Der Regierende Bürgermeister Müller habe die Streichung Paul v. Hindenburgs aus der Ehrenbürgerliste Berlins veranlasst, verlautbarte die Senatskanzlei. Am 30. Januar hatte das Abgeordnetenhaus mit rot-rot-grüner Mehrheit entsprechend entschieden. Als damaliger Reichspräsident habe Hindenburg Adolf Hitler am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler berufen, anschließend Notverordnungen und Gesetze unterzeichnet, die den Reichstag entmachteten und den Nazis neue Machtmittel in die Hand gaben.
Eine gute, längst überfällige Entscheidung, die aber auch zu kritischen Anmerkungen herausfordert.
Bei den Berliner Straßennamen steht der Hindenburgdamm wohl (noch) nicht zur Debatte. Bayreuth, Bremen, Freiburg, Hannover, Mainz und Trier (unter anderen) hatten bisher ebenfalls kein Problem mit dem Namen des kaiserlichen Steigbügelhalters für Hitler.
Aachen, München, Frankfurt am Main und Heilbronn dagegen tilgten ihn bereits ab 1945/48. Die Stadtväter waren klüger geworden.
Wer nach Sylt reist, fährt über den sogenannten Hindenburgdamm. Immer noch. Der Namenspatron eröffnete ihn am 1. Juni 1927. Initiativen für eine andere Bezeichnung gab es nach 1945 immer wieder. Vergebens. Wen wundert‘s? In Westerland, wo die Bahnstrecke endet, konnte von 1951 bis 1964 ein gewisser Heinz Reinefarth Bürgermeister sein. Er war mit den Stimmen von CDU und dem Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten ins Rathaus gekommen. Die AfD gab es ja damals noch nicht.
Der ehemalige Generalleutnant der Waffen-SS und Polizei lebte auf der Insel der Reichen und Schönen unbehelligt, obwohl er seit 1944 in Polen als „Henker von Warschau« galt und für die Massaker bei der Niederschlagung des Warschauer Aufstandes verantwortlich war. Allein im Stadtteil Wola wurden 20.000 bis 50.000 Zivilisten erschossen. Dieser Kriegsverbrecher konnte gar noch 1958 Abgeordneter des Schleswig-Holsteinischen Landtages werden.
Die DEFA hatte 1957 mit dem Film »Urlaub auf Sylt« Reinefarths Vergangenheit thematisiert – selbstverständlich in der Altbundesrepublik wahrheitswidrig als kommunistische Propaganda abgetan.
Zwar zwangen folgenlose staatsanwaltliche Ermittlungen und öffentlicher Druck im Landtag diesen »Ehrenmann«, Landtagsmandat und Bürgermeisteramt zu quittieren, trotzdem wurde er im Rechtsstaat Bundesrepublik Deutschland ganz rechtsstaatlich als Rechtsanwalt zugelassen. Der zuständigen Anwaltskammer reichte es offenbar, dass der Antragsteller erklärte, er bekämpfe die freiheitliche demokratische Grundordnung in keiner Weise. Oder was sonst auf diese Weise abgefragt wurde.
Im Juli 2014 endlich bedauerte der Landtag von Schleswig-Holstein offiziell und öffentlich, »dass es nach 1945 in Schleswig-Holstein möglich werden konnte, dass ein Kriegsverbrecher Landtagsabgeordneter wird«. Die heutige Gemeinde Sylt stellte sich gleichfalls der Vergangenheit des ehemaligen Bürgermeisters von Westerland.
Zurück nach Berlin. Dort gab es – das sei anzumerken – nach 1945 zweierlei Ehrenbürgerschaften: eine im Sowjetischen Sektor, der späteren Hauptstadt der DDR, und die andere in den Westsektoren der viergeteilten Stadt. Dort hatten Amerikaner, Briten und Franzosen sowie das Abgeordnetenhaus mit dem Regierenden Bürgermeister das Sagen.
1948 konnte daher in Berlin-W dem ehemaligen Reichstagsabgeordneten und späteren Präsidenten der Deutschen Demokratischen Republik, Wilhelm Pieck, die 1946 verliehene Ehrenbürgerschaft wieder aberkannt werden. Der Kalte Krieg schrieb die ersten Kapitel.
Nach den Sonntagsreden über die Wiedervereinigung wurden ab 1990 ehemalige Ehrenbürger in Berlin-O »aufgearbeitet«. Begründet in der Kaltekriegspolitik West.
Zu den Geschassten gehörte Generaloberst Nikolai Bersarin. Die nach ihm benannte Straße zwischen Landsberger Allee und Frankfurter Tor war bereits 1991 flugs umbenannt worden. Die 1975 posthum verliehene Ehrenbürgerschaft wurde 1992 bei der Zusammenführung beider Listen nicht übernommen. Der Befehlshaber der 5. sowjetischen Stoßarmee, die am 21. April 1945 in Marzahn als erste die Stadtgrenze erreicht hatte, war in russischer Militärtradition Stadtkommandant geworden. Mit seinem Befehl Nummer 1 vom 28. April 1945 ging die verwaltungsmäßige und politische Macht auf die Stadtkommandantur über. Deutsche Beamte, Angestellte und Arbeiter wurden zum Verbleib an ihren Arbeitsstätten und zur sofortigen Wiederaufnahme aller Versorgungstätigkeiten aufgefordert. Den Angehörigen der Roten Armee untersagte Bersarin jede irreguläre Handlung. Seit 2003 wird Nikolai Bersarin wieder als Ehrenbürger geführt. Der Makel bundesdeutscher und Berliner Geschichtsrevision bleibt. Vielen anderen bleibt die Ehrenbürgerschaft fortdauernd aberkannt.
Michail Jegorow und Meliton Kantarija zum Beispiel. Sie gehörten zu den Soldaten der Roten Armee, die den Reichstag eroberten und am 30. April 1945 gegen 23 Uhr die ihnen übergebene rote Fahne hissten. Der sowjetische Schriftsteller Wassili Subbotin hat diese Episode als ehemaliger Frontkorrespondent einer Divisionszeitung in »Wir stürmten den Reichstag« (Militärverlag der DDR 1980) festgehalten.
Es geht wohl über den Horizont von Politikern, sich der Historie nicht nur in Berlin mit menschlichem Anstand zu stellen und sie nicht nur einäugig zu betrachten.
Die »Truman-Plaza« in Berlin-Zehlendorf wäre in diesem Kontext anzuführen. Harry S. Truman befahl als Präsident der USA die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki – ein unsäglicher Massenmord.
Ehre, wem Ehre gebührt. Nicht jeder Geehrte ist aller Ehren wert. Nicht jeder Geschasste unwürdig. Die Causa Hindenburg & Co. zeigt es einmal mehr.