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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Ein Brexit, ein Königreich für einen Brexit

In sei­nem Stück »Richard III.« hat Wil­liam Shake­speare die­sen von 1483 bis zu sei­nem Tod in der Schlacht von Bos­worth (1485) herr­schen­den König von Eng­land mit dem Aus­ruf ver­ewigt: »a hor­se, a hor­se, my king­dom for a hor­se«. Und mit wel­chem Spruch wird der­einst der gegen­wär­ti­ge Pre­mier­mi­ni­ster Boris John­son ver­ewigt, des­sen Absicht, das Ver­ei­nig­te König­reich in der Hal­lo­ween-Nacht der Euro­päi­schen Uni­on end­gül­tig abspen­stig zu machen, auf erbit­ter­ten Wider­stand des Unter­hau­ses stößt? Das Ver­ei­nig­te König­reich wür­de im Fal­le eines wie auch immer gear­te­ten Brexits jeden­falls ein schlech­ter Tausch sein – es wäre dann ja nicht nur tief gespal­ten, son­dern bald dar­auf wohl auch um Schott­land ärmer.

Nun haben die Bri­ten spä­te­stens seit Shake­speares Zei­ten für gro­ßes Dra­ma einen guten Nerv. Bis­lang schätz­ten die mei­sten auch die Tra­di­ti­on, im Par­la­ment nicht nur all­seits bereits bekann­te Mei­nun­gen mög­lichst beherrscht zu ver­tre­ten, son­dern auf den engen Bän­ken in hef­ti­gen Debat­ten neu­ar­ti­ge Posi­tio­nen über­haupt erst zu ent­wickeln. Das ändert sich gera­de. Zum einen raubt das Brexit-Dra­ma vie­len Leu­ten die Zuver­sicht und schlim­mer noch: den Humor. Zum ande­ren ver­riet der lau­te, wüten­de und rüde Ton bei der ersten Sit­zung nach der am 24. Sep­tem­ber vom ober­sten Gericht auf­ge­ho­be­nen Zwangs­pau­se, dass die »klas­si­sche« Debat­ten­kul­tur in West­min­ster gera­de vor die Hun­de geht.

Bevor der Tory Boris John­son sei­ne Vor­gän­ge­rin The­re­sa May als Par­tei- und Regie­rungs­chef im Juli 2019 beerb­te, hat­te sie mit der EU einen Auf­schub des nach Arti­kel 50 des Lis­sa­bon-Ver­tra­ges eigent­lich am 29. März zwin­gen­den Aus­tritts des Ver­ei­nig­ten König­reichs erwirkt. Folg­lich muss­te das Unter­haus den im bri­ti­schen Gesetz als Aus­tritts­da­tum fest­ge­schrie­be­nen 29. März mit der erfor­der­li­chen Mehr­heit ändern und tat das auch – inzwi­schen steht der 31. Okto­ber 2019 im Gesetz. Zusätz­lich ver­ab­schie­de­ten die Abge­ord­ne­ten ein Gesetz, das den Pre­mier­mi­ni­ster zum Bean­tra­gen einer wei­te­ren Ver­län­ge­rung der Brexit-Frist ver­pflich­tet, wenn bis zum 19. Okto­ber kein Abkom­men rati­fi­ziert ist. Ob Boris John­son, der lie­ber »tot im Gra­ben« lie­gen will, als in Brüs­sel um einen wei­te­ren Auf­schub zu bit­ten, mit sei­ner Regie­rung einen Weg fin­den wird, die gesetz­li­che Auf­la­ge aus­zu­he­beln? Wer weiß.

The­re­sa May schei­ter­te – trotz einer knap­pen Mehr­heit der Tory-Regie­rungs­par­tei und der sie stüt­zen­den nord­iri­schen DUP – mit ihrem mit der EU aus­ge­han­del­ten Aus­tritts­ab­kom­men drei­mal an dem gegen das Abkom­men mehr­heit­lich abstim­men­den Unter­haus. Sie schei­ter­te vor allem des­halb, weil die in der Euro­pean Rese­arch Group (ERG) zusam­men­ge­schlos­se­nen har­ten kon­ser­va­ti­ven Brexi­te­ers um Jacob Rees-Moog ihrer Pre­mier­mi­ni­ste­rin die Gefolg­schaft ver­wei­ger­ten. Auch ihr Nach­fol­ger Boris John­son, das ist so sicher wie die Kom­pro­miss­lo­sig­keit der EU-Ver­hand­ler, wird im Unter­haus kei­nen Stich bekom­men. Dafür sorgt seit län­ge­rem nicht zuletzt der durch sei­ne »Order, Order«-Rufe zu media­lem Ruhm gekom­me­ne Spre­cher des bri­ti­schen Unter­hau­ses John Ber­cow. Er droh­te John­son umge­hend an, dass er das par­la­men­ta­ri­sche Regel­werk so lan­ge »aus­ein­an­der­neh­men« und »zusätz­li­che recht­li­che Krea­ti­vi­tät« zulas­sen wer­de, bis jeg­li­cher Ver­such gestoppt sei, das Ver­ei­nig­te König­reich ohne Deal am 31. Okto­ber aus der EU zu tor­pe­die­ren. Für Ber­cow, der zwei­fel­los ein Remai­ner ist, kann es nur einen Brexit geben, den das Par­la­ment vor­her aus­drück­lich gebil­ligt hat – also erst mal keinen.

Pre­mier­mi­ni­ster Boris John­son hat seit sei­nem Amts­an­tritt eine bemer­kens­wer­te Nie­der­la­gen­se­rie im Unter­haus ein­ge­steckt – sprich, er hat mit sei­ner Regie­rung noch kei­ne ein­zi­ge Abstim­mung gewin­nen kön­nen. Von der vom Supre­me Court gera­de wie­der unge­sche­hen gemach­ten fünf­wö­chi­gen Zwangs­pau­se des Par­la­ments ganz zu schwei­gen. Nach­dem im frü­hen Sep­tem­ber bereits zwei Anträ­ge des Pre­miers auf Neu­wah­len abge­lehnt wur­den, weil die Oppo­si­ti­ons­par­tei­en erst die Ver­hin­de­rung des No-deals sicher­ge­stellt sehen wol­len, lehn­ten am 26. Sep­tem­ber die Abge­ord­ne­ten mit 306 zu 289 Stim­men den Antrag der Regie­rung ab, vom 30. Sep­tem­ber bis zum 2. Okto­ber 2019 – also wäh­rend der Tory-Par­tei­kon­fe­renz in Man­che­ster – nicht zu tagen. Und das, obwohl das Unter­haus bis­lang wäh­rend der Par­tei­ta­ge im Sep­tem­ber und frü­hen Okto­ber immer Sit­zungs­pau­se hatte.

Die Nie­der­la­gen­se­rie von Boris John­son wird sich schon des­halb fort­set­zen, weil die Tories und die DUP auf­grund von Rück­trit­ten, Abwah­len und Raus­schmis­sen kei­ne Regie­rungs­mehr­heit mehr im Par­la­ment haben. Erschwe­rend kommt hin­zu, dass Pre­mier John­son nach sei­ner ersten Abstim­mungs­nie­der­la­ge 21 pro­mi­nen­te Abge­ord­ne­te aus sei­ner Frak­ti­on aus­ge­schlos­sen und ihre zum Teil jahr­zehn­te­lan­ge Par­tei­mit­glied­schaft jäh been­det hat. Da sie fast alle – nicht zuletzt Ken­neth Clar­ke und Phil­ip Ham­mond – einst als mäch­ti­ge Mini­ster oder auch Staats­se­kre­tä­re fun­gier­ten, dürf­te der Pre­mier gegen die­se ihn und sei­nen No-deal-Kurs bekämp­fen­den Rebel­len im Unter­haus kei­nen alter­na­ti­ven Aus­tritts­ver­trag mehr durch­be­kom­men. Wie es scheint auch kei­nen No-deal.

Blei­ben drei gro­ße Fragen:

Erstens: Was pas­siert nach dem 19. Okto­ber, zu dem gewiss kein neu­es Brexit-Abkom­men vom Par­la­ment abge­seg­net wor­den ist. Ein Schrei­ben an EU-Rats­prä­si­dent Donald Tusk, das John­sons Regie­rung bei einem Ver­feh­len der Eini­gungs­frist abschicken müss­te, liegt bereits vor­for­mu­liert bereit. Dar­in bean­tragt das Ver­ei­nig­te König­reich eine »wei­te­re Ver­län­ge­rung« der Frist für den Aus­tritt bis zum 31. Janu­ar 2020. Der Aus­tritt soll frei­lich auch vor die­sem Datum erfol­gen kön­nen, wenn zuvor ein Abkom­men mit der EU rati­fi­ziert wurde.

Zwei­tens: Was ent­schei­den die Staats- und Regie­rungs­chefs beim näch­sten EU-Gip­fel am 17. und 18. Okto­ber in Brüs­sel? Gibt es womög­lich einen oder meh­re­re Mit­glied­staa­ten, die sich gegen einen wei­te­ren Auf­schub aus­spre­chen und damit qua­si einen unge­re­gel­ten Brexit über das Unter­haus in West­min­ster hin­weg erzwingen?

Drit­tens: Der Lon­do­ner Supre­me Court hat zwar die Zwangs­pau­se (Pro­ro­ga­ti­on) des Par­la­ments für nich­tig erklärt, damit aber nicht die Pro­ble­me des bri­ti­schen Regie­rungs­sy­stems gelöst. Der Ein­griff wird hier­zu­lan­de als Sieg des Par­la­men­ta­ris­mus gefei­ert, weil unser Ver­fas­sungs­staat eben aus Gewal­ten­tei­lung und Ver­fas­sungs­ge­richts­bar­keit besteht. Im Ver­ei­nig­ten König­reich lie­gen die Din­ge anders, beruht der Begriff von Ver­fas­sung eben nicht auf der Gewal­ten­tei­lung, son­dern auf der Mischung gesetz­ge­ben­der und exe­ku­ti­ver Macht in einer par­la­men­ta­risch ver­ant­wort­li­chen Regie­rung und ihrer unab­läs­si­gen öffent­li­chen Kon­trol­le durch die Oppositionspartei(en). Den seit 2009 vom neu gegrün­de­ten Supre­me Court und seit 2011 vom Fixed-term Par­lia­ments Act (der Rech­te des Pre­mier­mi­ni­sters beschnitt) in Gang gesetz­te Zer­fall die­ses tra­dier­ten Regie­rungs­sy­stems erle­ben wir gera­de – offen­bar gewähr­lei­sten die her­kömm­li­chen Insti­tu­tio­nen und Ver­fah­ren des par­la­men­ta­ri­schen Regie­rens in West­min­ster kei­ne Lösung von zuge­spitz­ten Kri­sen mehr. Und wie weiter?

In der Bevöl­ke­rung des Ver­ei­nig­ten König­reichs hofft übri­gens nach wie vor ein nicht klei­ner Teil dar­auf, den nach dem Refe­ren­dum 2016 in Aus­sicht gestell­ten »Unab­hän­gig­keits­tag« zu erle­ben. Und noch etwas. Bei der ent­schei­den­den Abstim­mung auf dem gera­de been­de­ten Par­tei­tag der Labour Par­ty in Brigh­ton waren die EU-Anhän­ger plötz­lich in der Unter­zahl, lehn­te die Mehr­heit den Antrag ab, die Par­tei auf den Ver­bleib in der Uni­on fest­zu­le­gen. Par­tei­chef Jere­my Cor­byn konn­te die zuvor dro­hen­de Nie­der­la­ge im par­tei-inter­nen Brexit-Streit also abwen­den. Labour hat sich dar­auf fest­ge­legt, nach dem Sieg bei den not­wen­di­gen Neu­wah­len erst einen »ver­nünf­ti­gen Brexit« aus­zu­han­deln, um dann in einem zwei­ten Refe­ren­dum den Bri­ten zwei Alter­na­ti­ven zur Abstim­mung vor­zu­le­gen: ent­we­der den neu­en Deal oder den Ver­bleib in der Euro­päi­schen Uni­on. Vor allem aber beschloss der Par­tei­tag den »Socia­list Green New Deal« – und ergän­zend dazu ein sozia­li­sti­sches Paket vol­ler poli­ti­scher Über­ra­schun­gen. Dar­über das näch­ste Mal mehr.

»BREXIT ANTE PORTAS« – ein bri­ti­scher Abend mit Johann-Gün­ther König: 29. Okto­ber, 19 Uhr in der Buch­hand­lung Kam­loth + Schweit­zer, Oster­tor­stra­ße 25-29 I in Bre­men, Ein­tritt frei.