In seinem Stück »Richard III.« hat William Shakespeare diesen von 1483 bis zu seinem Tod in der Schlacht von Bosworth (1485) herrschenden König von England mit dem Ausruf verewigt: »a horse, a horse, my kingdom for a horse«. Und mit welchem Spruch wird dereinst der gegenwärtige Premierminister Boris Johnson verewigt, dessen Absicht, das Vereinigte Königreich in der Halloween-Nacht der Europäischen Union endgültig abspenstig zu machen, auf erbitterten Widerstand des Unterhauses stößt? Das Vereinigte Königreich würde im Falle eines wie auch immer gearteten Brexits jedenfalls ein schlechter Tausch sein – es wäre dann ja nicht nur tief gespalten, sondern bald darauf wohl auch um Schottland ärmer.
Nun haben die Briten spätestens seit Shakespeares Zeiten für großes Drama einen guten Nerv. Bislang schätzten die meisten auch die Tradition, im Parlament nicht nur allseits bereits bekannte Meinungen möglichst beherrscht zu vertreten, sondern auf den engen Bänken in heftigen Debatten neuartige Positionen überhaupt erst zu entwickeln. Das ändert sich gerade. Zum einen raubt das Brexit-Drama vielen Leuten die Zuversicht und schlimmer noch: den Humor. Zum anderen verriet der laute, wütende und rüde Ton bei der ersten Sitzung nach der am 24. September vom obersten Gericht aufgehobenen Zwangspause, dass die »klassische« Debattenkultur in Westminster gerade vor die Hunde geht.
Bevor der Tory Boris Johnson seine Vorgängerin Theresa May als Partei- und Regierungschef im Juli 2019 beerbte, hatte sie mit der EU einen Aufschub des nach Artikel 50 des Lissabon-Vertrages eigentlich am 29. März zwingenden Austritts des Vereinigten Königreichs erwirkt. Folglich musste das Unterhaus den im britischen Gesetz als Austrittsdatum festgeschriebenen 29. März mit der erforderlichen Mehrheit ändern und tat das auch – inzwischen steht der 31. Oktober 2019 im Gesetz. Zusätzlich verabschiedeten die Abgeordneten ein Gesetz, das den Premierminister zum Beantragen einer weiteren Verlängerung der Brexit-Frist verpflichtet, wenn bis zum 19. Oktober kein Abkommen ratifiziert ist. Ob Boris Johnson, der lieber »tot im Graben« liegen will, als in Brüssel um einen weiteren Aufschub zu bitten, mit seiner Regierung einen Weg finden wird, die gesetzliche Auflage auszuhebeln? Wer weiß.
Theresa May scheiterte – trotz einer knappen Mehrheit der Tory-Regierungspartei und der sie stützenden nordirischen DUP – mit ihrem mit der EU ausgehandelten Austrittsabkommen dreimal an dem gegen das Abkommen mehrheitlich abstimmenden Unterhaus. Sie scheiterte vor allem deshalb, weil die in der European Research Group (ERG) zusammengeschlossenen harten konservativen Brexiteers um Jacob Rees-Moog ihrer Premierministerin die Gefolgschaft verweigerten. Auch ihr Nachfolger Boris Johnson, das ist so sicher wie die Kompromisslosigkeit der EU-Verhandler, wird im Unterhaus keinen Stich bekommen. Dafür sorgt seit längerem nicht zuletzt der durch seine »Order, Order«-Rufe zu medialem Ruhm gekommene Sprecher des britischen Unterhauses John Bercow. Er drohte Johnson umgehend an, dass er das parlamentarische Regelwerk so lange »auseinandernehmen« und »zusätzliche rechtliche Kreativität« zulassen werde, bis jeglicher Versuch gestoppt sei, das Vereinigte Königreich ohne Deal am 31. Oktober aus der EU zu torpedieren. Für Bercow, der zweifellos ein Remainer ist, kann es nur einen Brexit geben, den das Parlament vorher ausdrücklich gebilligt hat – also erst mal keinen.
Premierminister Boris Johnson hat seit seinem Amtsantritt eine bemerkenswerte Niederlagenserie im Unterhaus eingesteckt – sprich, er hat mit seiner Regierung noch keine einzige Abstimmung gewinnen können. Von der vom Supreme Court gerade wieder ungeschehen gemachten fünfwöchigen Zwangspause des Parlaments ganz zu schweigen. Nachdem im frühen September bereits zwei Anträge des Premiers auf Neuwahlen abgelehnt wurden, weil die Oppositionsparteien erst die Verhinderung des No-deals sichergestellt sehen wollen, lehnten am 26. September die Abgeordneten mit 306 zu 289 Stimmen den Antrag der Regierung ab, vom 30. September bis zum 2. Oktober 2019 – also während der Tory-Parteikonferenz in Manchester – nicht zu tagen. Und das, obwohl das Unterhaus bislang während der Parteitage im September und frühen Oktober immer Sitzungspause hatte.
Die Niederlagenserie von Boris Johnson wird sich schon deshalb fortsetzen, weil die Tories und die DUP aufgrund von Rücktritten, Abwahlen und Rausschmissen keine Regierungsmehrheit mehr im Parlament haben. Erschwerend kommt hinzu, dass Premier Johnson nach seiner ersten Abstimmungsniederlage 21 prominente Abgeordnete aus seiner Fraktion ausgeschlossen und ihre zum Teil jahrzehntelange Parteimitgliedschaft jäh beendet hat. Da sie fast alle – nicht zuletzt Kenneth Clarke und Philip Hammond – einst als mächtige Minister oder auch Staatssekretäre fungierten, dürfte der Premier gegen diese ihn und seinen No-deal-Kurs bekämpfenden Rebellen im Unterhaus keinen alternativen Austrittsvertrag mehr durchbekommen. Wie es scheint auch keinen No-deal.
Bleiben drei große Fragen:
Erstens: Was passiert nach dem 19. Oktober, zu dem gewiss kein neues Brexit-Abkommen vom Parlament abgesegnet worden ist. Ein Schreiben an EU-Ratspräsident Donald Tusk, das Johnsons Regierung bei einem Verfehlen der Einigungsfrist abschicken müsste, liegt bereits vorformuliert bereit. Darin beantragt das Vereinigte Königreich eine »weitere Verlängerung« der Frist für den Austritt bis zum 31. Januar 2020. Der Austritt soll freilich auch vor diesem Datum erfolgen können, wenn zuvor ein Abkommen mit der EU ratifiziert wurde.
Zweitens: Was entscheiden die Staats- und Regierungschefs beim nächsten EU-Gipfel am 17. und 18. Oktober in Brüssel? Gibt es womöglich einen oder mehrere Mitgliedstaaten, die sich gegen einen weiteren Aufschub aussprechen und damit quasi einen ungeregelten Brexit über das Unterhaus in Westminster hinweg erzwingen?
Drittens: Der Londoner Supreme Court hat zwar die Zwangspause (Prorogation) des Parlaments für nichtig erklärt, damit aber nicht die Probleme des britischen Regierungssystems gelöst. Der Eingriff wird hierzulande als Sieg des Parlamentarismus gefeiert, weil unser Verfassungsstaat eben aus Gewaltenteilung und Verfassungsgerichtsbarkeit besteht. Im Vereinigten Königreich liegen die Dinge anders, beruht der Begriff von Verfassung eben nicht auf der Gewaltenteilung, sondern auf der Mischung gesetzgebender und exekutiver Macht in einer parlamentarisch verantwortlichen Regierung und ihrer unablässigen öffentlichen Kontrolle durch die Oppositionspartei(en). Den seit 2009 vom neu gegründeten Supreme Court und seit 2011 vom Fixed-term Parliaments Act (der Rechte des Premierministers beschnitt) in Gang gesetzte Zerfall dieses tradierten Regierungssystems erleben wir gerade – offenbar gewährleisten die herkömmlichen Institutionen und Verfahren des parlamentarischen Regierens in Westminster keine Lösung von zugespitzten Krisen mehr. Und wie weiter?
In der Bevölkerung des Vereinigten Königreichs hofft übrigens nach wie vor ein nicht kleiner Teil darauf, den nach dem Referendum 2016 in Aussicht gestellten »Unabhängigkeitstag« zu erleben. Und noch etwas. Bei der entscheidenden Abstimmung auf dem gerade beendeten Parteitag der Labour Party in Brighton waren die EU-Anhänger plötzlich in der Unterzahl, lehnte die Mehrheit den Antrag ab, die Partei auf den Verbleib in der Union festzulegen. Parteichef Jeremy Corbyn konnte die zuvor drohende Niederlage im partei-internen Brexit-Streit also abwenden. Labour hat sich darauf festgelegt, nach dem Sieg bei den notwendigen Neuwahlen erst einen »vernünftigen Brexit« auszuhandeln, um dann in einem zweiten Referendum den Briten zwei Alternativen zur Abstimmung vorzulegen: entweder den neuen Deal oder den Verbleib in der Europäischen Union. Vor allem aber beschloss der Parteitag den »Socialist Green New Deal« – und ergänzend dazu ein sozialistisches Paket voller politischer Überraschungen. Darüber das nächste Mal mehr.
»BREXIT ANTE PORTAS« – ein britischer Abend mit Johann-Günther König: 29. Oktober, 19 Uhr in der Buchhandlung Kamloth + Schweitzer, Ostertorstraße 25-29 I in Bremen, Eintritt frei.