So lautet der Titel einer aktuellen Ausstellung im Jüdischen Museum Berlin. Im Ausstellungskatalog schreiben die Kuratorinnen einleitend, dass sie nicht beabsichtigten »einen vollständigen Überblick über die jüdischen Erfahrungen in Ostdeutschland zu geben«, sondern ein »unvollständiges Mosaik, als Auftakt zu einem Gespräch«.
Ich bezweifle, wie auch andere Insider (etwa Ellen Händler, Berliner Zeitung, 30.09.2023), dass die Ausstellungskonzeption dieses Ziel einlöst. Vor allem gelingt es nicht, Wesentliches über Traditionen, Motive, über das Alltagsleben von jüdischen Überlebenden und ihrer Familien in der DDR wenigstens in Umrissen zu erfassen und kritisch zu würdigen. Im Gegenteil, ob aus Unkenntnis oder aufgrund ideologisch bedingter Vorurteile wird der oft wenig kenntnisreiche Besucher darüber im Unklaren gelassen, welche erstaunliche Bedeutung jüdische Überlebende für die DDR-Geschichte wirklich hatten. Zudem werden viele tradierte Geschichtsklitterungen wiederholt, wie sie das eher abwertend-negative, offiziöse DDR-Bild nach 1990 prägen, wonach Juden in der DDR entweder loyal angepasst, stumm oder gar antisemitisch verfolgt und unterdrückt wurden und deshalb vielfach in den Westen gingen, um sich davon angeblich zu befreien. Dabei bleiben die wesentlichen Lebensleistungen der mehrheitlich dagebliebenen jüdischen Familien aus der DDR weitgehend unter dem Radar der Ausstellung.
Nachhaltig in Erinnerung geblieben ist mir nur ein einziger Raum, wo an einer unvollständigen Tafel einige Spielfilme, die in der DDR gedreht wurden, aufgelistet sind, die vorwiegend durch jüdische Künstler entstanden und sich direkt oder indirekt mit dem Völkermord an den Juden befassten, obwohl in der DDR weit über 1000 Dokumentarfilme und Spielfilme zur Auseinandersetzung mit der NS-Zeit gedreht wurden. Auf einer Leinwand können immerhin Ausschnitte aus wenigen DEFA-Spielfilmen gesehen werden. Kurioserweise hängt in diesem Raum auch noch ein lächerlich kleines Wandregal mit einigen alten Büchern aus der DDR an der Wand, die zu jüdischen Themen dort verlegt wurden; tatsächlich bildeten die künstlerischen, publizistischen und wissenschaftlichen Arbeiten von überlebenden Juden das kulturelle Fundament der gesamten Verlags- und Kunstgeschichte der DDR (siehe die Bibliografie von Renate Kirchner in: Detlef Joseph »Die Juden und die DDR«, Berlin 2009). Schließlich blieb mir noch ein beeindruckendes Gemälde von Barbara Honigmann in einem anderen Raum von Thomas Brasch in Erinnerung sowie berührende Gedichte von ihm im Katalog, die die Zerrissenheit seiner DDR-Erfahrungen ausdrückten. In die richtige Richtung wies zum Schluss für mich nur ein Beitrag im Katalog von Professorin Miriam Rürup unter dem Titel: »Plädoyer für eine deutsch-deutsch-jüdische Geschichte«. Aber diesem richtigen Anliegen wurde in der Ausstellung offenbar bewusst ausgewichen.
Was hätte in dieser Ausstellung konzeptionell m.E. hervorgehoben werden sollen, und wie hätten die Kuratorinnen sich dieses Themas »Juden in der DDR« annehmen müssen, um relativ unwissenden Besuchern ein substanzielles Bild über die Rolle jüdischer Familien in der DDR näher zu bringen? Dazu hätten m.E. folgende Fragen gestellt und möglichst differenzierte Antworten gegeben werden und, anhand von exemplarischen Persönlichkeitsporträts, dem Besucher anschaulich gemacht werden müssen. Das kann ich in dieser Kritik nur konzeptionell andeuten:
- Warum schloss sich ein nicht geringer Teil säkular gewordener Juden den Kommunisten, Sozialdemokraten und auch linken Zionisten an?
Antwort: Weil die Diskriminierung der Juden, die nationalistische Fremdenfeindlichkeit überhaupt und die soziale Unterdrückung der Lohnabhängigen seit jeher zwei Seiten einer gesellschaftlichen Medaille waren und sind. Die Überwindung der repressiven feudalen und bürgerlichen Klassengesellschaft und Klassenspaltung wurde als neuartige, identitätsstiftende Vision gegenwärtiger und zukünftiger Emanzipation beider sozialer Klassen und Schichten, der jüdischen wie der proletarischen, zurecht von Marx erkannt und als neue säkulare Weltanschauung theoretisch begründet, um im Hier und Jetzt und nicht erst im »Jenseits« ein menschenwürdiges Leben für alle zu verwirklichen. Engels schrieb in einem Brief an Isidor Ehrenfreund 1890: »Wir verdanken den Juden viel, zu viel. Von Heine und Börne zu schweigen, war Marx von stockjüdischem Blut; Lassalle war Jude. Viele unserer besten Leute sind Juden. (…) Wenn ich wählen könnte, dann lieber Jude, als ›Herr von‹.«
- Welche Rolle spielten diese linken Juden bei der Entstehung und Entwicklung der internationalen Arbeiter- und Sozialbewegungen?
Antwort: Ohne ihre Beiträge, ohne ihren bildungsbürgerlichen Hintergrund, wäre die damit verbundene Gesellschaftstheorie nicht entstanden. Ich erinnere etwa an Rosa Luxemburg, Leo Trotzki oder Isaak Deutscher.
- Welche Rolle spielten jüdische Überlebende im Kampf gegen Hitlerdeutschland?
Antwort: Sie lieferten als integraler Teil des nichtjüdischen Widerstandes für die alliierten Armeen kriegsentscheidende mentale, konzeptionelle und praktisch-militärische Beiträge zur Niederwerfung des NS-Systems, als Widerstandskämpfer in allen Befreiungsarmeen.
- Welche Beiträge lieferten jüdische Überlebende und ihre Familien zur DDR-Geschichte?
Antwort: Sie bildeten den Kern der antifaschistischen und sozialistischen Parteiintelligenz nach 1945 in der DDR. Dazu gehörten Politiker (z. B. H. Axen, A. Norden, A. Abusch, K. Gysi), Juristen (z. B. K. Kaul, A. Töplitz, F. Wolf), Gesellschaftswissenschaftler (z. B. H. Wolf, J. Kuczynski, A. Mäusel), Pädagogen (D. Wetterhahn), Publizisten (z. B. G. Eisler, G. Leo, M. Kahane), Schriftsteller (z. B. A. Seghers, A. Zweig, St. Hermlin, St. Heym, W. Biermann), Theaterschaffende (z. B. H. Weigel, W. Heinz), Musikschaffende (z. B. H. Eisler, P. Dessau, Th. Krahl), Sie waren mit vielen anderen jüdischen Überlebenden der 1. und 2. Generation oft politische und kulturelle Impulsgeber für die emanzipatorische Entwicklung in der DDR.
- Worin bestanden die wichtigsten Lebensleistungen und Hauptkonflikte dieser jüdischen Familien in der DDR?
Antwort: Neben (erstens) der antifaschistisch-sozialistischen, mentalen Neuorientierung der Ostdeutschen zur Überwindung der NS-Ideologie, der Verfolgung von Nazis in Wirtschaft, Staat und Gesellschaft und dem materiellen und geistigen Wiederaufbau der DDR sowie (zweitens) ohne ihre zähen Beiträge zur Demokratisierung der DDR, bei der Überwindung des Stalinismus und der Überwindung der Mauern des »Kalten Krieges« (z. B. St. Heym, St. Hermlin, W. Biermann, J. Becker usw.) stünde die Mauer wohl heute noch.
- Worin besteht u. a. das politische und kulturelle Erbe jüdischer Familien, die in der DDR lebten?
Antwort: »… der Zukunft zugewandt«, wie es in der vom Remigranten J. R. Becher gedichteten Nationalhymne der DDR hieß, waren m. E. folgende Tendenzen:
Die Gewalt auslösenden Klassenspaltungen zwischen Besitzenden und Besitzlosen, zwischen Arbeitern, Bauern und Intelligenz substanziell in Staat und Gesellschaft zurückzudrängen; Großkapital und Großgrundbesitzer zu enteignen und führende Nazis zu verfolgen; gleichzeitig wurde durch die Bodenreform Land an besitzlose Bauern verteilt.
Antifaschisten, und dazu gehörten auch gerade die zurückkehrten jüdischen Überlebenden, in Wunschberufe und Schlüsselpositionen von Staat und Gesellschaft zu fördern; dadurch entstand zugleich eine neue linke Intelligenzschicht in der DDR, die hochgradig sozial gefördert wurde.
Gleichberechtigte Beziehungen zwischen den Völkern und ethnischen Minderheiten herzustellen, also auch Antisemitismus und Rechtsradikalität viel restriktiver zu bekämpfen als in der Bundesrepublik;
Bürgerliche Bildungsprivilegien zu überwinden und Kunst und Kultur möglichst allen Bevölkerungsschichten zugänglich zu machen; d.h. die literarischen, wissenschaftlichen, theatralischen, filmischen, musikalischen, bildkünstlerischen, publizistischen Arbeiten, sowie KZ-Gedenkstätten in der DDR sind oft einmalige Zeugnisse und ein sehr wertvolles Erbe gerade auch jüdisch-deutscher Nachkriegsgeschichte, das allerdings nach 1990 weitgehend verdrängt wurde.
Ökonomischer Gleichberechtigung zwischen Frauen und Männern; Juden und Nichtjuden.
Arbeitslosigkeit zu überwinden und permanente, kostenlose Weiterbildungen für Frauen und Männer anzubieten.
Bezahlbaren Wohnraum zu schaffen und Obdachlosigkeit zu beseitigen.
Der Verlust aller dieser Errungenschaften kommt in der Ausstellung praktisch nicht zur Sprache. Stattdessen findet sich im Einleitungsartikel des Ausstellungskatalogs erneut folgendes gravierende Fehlurteil von Dr. Annette Leo, die das fragile Bemühen der Ausstellung fundamental infrage stellt, wenn sie später zwar auf »die guten Lebens- und Arbeitsbedingungen« von jüdischen Überlebenden in der DDR hinweist, aber dennoch wahrheitswidrig verallgemeinert, dass »die Jüdinnen und Juden und andere Verfolgtengruppen« in der DDR »keine Stimme mehr« hatten.
Ich frage mich, wie kommt etwa der nichtjüdische DDR-Karikaturist Harald Kretzschmar zu einem völlig gegenteiligen Urteil? »Juden in der DDR waren in ihrer Aktivität unüberhörbar, unübersehbar, unüberlesbar« (ND 7./8.1995). Zu einem solch würdigenden Satz konnten sich weder Dr. Annette Leo noch die Ausstellungsmacherinnen gegenüber den jüdischen Familien in der DDR durchringen.
Wenn ich abschließend bedenke, dass keine der Kuratorinnen der Ausstellung eine Sozialisationsgeschichte, gar eine jüdische, in der DDR aufzuweisen hat, wie fast alle Führungskräfte in ganz Ostdeutschland, dann drängt sich mir folgendes Urteil von Prof. James Riding, einem führenden Indianerforscher aus den USA über die dortige Geschichtsschreibung auf: »Die Kolonisatoren bestimmen die Geschichte (…). Sie haben die Voraussetzungen dafür: die Druckmaschinen, die Universitäten, die Regierung. Ja, selbst Geschichte wird von Regierung und Politik bestimmt« (J. Riding, Zeitschrift für Geschichte, 2, 2019, Kolonisatoren bestimmen Geschichte Nordamerikas, S.60-63).