltenswert betrachtet.
Wie Gregor Gysi zu Recht feststellte, wurde beim Beitritt der DDR an der Symbolik der alten Bundesrepublik nichts geändert, weder die Fahne, noch die Staatsbezeichnung, die Nationalhymne oder das Emblem. Hätte man auch nur eines davon verändert, wäre auch den Menschen in der früheren DDR ein anderes Gefühl der »Aufnahme« in dem neuen Staat gegeben worden. Eine gemeinsame Verfassung hätte eine besondere Wirkung entfalten können.
Die BRD selbst hat nie aufgehört, über die DDR zu siegen, auch zu Zeiten, wo es dazu aus deren Sicht nicht die geringste Notwendigkeit mehr gab. Der Rechtsmediziner nennt es wohl »Overkill«, wenn einer Leiche weiterhin todbringende Verletzungen zugefügt werden, obgleich das gewünschte Ergebnis doch schon längst erzielt wurde. Mit Blick darauf, wie die DDR in manchen Spielfilmen und Dokumentationen heute dargestellt wird, ist dieser Prozess noch nicht beendet. Viele nachteilige Thesen und Vorurteile, die mit wissenschaftlichen Mitteln nicht zu belegen waren, werden nunmehr geschickt in Kriminalstücke oder Fernsehfilme über Alltagsprobleme eingebaut. Dort ist man nicht an Tatsachenfeststellungen gebunden und kann der Fiktion freien Lauf lassen. Auf diese Weise wird bei einem Teil der Zuschauer doch noch bewirkt, dass solche Behauptungen sich als scheinbare Wahrheiten einprägen. Auch so kann man Geschichtsbilder erzeugen, in Anlehnung an den Ausspruch, der Napoleon III. zugeschrieben wird: »Geschichte ist die Summe der Lügen, auf die sich die Gesellschaft nach 30 Jahren geeinigt hat!«