Unmittelbar vor dem Beginn des neuen Jahres ließ der Leiter des Programms »Internationale Ordnung und Demokratie« der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, Dr. Stefan Meister, einen unüberhörbaren Kanonenböllerschlag in den medialen Silvesterhimmel aufsteigen und forderte in einem SPIEGEL-Interview, dass Deutschland einen politischen Wandel in Russland anstreben müsse: »Tiefer Regime Change in Moskau muss ein Ziel deutscher und europäischer Außen- und Sicherheitspolitik sein«, so der Politologe, der zuvor Direktor der Heinrich Böll Stiftung im südkaukasischen Tbilisi gewesen ist. Ein Regimewechsel zielt stets auf einen Wechsel einer von außen als negativ bewerteten Regierung ab und strebt deren Ablösung von einer als positiv bewerteten Regierung an. Im Zentrum dieses Prozesses stehen vor allem das Militär, der Verwaltungsapparat und andere für die Regierung bedeutende bürokratische Bereiche.
Regimewechsel hat es im vergangenen Jahrhundert immer wieder gegeben und sie beinhalteten stets zwei Seiten, einen Druck von außen und einen innergesellschaftlichen Druck. In gelungenen Fällen eines Regierungswechsels hat beides das bereits vorhandene Bedürfnis nach Wandel maßgeblich unterstützt und gefördert. Beispiele dafür sind die militärische Intervention der Antihitlerkoalition und der Sturz des südafrikanischen Apartheidregimes. Tatsächlich gibt es aber weit mehr gescheiterte Versuche von Regierungswechseln, und nur allzu oft nahmen solche Versuche für die betreffende Gesellschaft kein gutes Ende. Beispiele dafür sind die von der Sowjetunion und dem postsowjetischen Russland mit Gewalt erzwungenen (und auch verhinderten) Machtwechsel in den Teilrepubliken und in den angrenzenden Ländern sowie der von der Volksrepublik China erzwungene Regimewechsel in Honkong. Aber auch die von den USA unterstützten Regimewechsel im Irak, in Afghanistan und in lateinamerikanischen Ländern, deren Sündenfall der Sturz der frei gewählten chilenischen Regierung unter Salvador Allende war, in dessen Verlauf Tausende ermordet und Zehntausende gefoltert worden sind, gehören dazu. Abzugrenzen von solch erzwungenen Regimewechseln sind Transitionsprozesse von autoritären Regimen zu Demokratien, wie etwa der Übergang Spaniens von der Franco-Diktatur zu einer Demokratie.
Regimewechsel sind immer ein zweischneidiges Schwert, da sie neben dem postulierten Ziel stets auch eine Einmischung in innere Angelegenheiten eines Staates darstellen und gegen das völkerrechtliche Prinzip der nationalen Souveränität verstoßen. Regimewechsel sind in ihrer demokratietrunkenen Zielsetzung meist hoch aufgeladen und kommen in einem ethisch anständigen Kleid daher, während die Folgen eines solchen Desperadotums häufig verdrängt werden, weshalb dem politischen Agieren nur allzu oft ein dissoziativer Habitus anhaftet. Jüngstes Beispiel dafür ist der von einer extrem aufgeladenen Gesinnungsmoral getragene zwanzig Jahre andauernde Krieg in Afghanistan, der ein beängstigendes Bild in das kollektive Gedächtnis eingebrannt hat: Der Versuch, Afghanistan mit Gewalt zu demokratisieren ist gnadenlos gescheitert und hat demokratiefeindliche Trümmerberge hinterlassen, die aktuelle Regimewechselfantasien in anderen Teilen der Erde eigentlich im Keim ersticken sollten.
Bei einem von außen erzwungenen Regimewechsel in Russland wären insbesondere folgende Aspekte zu berücksichtigen: Russland ist flächenmäßig der größte Staat der Welt, es ist eine Atommacht, ständiges Mitglied im UN-Sicherheitsrat und weltpolitisch weit weniger isoliert, wie sich das die G7-Staaten wünschen würden. Hinzu kommt, dass die dringend notwendige globale Klimaschutzpolitik ohne Russland nicht möglich sein wird. Der Politikwissenschaftler Herfried Münkler rät somit dringend von einem Regime Change in Russland ab. Münkler war einer der Experten, die an dem vom Auswärtigen Amt durchgeführten Projekt »Review 2014 – Außenpolitik Weiter Denken« teilnahmen. Dabei betonte er, dass die deutsche Außenpolitik weniger an ihren Werten, als an ihren originären Interessen orientiert sei. Er forderte, das auch ehrlich zu kommunizieren, um die »demokratische Vulnerabilität« deutscher Außenpolitik zu mindern. Man muss kein Militärexperte sein, um zu verstehen, dass der Krieg in der Ukraine, so wie er seit fast einem Jahr geführt wird, weder von der Ukraine noch von Russland gewonnen werden kann. Es ist ein Krieg, der mit angezogener Handbremse geführt wird, da beide Seiten einen Dritten Weltkrieg (noch) ausschließen. Forderungen nach einer militärischen Ausweitung des Krieges und nach einem Regime Change in Russland bedienen die illusorische Vorstellung, dass mit militärischer Gewalt ein Zustand eintreten könnte, aus dem die anti-russische Koalition als Gewinner hervorgeht. Das ist in höchstem Maße verantwortungslos und ruft nach einem dringend notwendigen Regime Change in der eigenen Denkweise und Haltung. Möge diese Transformation 2023 bald erfolgen!