In der letzten Zeit wurde des Öfteren aus Anlass des 35. Jubiläums der Maueröffnung die Mär vom »Sturm« auf die Berliner Mauer am 9. November 1989 korrigiert, denn in Wirklichkeit erzwangen die DDR-Bürger die Öffnung der Grenzübergangsstellen in der Hauptstadt der DDR nach Westberlin. Keine Mauer wurde vom Osten aus erklettert oder gar gestürmt. Die Bilder, die um die Welt gingen, zeigten zwar zumeist junge Leute auf der Mauer, aber an der Bemalung des Bauwerks mit bunten Graffiti war zu ersehen, dass sie vom Westen her erstiegen worden ist. Auch das Hämmern auf und die Beschädigungen der Segmente erfolgten so gut wie ausschließlich zunächst von der westlichen Seite. Erst gegen Ende des Jahres, als die Grenz- und Zollkontrollen nur noch einer Farce glichen, konnten die DDR-Bürger von ihrer Seite her ein »Mauersouvenir« herausklopfen. Erst nach 35 Jahren wurde wohl zum ersten Mal öffentlich darauf aufmerksam gemacht, dass es keinen »Sturm« auf die Mauer gegeben hat, sondern die Mauer auf Drängen der unzufriedenen DDR-Bevölkerung geöffnet worden war. Das ist also nicht Westberlinern zu verdanken, die auf den ersten Bildern von Zivilisten auf der Krone des bedeutendsten Teils der »Grenzsicherungsanlagen« feierten. Die den Sachverhalt klarstellende Journalistin wurde alsbald von aus dem Westen Berlins stammenden Leserbriefschreibern gescholten (Berliner Zeitung, 17.12.24).
In den Diskussionen aus Anlass der Rückschau auf dreieinhalb Jahrzehnte staatlich vereintes Deutschland kam dann ab und an die Frage auf, warum die Mauer nicht von Ostbürgern »gestürmt« worden ist, die ja noch das Volk sein wollten, aber keines zusammen mit den reichen »Brüdern und Schwestern« jenseits der Grenze. Jedenfalls hatte dieses Wir sind ein Volk noch niemand auf der Großdemonstration auf dem Alexanderplatz fünf Tage zuvor verlangt. Aber es sollte bald anders kommen. Westliche Politiker übernahmen oder beeinflussten immer mehr die begonnene Emanzipationsbewegung der DDR-Bürger. Es ist im Nachhinein schon verwunderlich, mit welcher Stringenz, aber vor allem mit welcher Ignoranz gegenüber den Interessen der ostdeutschen Bevölkerung die Parole von Wir sind das auf Wir sind ein Volk geändert wurde. Wir wissen heute, dass in Berlin anlässlich eines Kneipenbesuchs von einigen Ostberliner Jugendlichen im Westteil der Stadt mit einigen betuchten Biertrinkern gewettet wurde, ob sie dieses umgewandelte Motto auf den Demonstrationen im Ostteil der Stadt plakatieren können. Sie konnten es! Sie erhielten dafür den Wetteinsatz in wohl nicht wenigen D-Mark bei ihrem nächsten Besuch hinter der schon löchrigen Grenzmauer ausgezahlt.
In Sachsen konnte der Verfasser dieser Zeilen selbst beobachten, wie mehrere Busse aus Bayern vollbesetzt mit jungen Leuten mit entsprechenden Plakaten und Spruchbändern über die Grenze kamen. Als dann noch Kanzler Kohl die »blühenden Landschaften« in Aussicht stellte, glaubte – wie oftmals in der Geschichte – der Großteil der Menschen den verheißungsvollen Versprechungen.
Mit Sicherheit wird es einige Ostdeutsche geben, die der Überzeugung sind, dass Verwunderung und Kritik am Vereinigungsprozess nur Beobachtungen und Bewertungen von nicht aus den bürgerrechtlichen Kreisen stammenden, demzufolge privilegiert sein müssenden Ex-DDR-Bürgern stammen können. Und dass das, was mit der Wahl am 18. März 1990 eintrat, schließlich Volkes Wille gewesen sei, an dessen Entscheidung der Westen keinen oder kaum Anteil gehabt habe. Allein der populistische Wahlkampf der Parteien aus dem Westen im Osten des noch zweigeteilten Landes spricht eine andere Sprache. Es bleibt das ungute Gefühl, dass es keine demokratisch abgesicherte Vereinigung war, denn weder im Osten noch im Westen wurde zu diesem tiefgreifenden gesellschaftlichen Umbau ein Plebiszit eingeholt.
Nunmehr liegt der Bericht eines Zeitzeugen vor, der an vorderster Stelle von der Ostseite her mit der »deutschen Einheit« befasst war. Im Range eines Staatssekretärs begleitete Matthias Gehler als Regierungssprecher des letzten Ministerpräsidenten der DDR, Lothar de Maizière, alle hochrangigen Delegationen zu politischen Gesprächen, die sowohl zur Abschaffung der DDR als auch zur »staatlichen Vereinigung« geführt wurden.
Sein mit Zitaten aus zeitgenössischen Dokumenten gespickter Bericht, der zu großen Teilen auf eigenen Aufzeichnungen beruht, zeigt auf, wie westdeutsche Politiker die letzte Regierung der DDR unter Druck setzten, um das angestrebte »einheitliche« Deutschland zu erschaffen. Genuine Interessen der Ostdeutschen im Vereinigungsprozess wurden zwar laut Gehler immer wieder von den ostdeutschen Delegationen zur Sprache gebracht, waren jedoch zumeist erfolglos. Das führte so weit, dass die dem Buch den Titel gebende Frage von einem einflussreichen Journalisten dem Regierungssprecher gestellt wurde.
Das in 14 Kapitel untergliederte Buch handelt in der Regel in chronologischer Abfolge wichtige Bereiche der Arbeit des Regierungssprechers in den letzten Wochen der DDR ab. Dabei kommen viele unbekannte oder vergessene Vorgänge ans Tageslicht, so z. B., dass die spätere Bundeskanzlerin Angela Merkel zu jener Zeit seine Stellvertreterin war, oder dass es einen recht groß angelegten Versuch von »Hongkong-Chinesen« gab, um der dem Ende entgegengehenden DDR gegen die Ausstellung von Pässen mit Millionen an D-Mark zu helfen. Das wurde abgelehnt; es gab keine Einbürgerung von zahlungskräftigen Ausländern. Heute ist das in der EU keine Seltenheit.
Am interessantes erscheint einem ostdeutschen Leser jedoch, wie Politiker aus dem Westen in den Lauf des Vereinigungsgeschehens, der eigentlich von der DDR-Bevölkerung bzw. deren im März 1990 gewählten Vertretern bestimmt werden sollte, eingriffen. So wünschte Graf von Lambsdorff von der FDP, dass der Paragraf, der die arbeitsrechtlichen Konsequenzen beim Betriebsübergang regelte, außer Kraft gesetzt wird, oder ein Minister aus Bonn wollte von Gehler, dass dieser für ihn persönlich eine Villa in Treptow besorgt. Auch die Rolle der zahlreichen »Berater wird kritisch beleuchtet. Vorsichtig rekapituliert der Verfasser, dass ihm zwar über »das Verhalten der Berater (…) aus den Ministerien zumeist Positives geschildert« worden sei. Aber es hätte »auch einige gegenteilige Erlebnisse« gegeben. Solche Eingriffe der Westberater in den Zuständigkeitsbereich der ostdeutschen Minister, die zuweilen auf Widerstand ihrer immerhin nicht nur pro forma ostdeutschen Dienstherren stießen, führten schließlich zum Ende der »großen Koalition« der ostdeutschen Übergangsregierung. Die ostdeutschen Regierungsvertreter, die das Schicksal eines ganzen Landes mit über 16 Millionen Einwohnern verhandelten, wurden als »Exoten«, als eine »Laienspielschar« von den Verhandlungspartnern aus Bonn betrachtet.
Immer wieder wird in den Schilderungen deutlich, wie Noch-DDR-Politiker von einer Vielzahl von »Beratern« (was in dieser Deutlichkeit vermutlich noch nie bekannt gemacht worden ist), »gelenkt« wurden. Diese wirkten »hinter den Kulissen« und leiteten Vieles in die Wege.
Der Einfluss und sogar Druck von der Regierung aus Bonn auf die letzte selbstständige ostdeutsche Regierung wurde so stark, dass der damalige Bildungs- und Wissenschaftsminister Hans Joachim Meyer in einer Rede im Jahre 2020 zu folgender Einschätzung kam: »Spätestens ab Anfang Juni 1990 konnte man allen Ernstes hören und lesen, wir sollten doch aufhören, die Verhältnisse in der DDR schrittweise ändern und bessern zu wollen. Das könnten sie mit bundesdeutscher Kompetenz und Erfahrung in der künftigen gesamtdeutschen Bundesrepublik dann doch selbst viel rascher und wirkungsvoller bewerkstelligen.«.
Auch weitere Kuriositäten im Einigungsprozess, die dann mehr oder minder Einfluss auf die Gestaltung des »Transformationsprozesses« hatten, werden genannt, so beispielsweise die weithin vermutete, aber hier bestätigte Tatsache, dass die Ost-CDU anders gewesen sei als die West-CDU und deren Chefs eine »herzliche Abneigung« verband.
Alles in allem ein interessanter, notwendiger Bericht eines aktiven Zeitzeugen, der an vorderster Stelle daran beteiligt war, die von ihm vertretene Regierung einerseits selbst abzuschaffen, andererseits bemüht war, ein gleichberechtigtes Miteinander von Ost- und Westdeutschen herzustellen. Wie die gegenwärtigen Debatten belegen, ist es den in den ersten freien Wahlen der DDR im März 1990 in Verantwortung getretenen Politikern nicht gelungen, die Aufgabe, zum Wohle der sie gewählten Bevölkerung zu agieren, zu erfüllen. Einige mögen über das Ergebnis der Herstellung der staatlichen Einheit Deutschlands zufrieden sein, aber es wird auch noch nach dreieinhalb Jahrzehnten immer deutlicher, dass diese »Einigung« einem paternalistisch angehauchten Kolonisierungsprozess stark ähnelt, wozu die autobiographischen Reminiszenzen des damaligen sicherlich nicht ohne Einfluss gewesenen Regierungssprechers Gehler einige weitere Fakten, quasi aus erster Hand, beisteuern. Und er hat in der festen Überzeugung gehandelt, dass er etwas Gutes für diejenigen tut, die ihn bzw. seine Partei gewählt hatten. Das kann man ihm glauben, aber die Frage, was gewesen wäre, wenn die ostdeutschen Verhandlungspartner vehementer zum Wohle ihres Wahlvolkes gehandelt hätten, stellt er nicht.
Matthias Gehler: »Wollen Sie die Einheit oder nicht?« Erinnerungen des Regierungssprechers, Edition Ost, Berlin 2024, 256 S., 18 €.