Es begab sich zu der Zeit, als unter dem Eindruck der Gräuel des Faschismus und des Krieges eine Vision für die Zukunft entstand. 1848 waren die Revolutionäre an Uneinigkeit und der Macht der Fürsten, in Weimar war der demokratische Aufbruch an zu vielen widerstreitenden Interessen gescheitert, aber jetzt wurde das demokratische Versprechen eingelöst: »Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden. (…) Inhalt und Ziel dieser sozialen und wirtschaftlichen Neuordnung kann nicht mehr das kapitalistische Gewinn- und Machtstreben, sondern nur das Wohlergehen unseres Volkes sein. Durch eine gemeinwirtschaftliche Ordnung soll das deutsche Volk eine Wirtschafts- und Sozialverfassung erhalten, die dem Recht und der Würde des Menschen entspricht, dem geistigen und materiellen Aufbau unseres Volkes dient und den inneren und äußeren Frieden sichert.«
Der Boden für ein neugeordnetes gesellschaftliches Gelände war bereitet. Dem Staat, der in ihm seine Fundamente verankerte, wurde das Ahlener Programm der CDU Auftrag und Maßstab. SPD und KPD – für die der antikapitalistische Ansatz ein »Heimspiel« war –, begruben ihre Scharmützel als arbeiterbewegte Parteien vom Beginn des Jahrhunderts, um gemeinsam eine friedliche, gerechte und freiheitliche Gesellschaft zu schaffen. Der Parlamentarische Rat legte am 23. Mai 1949 seinen Entwurf für eine neue Verfassung vor, aus dem einige Paragrafen als Wegweiser in ein neues Kapitel deutscher Geschichte hervorragten: § 1 fixierte die Würde jedes Menschen als politischen Auftrag, die §§ 14 und 15 machten das Gemeinwohl zur gesellschaftlichen Handlungsgrundlage, und die Präambel und die Paragrafen 1, 9, 20, 23, 24, 25, 26 sollten Frieden für alle Zukunft sichern. Die Grundlage für eine von tiefer demokratischer Überzeugung geprägten Gesellschaft war geschaffen.
Kompromisslos wurden alle gesellschaftlichen Bereiche und Institutionen vom Einfluss ehemaliger Nazis gesäubert. Die Lehren aus dem Scheitern der Weimarer Republik waren Schlüssel zum Tor des epochalen Neubeginns: Mit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland ergänzte ein Rätesystem die repräsentative Demokratie, das die gewählten parlamentarischen Vertreter/innen sachlich und praktisch unterstützte, sie aber auch engmaschiger Kontrolle unterwarf. Ein kluger strategischer Schachzug des Parlamentarischen Rates stärkte dieses basisdemokratische Konzept: Er schloss grundsätzlich aus, dass die politische Vertretung anderer Menschen zum Beruf werden konnte, und legte fest, dass in der Regel jemand diese Aufgabe für eine Legislaturperiode, in streng definierten Ausnahmefällen für zwei Perioden übernehmen durfte. Sowohl die Räte als auch die zeitliche Begrenzung von Mandaten verhinderten wirksam, einen politischen Auftrag als Machtinstrument zu missbrauchen. Der Einfluss von Lobbyisten als Vertreter/innen egoistischer Gruppeninteressen wurde gesetzlich unterbunden. Volks-Vertreter/innen waren, was ihre Bezeichnung gebot, wer Verantwortung in der Regierung übernahm, wusste sich dem Verfassungsauftrag verpflichtet.
Deutschland entwickelte sich zu einem Gemeinwesen, das allen Menschen ein menschenwürdiges Leben ermöglichte. Die meisten von ihnen nahmen die Herausforderungen der Nachkriegszeit unter diesen Voraussetzungen aktiv an, das sogenannte Wirtschaftswunder beflügelte die Praxis des Gemeinwohls: Nicht Profit für wenige, sondern auskömmliche und mitbestimmende Beteiligung für alle, die als Arbeiter/innen und Angestellte an Maschinen, Fließbändern und in Büros oder in leitenden Positionen tätig waren, erwies sich als ein kollektiver Antrieb für wirtschaftlichen Erfolg. Politik und Verwaltung waren nur mehr koordinierend tätig, um die Verteilung des gemeinsam erarbeiteten Mehrwerts gerecht zu gestalten. Sie stellten sicher, dass jeder Mensch ein gutes Leben führen konnte und jedem Kind ein hoffnungsvoller Weg in Bildung und Ausbildung offenstand. Armut wurde zum Fremdwort in einer Gesellschaft, in der materieller Wohlstand, kulturelle Teilhabe, offene Bildungswege für alle und solidarisches Miteinander fraglos waren. Die Höhe der Renten bemaß sich an den Bedürfnissen älter werdender Menschen, nicht nur materiell, sondern auch kulturell und sozial am gesellschaftlichen Leben teilnehmen zu können. Niemand hatte einsehbare Gründe, Reichtum anzuhäufen, Einkommenssteuern bis zu 90 Prozent schöpften zudem ab, was zu bizarrer und obszöner Ungleichheit hätte führen können. Wer dennoch etwas zu vererben hatte, speiste aufgehäufte Werte in das soziale Vermögen ein, das allen gehört.
»Der Staat« verlor als Instanz, die existenzielle Sicherheit und Fürsorge garantierte, das Bedrohliche und Paternalistische, das er für viele Menschen jahrhundertelang gehabt hatte. Weil er für alle Bürger/innen zuständig war und diese für ihn, wurde das Beamtentum als anachronistisches Dienstleistungsgewerbe abgeschafft. Im Gesundheitssystem, das durch eine Bürgerversicherung und durch staatliche Zuwendungen aus Steuermitteln finanziert wurde, versorgten Ärzte und Ärztinnen, unterstützt von anderen Gesundheitsarbeiter/innen, ihrem hippokratischen Eid folgend, als Angestellte des Staates nicht nur jeden kranken Menschen optimal, sondern vermittelten präventives Wissen über Ernährung, Bewegung, Stressvermeidung und -abbau und toxische Risiken. Die Pharmaindustrie wurde, weil ihre Produkte für die Linderung oder Beseitigung von Leiden lebenswichtig sind, staatlicher Kontrolle unterstellt, damit jede Krankheit hinreichend und kostengünstig medikamentös behandelt werden konnte. Gesellschaftsweite Debatten bestimmten Berufe als besonders systemrelevant, die sich um Junge und Alte, Schwache und Gebrechliche kümmerten und für die Zukunft aller Menschen wichtige Aufgaben erfüllten: Die Leistungen von Erzieher*innen, Altenpfleger*innen, Lehrer*innen, Krankenschwestern und Pflegern und anderen, etwa Beschäftigten der Müllabfuhr, wurden nicht nur verbal gewürdigt, sondern ihren täglichen Anstrengungen entsprechend angemessen entlohnt. Neo-liberale Deregulierung und Privatisierung staatlicher Fürsorge, aber auch Wohlstandssicherung durch kolonialistische und rassistische Ausbeutung wurden als gewaltförmige Übergriffe auf Menschen und Völker geächtet.
Dem Ansinnen der Westalliierten, wieder eine deutsche Armee aufzustellen, der Nato beizutreten und sich am Kalten Krieg durch klare Orientierung nach Westen zu beteiligen, erteilte die neue Bundesregierung eine klare Absage, vielmehr drang sie auf ein Ende des Besatzungsregimes durch Schließung aller Garnisonen und Abzug aller Truppen. Zu einem besonderen Anliegen erklärte der neue deutsche Staat die moralische Abgeltung der Schuld gegenüber dem jüdischen und dem russischen Volk, friedliche Beziehungen zu Israel und zur Sowjetunion wurden deutsche Staatsräson.
In den folgenden Jahrzehnten gedieh Deutschland zu einer weltweit geachteten Friedensmacht: Den Krieg in Vietnam und Kambodscha verurteilte die Regierung scharf und bezichtigte die USA offiziell des Völkermords, sie prangerte die Invasionen in Irak, Libyen, Syrien, Ägypten, Tunesien, im Jemen als Brüche des Völkerrechts an. Gegen den Nato-Überfall auf Jugoslawien startete sie eine weltweite Friedensinitiative. Den am 22. Januar 2021 verabschiedeten Atomwaffenverbotsvertrag unterzeichnete und ratifizierte Deutschland als einer der ersten Staaten. Das friedliche Deutschland wurde zum Vorbild für eine friedliche Welt, was seine Regierung und sein Parlament im Jahre 2022 überzeugend demonstrierten: Noch im März 2022 reiste der deutsche Bundeskanzler als Friedensbotschafter aller Menschen nach Moskau. Er überzeugte den russischen Präsidenten Putin mit Verweis auf die historische Verpflichtung beider Länder, das Gebot »nie wieder Krieg« als Vermächtnis von dreißig Millionen russischer und von Millionen deutscher Kriegsopfer zur unverrückbaren Handlungsmaxime zu machen und den Krieg gegen die Ukraine zu beenden.
Im November 1983 legte der Ausschuss für Forschung und Technologie des Bundestages eine »Studie über die Auswirkungen von Kohlendioxidemissionen auf das Klima« vor, die definitiv nachwies, dass die wohlstandsorientierte Lebensweise auch in Deutschland in einen für die Menschheit gefährlichen Klimawandelt führt. Nicht nur parlamentarische, sondern breite öffentliche Diskussionen verpflichteten Warenproduzenten, für jede von ihnen hergestellte und vertriebene Ware nachzuweisen, dass sie weder gesundheitsgefährdend noch klimaschädlich ist. Produktionsprozesse wurden klimafreundlich verändert, der öffentliche Nah- und Fernverkehr flächendeckend ausgebaut, noch benötigter Individualverkehr landesweit auf ein Leihsystem umgestellt. Individuelle Freiheit erhielt eine neue Bedeutung: frei sein vom Zwang, einen viel zu großen Teil der Lebenszeit einem viel zu selten genutzten und zu viele Schadstoffe ausstoßenden Gefährt zu opfern. Von einem breiten gesellschaftlichen Konsens getragen, setzte die deutsche Regierung im Jahre 1988 in der UNO durch, dass neben dem Weltklimarat IPCC der Weltsozialrat IPSC (Intergouvernemental Panel of Social Change) gegründet und Weltbank und IWF abgeschafft wurden, in der Gewissheit, dass Klimaschutz und gutes Leben für alle Menschen nicht unabhängig voneinander sind.
Den Plan des sowjetischen Außenministers Molotow zur Wiedervereinigung beider deutscher Staaten im Jahre 1954 hatte die deutsche Regierung nachdrücklich begrüßt, als sie 35 Jahre später endlich verwirklicht werden konnte, erhielt die gesellschaftliche Dynamik einen weiteren Schub »nach vorne«. Runde Tische mit Menschen aus West und Ost erarbeiteten eine neue Verfassung: Die Maximen des Ahlener Programms mündeten, unterfüttert mit sozialistischen Ideen und Erfahrungen, im Projekt eines demokratischen Sozialismus, der nach und nach verwirklicht werden konnte. Gewählte Schlichtungsräte sorgten für Interessenausgleich, wenn das Zusammenleben der Menschen nicht konfliktfrei ablief. Die von Wertschätzung für jeden Menschen getragenen Lebensverhältnisse, das friedliche Wirken nach innen und nach außen, lieferten entscheidende Impulse für eine europäische Gemeinschaft, in der sich dieses hoffnungsfrohe Modell durchsetzte: Alle europäischen Staaten schufen gerechte soziale Standards und gemeinwohlorientierte ökonomische Strukturen, begünstigt durch die Umwandlung der rüstungsindustriellen Bereiche in solche, die zum friedlichen Miteinander und Wohlergehen aller Menschen beitragen – in Deutschland schon in den sechziger Jahren umgesetzt.
Empirische Zufriedenheitsforschung fand kürzlich heraus, dass die Menschen im Deutschland der Nachkriegszeit ihre individuellen, sozialen und gesellschaftlichen Lebensumstände durchweg positiv beurteilen. Ein überraschendes Ergebnis dieser Umfragen war, dass nicht vor allem das Freisein von materiellen Sorgen oder das vom ersten bis zum letzten Lebenstag sichere Netz der Für- und Vorsorge die Meinungen und Empfindungen prägten, sondern die Möglichkeiten, sich in die Gestaltung ihrer engeren, aber auch der weiteren Lebensverhältnisse einzumischen, sich nicht abgehängt, sondern mit ihren individuellen Interessen und Bedürfnissen gewürdigt zu erleben.
Und wenn sie nicht gestorben sind, durch Kriege gegeneinander und gegen die Natur, werden nicht nur die Menschen in Deutschland, sondern die Bewohner/innen aller Kontinente das Märchen wirklich werden lassen.