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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Ein deutsches Märchen

Es begab sich zu der Zeit, als unter dem Ein­druck der Gräu­el des Faschis­mus und des Krie­ges eine Visi­on für die Zukunft ent­stand. 1848 waren die Revo­lu­tio­nä­re an Unei­nig­keit und der Macht der Für­sten, in Wei­mar war der demo­kra­ti­sche Auf­bruch an zu vie­len wider­strei­ten­den Inter­es­sen geschei­tert, aber jetzt wur­de das demo­kra­ti­sche Ver­spre­chen ein­ge­löst: »Das kapi­ta­li­sti­sche Wirt­schafts­sy­stem ist den staat­li­chen und sozia­len Lebens­in­ter­es­sen des deut­schen Vol­kes nicht gerecht gewor­den. (…) Inhalt und Ziel die­ser sozia­len und wirt­schaft­li­chen Neu­ord­nung kann nicht mehr das kapi­ta­li­sti­sche Gewinn- und Macht­stre­ben, son­dern nur das Wohl­erge­hen unse­res Vol­kes sein. Durch eine gemein­wirt­schaft­li­che Ord­nung soll das deut­sche Volk eine Wirt­schafts- und Sozi­al­ver­fas­sung erhal­ten, die dem Recht und der Wür­de des Men­schen ent­spricht, dem gei­sti­gen und mate­ri­el­len Auf­bau unse­res Vol­kes dient und den inne­ren und äuße­ren Frie­den sichert.«

Der Boden für ein neu­ge­ord­ne­tes gesell­schaft­li­ches Gelän­de war berei­tet. Dem Staat, der in ihm sei­ne Fun­da­men­te ver­an­ker­te, wur­de das Ahle­ner Pro­gramm der CDU Auf­trag und Maß­stab. SPD und KPD – für die der anti­ka­pi­ta­li­sti­sche Ansatz ein »Heim­spiel« war –, begru­ben ihre Schar­müt­zel als arbei­ter­be­weg­te Par­tei­en vom Beginn des Jahr­hun­derts, um gemein­sam eine fried­li­che, gerech­te und frei­heit­li­che Gesell­schaft zu schaf­fen. Der Par­la­men­ta­ri­sche Rat leg­te am 23. Mai 1949 sei­nen Ent­wurf für eine neue Ver­fas­sung vor, aus dem eini­ge Para­gra­fen als Weg­wei­ser in ein neu­es Kapi­tel deut­scher Geschich­te her­vor­rag­ten: § 1 fixier­te die Wür­de jedes Men­schen als poli­ti­schen Auf­trag, die §§ 14 und 15 mach­ten das Gemein­wohl zur gesell­schaft­li­chen Hand­lungs­grund­la­ge, und die Prä­am­bel und die Para­gra­fen 1, 9, 20, 23, 24, 25, 26 soll­ten Frie­den für alle Zukunft sichern. Die Grund­la­ge für eine von tie­fer demo­kra­ti­scher Über­zeu­gung gepräg­ten Gesell­schaft war geschaffen.

Kom­pro­miss­los wur­den alle gesell­schaft­li­chen Berei­che und Insti­tu­tio­nen vom Ein­fluss ehe­ma­li­ger Nazis gesäu­bert. Die Leh­ren aus dem Schei­tern der Wei­ma­rer Repu­blik waren Schlüs­sel zum Tor des epo­cha­len Neu­be­ginns: Mit der Grün­dung der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land ergänz­te ein Räte­sy­stem die reprä­sen­ta­ti­ve Demo­kra­tie, das die gewähl­ten par­la­men­ta­ri­schen Vertreter/​innen sach­lich und prak­tisch unter­stütz­te, sie aber auch eng­ma­schi­ger Kon­trol­le unter­warf. Ein klu­ger stra­te­gi­scher Schach­zug des Par­la­men­ta­ri­schen Rates stärk­te die­ses basis­de­mo­kra­ti­sche Kon­zept: Er schloss grund­sätz­lich aus, dass die poli­ti­sche Ver­tre­tung ande­rer Men­schen zum Beruf wer­den konn­te, und leg­te fest, dass in der Regel jemand die­se Auf­ga­be für eine Legis­la­tur­pe­ri­ode, in streng defi­nier­ten Aus­nah­me­fäl­len für zwei Peri­oden über­neh­men durf­te. Sowohl die Räte als auch die zeit­li­che Begren­zung von Man­da­ten ver­hin­der­ten wirk­sam, einen poli­ti­schen Auf­trag als Macht­in­stru­ment zu miss­brau­chen. Der Ein­fluss von Lob­by­isten als Vertreter/​innen ego­isti­scher Grup­pen­in­ter­es­sen wur­de gesetz­lich unter­bun­den. Volks-Ver­tre­ter/in­nen waren, was ihre Bezeich­nung gebot, wer Ver­ant­wor­tung in der Regie­rung über­nahm, wuss­te sich dem Ver­fas­sungs­auf­trag verpflichtet.

Deutsch­land ent­wickel­te sich zu einem Gemein­we­sen, das allen Men­schen ein men­schen­wür­di­ges Leben ermög­lich­te. Die mei­sten von ihnen nah­men die Her­aus­for­de­run­gen der Nach­kriegs­zeit unter die­sen Vor­aus­set­zun­gen aktiv an, das soge­nann­te Wirt­schafts­wun­der beflü­gel­te die Pra­xis des Gemein­wohls: Nicht Pro­fit für weni­ge, son­dern aus­kömm­li­che und mit­be­stim­men­de Betei­li­gung für alle, die als Arbeiter/​innen und Ange­stell­te an Maschi­nen, Fließ­bän­dern und in Büros oder in lei­ten­den Posi­tio­nen tätig waren, erwies sich als ein kol­lek­ti­ver Antrieb für wirt­schaft­li­chen Erfolg. Poli­tik und Ver­wal­tung waren nur mehr koor­di­nie­rend tätig, um die Ver­tei­lung des gemein­sam erar­bei­te­ten Mehr­werts gerecht zu gestal­ten. Sie stell­ten sicher, dass jeder Mensch ein gutes Leben füh­ren konn­te und jedem Kind ein hoff­nungs­vol­ler Weg in Bil­dung und Aus­bil­dung offen­stand. Armut wur­de zum Fremd­wort in einer Gesell­schaft, in der mate­ri­el­ler Wohl­stand, kul­tu­rel­le Teil­ha­be, offe­ne Bil­dungs­we­ge für alle und soli­da­ri­sches Mit­ein­an­der frag­los waren. Die Höhe der Ren­ten bemaß sich an den Bedürf­nis­sen älter wer­den­der Men­schen, nicht nur mate­ri­ell, son­dern auch kul­tu­rell und sozi­al am gesell­schaft­li­chen Leben teil­neh­men zu kön­nen. Nie­mand hat­te ein­seh­ba­re Grün­de, Reich­tum anzu­häu­fen, Ein­kom­mens­steu­ern bis zu 90 Pro­zent schöpf­ten zudem ab, was zu bizar­rer und obszö­ner Ungleich­heit hät­te füh­ren kön­nen. Wer den­noch etwas zu ver­er­ben hat­te, spei­ste auf­ge­häuf­te Wer­te in das sozia­le Ver­mö­gen ein, das allen gehört.

»Der Staat« ver­lor als Instanz, die exi­sten­zi­el­le Sicher­heit und Für­sor­ge garan­tier­te, das Bedroh­li­che und Pater­na­li­sti­sche, das er für vie­le Men­schen jahr­hun­der­te­lang gehabt hat­te. Weil er für alle Bürger/​innen zustän­dig war und die­se für ihn, wur­de das Beam­ten­tum als ana­chro­ni­sti­sches Dienst­lei­stungs­ge­wer­be abge­schafft. Im Gesund­heits­sy­stem, das durch eine Bür­ger­ver­si­che­rung und durch staat­li­che Zuwen­dun­gen aus Steu­er­mit­teln finan­ziert wur­de, ver­sorg­ten Ärz­te und Ärz­tin­nen, unter­stützt von ande­ren Gesundheitsarbeiter/​innen, ihrem hip­po­kra­ti­schen Eid fol­gend, als Ange­stell­te des Staa­tes nicht nur jeden kran­ken Men­schen opti­mal, son­dern ver­mit­tel­ten prä­ven­ti­ves Wis­sen über Ernäh­rung, Bewe­gung, Stress­ver­mei­dung und -abbau und toxi­sche Risi­ken. Die Phar­ma­in­du­strie wur­de, weil ihre Pro­duk­te für die Lin­de­rung oder Besei­ti­gung von Lei­den lebens­wich­tig sind, staat­li­cher Kon­trol­le unter­stellt, damit jede Krank­heit hin­rei­chend und kosten­gün­stig medi­ka­men­tös behan­delt wer­den konn­te. Gesell­schafts­wei­te Debat­ten bestimm­ten Beru­fe als beson­ders system­re­le­vant, die sich um Jun­ge und Alte, Schwa­che und Gebrech­li­che küm­mer­ten und für die Zukunft aller Men­schen wich­ti­ge Auf­ga­ben erfüll­ten: Die Lei­stun­gen von Erzieher*innen, Altenpfleger*innen, Lehrer*innen, Kran­ken­schwe­stern und Pfle­gern und ande­ren, etwa Beschäf­tig­ten der Müll­ab­fuhr, wur­den nicht nur ver­bal gewür­digt, son­dern ihren täg­li­chen Anstren­gun­gen ent­spre­chend ange­mes­sen ent­lohnt. Neo-libe­ra­le Dere­gu­lie­rung und Pri­va­ti­sie­rung staat­li­cher Für­sor­ge, aber auch Wohl­stands­si­che­rung durch kolo­nia­li­sti­sche und ras­si­sti­sche Aus­beu­tung wur­den als gewalt­för­mi­ge Über­grif­fe auf Men­schen und Völ­ker geächtet.

Dem Ansin­nen der West­al­li­ier­ten, wie­der eine deut­sche Armee auf­zu­stel­len, der Nato bei­zu­tre­ten und sich am Kal­ten Krieg durch kla­re Ori­en­tie­rung nach Westen zu betei­li­gen, erteil­te die neue Bun­des­re­gie­rung eine kla­re Absa­ge, viel­mehr drang sie auf ein Ende des Besat­zungs­re­gimes durch Schlie­ßung aller Gar­ni­so­nen und Abzug aller Trup­pen. Zu einem beson­de­ren Anlie­gen erklär­te der neue deut­sche Staat die mora­li­sche Abgel­tung der Schuld gegen­über dem jüdi­schen und dem rus­si­schen Volk, fried­li­che Bezie­hun­gen zu Isra­el und zur Sowjet­uni­on wur­den deut­sche Staatsräson.

In den fol­gen­den Jahr­zehn­ten gedieh Deutsch­land zu einer welt­weit geach­te­ten Frie­dens­macht: Den Krieg in Viet­nam und Kam­bo­dscha ver­ur­teil­te die Regie­rung scharf und bezich­tig­te die USA offi­zi­ell des Völ­ker­mords, sie pran­ger­te die Inva­sio­nen in Irak, Liby­en, Syri­en, Ägyp­ten, Tune­si­en, im Jemen als Brü­che des Völ­ker­rechts an. Gegen den Nato-Über­fall auf Jugo­sla­wi­en star­te­te sie eine welt­wei­te Frie­dens­in­itia­ti­ve. Den am 22. Janu­ar 2021 ver­ab­schie­de­ten Atom­waf­fen­ver­bots­ver­trag unter­zeich­ne­te und rati­fi­zier­te Deutsch­land als einer der ersten Staa­ten. Das fried­li­che Deutsch­land wur­de zum Vor­bild für eine fried­li­che Welt, was sei­ne Regie­rung und sein Par­la­ment im Jah­re 2022 über­zeu­gend demon­strier­ten: Noch im März 2022 rei­ste der deut­sche Bun­des­kanz­ler als Frie­dens­bot­schaf­ter aller Men­schen nach Mos­kau. Er über­zeug­te den rus­si­schen Prä­si­den­ten Putin mit Ver­weis auf die histo­ri­sche Ver­pflich­tung bei­der Län­der, das Gebot »nie wie­der Krieg« als Ver­mächt­nis von drei­ßig Mil­lio­nen rus­si­scher und von Mil­lio­nen deut­scher Kriegs­op­fer zur unver­rück­ba­ren Hand­lungs­ma­xi­me zu machen und den Krieg gegen die Ukrai­ne zu beenden.

Im Novem­ber 1983 leg­te der Aus­schuss für For­schung und Tech­no­lo­gie des Bun­des­ta­ges eine »Stu­die über die Aus­wir­kun­gen von Koh­len­di­oxid­emis­sio­nen auf das Kli­ma« vor, die defi­ni­tiv nach­wies, dass die wohl­stands­ori­en­tier­te Lebens­wei­se auch in Deutsch­land in einen für die Mensch­heit gefähr­li­chen Kli­ma­wan­delt führt. Nicht nur par­la­men­ta­ri­sche, son­dern brei­te öffent­li­che Dis­kus­sio­nen ver­pflich­te­ten Waren­pro­du­zen­ten, für jede von ihnen her­ge­stell­te und ver­trie­be­ne Ware nach­zu­wei­sen, dass sie weder gesund­heits­ge­fähr­dend noch kli­ma­schäd­lich ist. Pro­duk­ti­ons­pro­zes­se wur­den kli­ma­freund­lich ver­än­dert, der öffent­li­che Nah- und Fern­ver­kehr flä­chen­deckend aus­ge­baut, noch benö­tig­ter Indi­vi­du­al­ver­kehr lan­des­weit auf ein Leih­sy­stem umge­stellt. Indi­vi­du­el­le Frei­heit erhielt eine neue Bedeu­tung: frei sein vom Zwang, einen viel zu gro­ßen Teil der Lebens­zeit einem viel zu sel­ten genutz­ten und zu vie­le Schad­stof­fe aus­sto­ßen­den Gefährt zu opfern. Von einem brei­ten gesell­schaft­li­chen Kon­sens getra­gen, setz­te die deut­sche Regie­rung im Jah­re 1988 in der UNO durch, dass neben dem Welt­kli­ma­rat IPCC der Welt­so­zi­al­rat IPSC (Inter­gou­ver­ne­men­tal Panel of Social Chan­ge) gegrün­det und Welt­bank und IWF abge­schafft wur­den, in der Gewiss­heit, dass Kli­ma­schutz und gutes Leben für alle Men­schen nicht unab­hän­gig von­ein­an­der sind.

Den Plan des sowje­ti­schen Außen­mi­ni­sters Molo­tow zur Wie­der­ver­ei­ni­gung bei­der deut­scher Staa­ten im Jah­re 1954 hat­te die deut­sche Regie­rung nach­drück­lich begrüßt, als sie 35 Jah­re spä­ter end­lich ver­wirk­licht wer­den konn­te, erhielt die gesell­schaft­li­che Dyna­mik einen wei­te­ren Schub »nach vor­ne«. Run­de Tische mit Men­schen aus West und Ost erar­bei­te­ten eine neue Ver­fas­sung: Die Maxi­men des Ahle­ner Pro­gramms mün­de­ten, unter­füt­tert mit sozia­li­sti­schen Ideen und Erfah­run­gen, im Pro­jekt eines demo­kra­ti­schen Sozia­lis­mus, der nach und nach ver­wirk­licht wer­den konn­te. Gewähl­te Schlich­tungs­rä­te sorg­ten für Inter­es­sen­aus­gleich, wenn das Zusam­men­le­ben der Men­schen nicht kon­flikt­frei ablief. Die von Wert­schät­zung für jeden Men­schen getra­ge­nen Lebens­ver­hält­nis­se, das fried­li­che Wir­ken nach innen und nach außen, lie­fer­ten ent­schei­den­de Impul­se für eine euro­päi­sche Gemein­schaft, in der sich die­ses hoff­nungs­fro­he Modell durch­setz­te: Alle euro­päi­schen Staa­ten schu­fen gerech­te sozia­le Stan­dards und gemein­wohl­ori­en­tier­te öko­no­mi­sche Struk­tu­ren, begün­stigt durch die Umwand­lung der rüstungs­in­du­stri­el­len Berei­che in sol­che, die zum fried­li­chen Mit­ein­an­der und Wohl­erge­hen aller Men­schen bei­tra­gen – in Deutsch­land schon in den sech­zi­ger Jah­ren umgesetzt.

Empi­ri­sche Zufrie­den­heits­for­schung fand kürz­lich her­aus, dass die Men­schen im Deutsch­land der Nach­kriegs­zeit ihre indi­vi­du­el­len, sozia­len und gesell­schaft­li­chen Lebens­um­stän­de durch­weg posi­tiv beur­tei­len. Ein über­ra­schen­des Ergeb­nis die­ser Umfra­gen war, dass nicht vor allem das Frei­sein von mate­ri­el­len Sor­gen oder das vom ersten bis zum letz­ten Lebens­tag siche­re Netz der Für- und Vor­sor­ge die Mei­nun­gen und Emp­fin­dun­gen präg­ten, son­dern die Mög­lich­kei­ten, sich in die Gestal­tung ihrer enge­ren, aber auch der wei­te­ren Lebens­ver­hält­nis­se ein­zu­mi­schen, sich nicht abge­hängt, son­dern mit ihren indi­vi­du­el­len Inter­es­sen und Bedürf­nis­sen gewür­digt zu erleben.

Und wenn sie nicht gestor­ben sind, durch Krie­ge gegen­ein­an­der und gegen die Natur, wer­den nicht nur die Men­schen in Deutsch­land, son­dern die Bewohner/​innen aller Kon­ti­nen­te das Mär­chen wirk­lich wer­den lassen.