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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Ein Blick hinter die Kulissen

In der letz­ten Zeit wur­de des Öfte­ren aus Anlass des 35. Jubi­lä­ums der Mau­er­öff­nung die Mär vom »Sturm« auf die Ber­li­ner Mau­er am 9. Novem­ber 1989 kor­ri­giert, denn in Wirk­lich­keit erzwan­gen die DDR-Bür­ger die Öff­nung der Grenz­über­gangs­stel­len in der Haupt­stadt der DDR nach West­ber­lin. Kei­ne Mau­er wur­de vom Osten aus erklet­tert oder gar gestürmt. Die Bil­der, die um die Welt gin­gen, zeig­ten zwar zumeist jun­ge Leu­te auf der Mau­er, aber an der Bema­lung des Bau­werks mit bun­ten Graf­fi­ti war zu erse­hen, dass sie vom Westen her erstie­gen wor­den ist. Auch das Häm­mern auf und die Beschä­di­gun­gen der Seg­men­te erfolg­ten so gut wie aus­schließ­lich zunächst von der west­li­chen Sei­te. Erst gegen Ende des Jah­res, als die Grenz- und Zoll­kon­trol­len nur noch einer Far­ce gli­chen, konn­ten die DDR-Bür­ger von ihrer Sei­te her ein »Mau­er­sou­ve­nir« her­aus­klop­fen. Erst nach 35 Jah­ren wur­de wohl zum ersten Mal öffent­lich dar­auf auf­merk­sam gemacht, dass es kei­nen »Sturm« auf die Mau­er gege­ben hat, son­dern die Mau­er auf Drän­gen der unzu­frie­de­nen DDR-Bevöl­ke­rung geöff­net wor­den war. Das ist also nicht West­ber­li­nern zu ver­dan­ken, die auf den ersten Bil­dern von Zivi­li­sten auf der Kro­ne des bedeu­tend­sten Teils der »Grenz­si­che­rungs­an­la­gen« fei­er­ten. Die den Sach­ver­halt klar­stel­len­de Jour­na­li­stin wur­de als­bald von aus dem Westen Ber­lins stam­men­den Leser­brief­schrei­bern geschol­ten (Ber­li­ner Zei­tung, 17.12.24).

In den Dis­kus­sio­nen aus Anlass der Rück­schau auf drei­ein­halb Jahr­zehn­te staat­lich ver­ein­tes Deutsch­land kam dann ab und an die Fra­ge auf, war­um die Mau­er nicht von Ost­bür­gern »gestürmt« wor­den ist, die ja noch das Volk sein woll­ten, aber kei­nes zusam­men mit den rei­chen »Brü­dern und Schwe­stern« jen­seits der Gren­ze. Jeden­falls hat­te die­ses Wir sind ein Volk noch nie­mand auf der Groß­de­mon­stra­ti­on auf dem Alex­an­der­platz fünf Tage zuvor ver­langt. Aber es soll­te bald anders kom­men. West­li­che Poli­ti­ker über­nah­men oder beein­fluss­ten immer mehr die begon­ne­ne Eman­zi­pa­ti­ons­be­we­gung der DDR-Bür­ger. Es ist im Nach­hin­ein schon ver­wun­der­lich, mit wel­cher Strin­genz, aber vor allem mit wel­cher Igno­ranz gegen­über den Inter­es­sen der ost­deut­schen Bevöl­ke­rung die Paro­le von Wir sind das auf Wir sind ein Volk geän­dert wur­de. Wir wis­sen heu­te, dass in Ber­lin anläss­lich eines Knei­pen­be­suchs von eini­gen Ost­ber­li­ner Jugend­li­chen im West­teil der Stadt mit eini­gen betuch­ten Bier­trin­kern gewet­tet wur­de, ob sie die­ses umge­wan­del­te Mot­to auf den Demon­stra­tio­nen im Ost­teil der Stadt pla­ka­tie­ren kön­nen. Sie konn­ten es! Sie erhiel­ten dafür den Wett­ein­satz in wohl nicht weni­gen D-Mark bei ihrem näch­sten Besuch hin­ter der schon löch­ri­gen Grenz­mau­er ausgezahlt.

In Sach­sen konn­te der Ver­fas­ser die­ser Zei­len selbst beob­ach­ten, wie meh­re­re Bus­se aus Bay­ern voll­be­setzt mit jun­gen Leu­ten mit ent­spre­chen­den Pla­ka­ten und Spruch­bän­dern über die Gren­ze kamen. Als dann noch Kanz­ler Kohl die »blü­hen­den Land­schaf­ten« in Aus­sicht stell­te, glaub­te – wie oft­mals in der Geschich­te – der Groß­teil der Men­schen den ver­hei­ßungs­vol­len Versprechungen.

Mit Sicher­heit wird es eini­ge Ost­deut­sche geben, die der Über­zeu­gung sind, dass Ver­wun­de­rung und Kri­tik am Ver­ei­ni­gungs­pro­zess nur Beob­ach­tun­gen und Bewer­tun­gen von nicht aus den bür­ger­recht­li­chen Krei­sen stam­men­den, dem­zu­fol­ge pri­vi­le­giert sein müs­sen­den Ex-DDR-Bür­gern stam­men kön­nen. Und dass das, was mit der Wahl am 18. März 1990 ein­trat, schließ­lich Vol­kes Wil­le gewe­sen sei, an des­sen Ent­schei­dung der Westen kei­nen oder kaum Anteil gehabt habe. Allein der popu­li­sti­sche Wahl­kampf der Par­tei­en aus dem Westen im Osten des noch zwei­ge­teil­ten Lan­des spricht eine ande­re Spra­che. Es bleibt das ungu­te Gefühl, dass es kei­ne demo­kra­tisch abge­si­cher­te Ver­ei­ni­gung war, denn weder im Osten noch im Westen wur­de zu die­sem tief­grei­fen­den gesell­schaft­li­chen Umbau ein Ple­bis­zit eingeholt.

Nun­mehr liegt der Bericht eines Zeit­zeu­gen vor, der an vor­der­ster Stel­le von der Ost­sei­te her mit der »deut­schen Ein­heit« befasst war. Im Ran­ge eines Staats­se­kre­tärs beglei­te­te Mat­thi­as Geh­ler als Regie­rungs­spre­cher des letz­ten Mini­ster­prä­si­den­ten der DDR, Lothar de Mai­ziè­re, alle hoch­ran­gi­gen Dele­ga­tio­nen zu poli­ti­schen Gesprä­chen, die sowohl zur Abschaf­fung der DDR als auch zur »staat­li­chen Ver­ei­ni­gung« geführt wurden.

Sein mit Zita­ten aus zeit­ge­nös­si­schen Doku­men­ten gespick­ter Bericht, der zu gro­ßen Tei­len auf eige­nen Auf­zeich­nun­gen beruht, zeigt auf, wie west­deut­sche Poli­ti­ker die letz­te Regie­rung der DDR unter Druck setz­ten, um das ange­streb­te »ein­heit­li­che« Deutsch­land zu erschaf­fen. Genui­ne Inter­es­sen der Ost­deut­schen im Ver­ei­ni­gungs­pro­zess wur­den zwar laut Geh­ler immer wie­der von den ost­deut­schen Dele­ga­tio­nen zur Spra­che gebracht, waren jedoch zumeist erfolg­los. Das führ­te so weit, dass die dem Buch den Titel geben­de Fra­ge von einem ein­fluss­rei­chen Jour­na­li­sten dem Regie­rungs­spre­cher gestellt wurde.

Das in 14 Kapi­tel unter­glie­der­te Buch han­delt in der Regel in chro­no­lo­gi­scher Abfol­ge wich­ti­ge Berei­che der Arbeit des Regie­rungs­spre­chers in den letz­ten Wochen der DDR ab. Dabei kom­men vie­le unbe­kann­te oder ver­ges­se­ne Vor­gän­ge ans Tages­licht, so z. B., dass die spä­te­re Bun­des­kanz­le­rin Ange­la Mer­kel zu jener Zeit sei­ne Stell­ver­tre­te­rin war, oder dass es einen recht groß ange­leg­ten Ver­such von »Hong­kong-Chi­ne­sen« gab, um der dem Ende ent­ge­gen­ge­hen­den DDR gegen die Aus­stel­lung von Päs­sen mit Mil­lio­nen an D-Mark zu hel­fen. Das wur­de abge­lehnt; es gab kei­ne Ein­bür­ge­rung von zah­lungs­kräf­ti­gen Aus­län­dern. Heu­te ist das in der EU kei­ne Seltenheit.

Am inter­es­san­tes erscheint einem ost­deut­schen Leser jedoch, wie Poli­ti­ker aus dem Westen in den Lauf des Ver­ei­ni­gungs­ge­sche­hens, der eigent­lich von der DDR-Bevöl­ke­rung bzw. deren im März 1990 gewähl­ten Ver­tre­tern bestimmt wer­den soll­te, ein­grif­fen. So wünsch­te Graf von Lamb­s­dorff von der FDP, dass der Para­graf, der die arbeits­recht­li­chen Kon­se­quen­zen beim Betriebs­über­gang regel­te, außer Kraft gesetzt wird, oder ein Mini­ster aus Bonn woll­te von Geh­ler, dass die­ser für ihn per­sön­lich eine Vil­la in Trep­tow besorgt. Auch die Rol­le der zahl­rei­chen »Bera­ter wird kri­tisch beleuch­tet. Vor­sich­tig reka­pi­tu­liert der Ver­fas­ser, dass ihm zwar über »das Ver­hal­ten der Bera­ter (…) aus den Mini­ste­ri­en zumeist Posi­ti­ves geschil­dert« wor­den sei. Aber es hät­te »auch eini­ge gegen­tei­li­ge Erleb­nis­se« gege­ben. Sol­che Ein­grif­fe der West­be­ra­ter in den Zustän­dig­keits­be­reich der ost­deut­schen Mini­ster, die zuwei­len auf Wider­stand ihrer immer­hin nicht nur pro for­ma ost­deut­schen Dienst­her­ren stie­ßen, führ­ten schließ­lich zum Ende der »gro­ßen Koali­ti­on« der ost­deut­schen Über­gangs­re­gie­rung. Die ost­deut­schen Regie­rungs­ver­tre­ter, die das Schick­sal eines gan­zen Lan­des mit über 16 Mil­lio­nen Ein­woh­nern ver­han­del­ten, wur­den als »Exo­ten«, als eine »Lai­en­spiel­schar« von den Ver­hand­lungs­part­nern aus Bonn betrachtet.

Immer wie­der wird in den Schil­de­run­gen deut­lich, wie Noch-DDR-Poli­ti­ker von einer Viel­zahl von »Bera­tern« (was in die­ser Deut­lich­keit ver­mut­lich noch nie bekannt gemacht wor­den ist), »gelenkt« wur­den. Die­se wirk­ten »hin­ter den Kulis­sen« und lei­te­ten Vie­les in die Wege.

Der Ein­fluss und sogar Druck von der Regie­rung aus Bonn auf die letz­te selbst­stän­di­ge ost­deut­sche Regie­rung wur­de so stark, dass der dama­li­ge Bil­dungs- und Wis­sen­schafts­mi­ni­ster Hans Joa­chim Mey­er in einer Rede im Jah­re 2020 zu fol­gen­der Ein­schät­zung kam: »Spä­te­stens ab Anfang Juni 1990 konn­te man allen Ern­stes hören und lesen, wir soll­ten doch auf­hö­ren, die Ver­hält­nis­se in der DDR schritt­wei­se ändern und bes­sern zu wol­len. Das könn­ten sie mit bun­des­deut­scher Kom­pe­tenz und Erfah­rung in der künf­ti­gen gesamt­deut­schen Bun­des­re­pu­blik dann doch selbst viel rascher und wir­kungs­vol­ler bewerkstelligen.«.

Auch wei­te­re Kurio­si­tä­ten im Eini­gungs­pro­zess, die dann mehr oder min­der Ein­fluss auf die Gestal­tung des »Trans­for­ma­ti­ons­pro­zes­ses« hat­ten, wer­den genannt, so bei­spiels­wei­se die weit­hin ver­mu­te­te, aber hier bestä­tig­te Tat­sa­che, dass die Ost-CDU anders gewe­sen sei als die West-CDU und deren Chefs eine »herz­li­che Abnei­gung« verband.

Alles in allem ein inter­es­san­ter, not­wen­di­ger Bericht eines akti­ven Zeit­zeu­gen, der an vor­der­ster Stel­le dar­an betei­ligt war, die von ihm ver­tre­te­ne Regie­rung einer­seits selbst abzu­schaf­fen, ande­rer­seits bemüht war, ein gleich­be­rech­tig­tes Mit­ein­an­der von Ost- und West­deut­schen her­zu­stel­len. Wie die gegen­wär­ti­gen Debat­ten bele­gen, ist es den in den ersten frei­en Wah­len der DDR im März 1990 in Ver­ant­wor­tung getre­te­nen Poli­ti­kern nicht gelun­gen, die Auf­ga­be, zum Woh­le der sie gewähl­ten Bevöl­ke­rung zu agie­ren, zu erfül­len. Eini­ge mögen über das Ergeb­nis der Her­stel­lung der staat­li­chen Ein­heit Deutsch­lands zufrie­den sein, aber es wird auch noch nach drei­ein­halb Jahr­zehn­ten immer deut­li­cher, dass die­se »Eini­gung« einem pater­na­li­stisch ange­hauch­ten Kolo­ni­sie­rungs­pro­zess stark ähnelt, wozu die auto­bio­gra­phi­schen Remi­nis­zen­zen des dama­li­gen sicher­lich nicht ohne Ein­fluss gewe­se­nen Regie­rungs­spre­chers Geh­ler eini­ge wei­te­re Fak­ten, qua­si aus erster Hand, bei­steu­ern. Und er hat in der festen Über­zeu­gung gehan­delt, dass er etwas Gutes für die­je­ni­gen tut, die ihn bzw. sei­ne Par­tei gewählt hat­ten. Das kann man ihm glau­ben, aber die Fra­ge, was gewe­sen wäre, wenn die ost­deut­schen Ver­hand­lungs­part­ner vehe­men­ter zum Woh­le ihres Wahl­vol­kes gehan­delt hät­ten, stellt er nicht.

Mat­thi­as Geh­ler: »Wol­len Sie die Ein­heit oder nicht?« Erin­ne­run­gen des Regie­rungs­spre­chers, Edi­ti­on Ost, Ber­lin 2024, 256 S., 18 €.