I.
Erst nach dem 7. Oktober 2023 wurde weltweit publik, dass der israelische Premierminister Netanjahu die Terrororganisation Hamas unterstützte, um die Palästinenser zu spalten und so einen Palästinenserstaat zu verhindern. Einer seiner Vorgänger, Ehud Barak, sagte im Interview mit dem SPIEGEL (43/2023): »Benjamin Netanjahu und seine rechten Regierungen haben die Hamas jahrelang indirekt gefördert. Sie haben es zugelassen, dass Geld aus Katar in den Gazastreifen fließt. Dahinter steckte eine Strategie.« Solange es die Hamas gebe, so Barak, konnte Netanjahu immer behaupten, man könne mit den Palästinensern nicht verhandeln, denn Mahmoud Abbas, der Präsident der Palästinensischen Autonomiebehörde, »kontrolliere die Hälfte der Bevölkerung ja nicht, und mit der Terrororganisation Hamas rede man nicht. (…) Er wollte um jeden Preis verhindern, dass ein palästinensischer Staat entsteht.« Zigtausende von Toten sind inzwischen das Ergebnis dieser fürchterlichen Dummheit von einer »Strategie«. Das andere ist, dass Politiker und Militärs aller Staaten und Weltgegenden nicht begreifen, dass man gegen den Terror nicht gewinnen kann. Man musste nur die von den Hamas-Terroristen von sich gemachten Bilder und Videos genau ansehen, ihre strahlend triumphierenden Gesichter, dann wurde sofort klar: Der Terrorist kann gar nicht verlieren, denn er hat im Augenblick seines Anschlags schon gewonnen, und zwar ganz unabhängig davon, wie viele Opfer und welche Folgen dieser – auch für ihn selbst – haben wird. Die Tat selbst ist schon der Sieg. Terrorismus ist, was manche Philosophen sehr nüchtern und formalistisch »reine Performanz« nennen.
Terror, so heißt es oft, ist die Waffe der Ohnmächtigen. Es gibt zwei Arten: die resignative Ohnmacht und die in Terrorakten verzweifelt sich auflehnende Ohnmacht. Zwar können beide ineinander übergehen, aber gegen den Terror ist kein Kraut gewachsen. Keine technologisch noch so hoch gerüstete Militärmaschine, kein Geheimdienst, keine Regierung kommt gegen ihn an; schon deshalb nicht, weil sie alle blind sind für die Ohnmacht – die ja in aller Regel von ihnen selber erzeugt ist. Armut, Verzweiflung und Ohnmacht fallen ja nicht vom Himmel einfach so.
Schon im Vietnamkrieg mussten die USA einsehen, dass sie einen asymmetrischen Krieg trotz aller militärtechnologischen Überlegenheit nicht gewinnen können. Und Terror ist noch asymmetrischer als Guerilla, er ist die maximale Asymmetrie zwischen dem größten faktischen militärischen Potential hier und subjektiv gefühlter absoluter Ohnmacht dort. Deshalb hält sich Terror, auch wenn er selber ad hoc seine jeweilige Strategie hervorbringt, an keinerlei Regeln im Konflikt; jedes Mittel ist ihm recht. Abscheulichkeit, Brutalität, Grausamkeit, Barbarei sind für ihn keine abzulehnenden Kategorien, denn er selber sieht sich als deren Ergebnis. Der Terrorist muss dabei nicht persönlich arm sein, es genügt, dass er sich etwa qua Herkunft oder Religion mit den Verzweifelten und Ohnmächtigen identifiziert. Politikern und Militärs fällt es extrem schwer, so etwas einzusehen, weil sie die Motivation als eine Form von schierer Bosheit und Irrationalität kategorisieren. Deshalb machen sie immer wieder die gleichen dummen Fehler.
II.
Die Eröffnungsrede von Slavoj Zizek zur Frankfurter Buchmesse am 17. Oktober 2023 rief viel Kritik hervor, Eva Illouz antwortete ihm ausführlich in der Süddeutschen Zeitung (28./29.10.2023). »Moralisches Empfinden, bürgerliches Recht und internationales Recht«, schrieb sie, »machen eine klare Unterscheidung zwischen verschiedenen Tötungsarten. Kollateralschäden – ein erschreckend unpersönlicher Begriff – unterscheiden sich moralisch und rechtlich von der Enthauptung von Kindern, weil ein anderes Maß an Absicht und direkter Verantwortung dahintersteht.« Illouz’ Behauptungen über »moralisches Empfingen« und das »Maß an Absicht und direkter Verantwortung« sind schlicht falsch. Moralisches Empfinden ist keine objektive Größe, sondern stets subjektiv-individuell und kontingent. Was der einen moralisch geboten erscheint, gilt dem anderen als verwerflich. Wenn ein vierzehnjähriger Junge in Gaza seine Mutter und seine zwei kleinen Schwestern im israelischen Bombenhagel verloren hat, dann ist es ihm egal, ob das ein von Frau Illouz gerechtfertigter »Kollateralschaden« ist. Er meldet sich bei nächster Gelegenheit beim Hamas-Rekrutierungsbüro. Am 12. Mai warnte der Europa-Politiker Manfred Weber (CSU) in einer Talkrunde im Bayerischen Fernsehen die israelische Regierung: »Hört auf, die nächste Hamas-Generation heranzuzüchten.« Wenn ein konservativer Politiker auf diese Weise warnt, dann ist das ein sicheres Zeichen, dass das, wovor er warnt, längst geschieht. Es ist ein Rätsel, dass die israelischen Politiker und Militärs und sogar Soziologen wie Eva Illouz nicht begreifen, dass gegenwärtig die nächste Generation der Hamas-Kämpfer rekrutiert wird, die in 10, 15 oder 20 Jahren den 7. Oktober wiederholen. Dass Israel auf diese Weise gegen die Hamas gar nicht gewinnen kann, ist sonnenklar, aber sie alle wollen es einfach nicht sehen.
Aber Israel ist die einzige Demokratie im Nahen Osten, heißt es immer wieder. Man vergisst dabei, dass Demokratien, die foltern und die Menschenrechte verraten, wertlos sind. Israel ist dabei durchaus nicht das einzige Beispiel.
III.
Dem Islamismus, insbesondere dem islamischen Terrorismus sagt man oft nach, dass er ein vormodernes Phänomen sei, dem das geistige Fundament der westlichen Aufklärung fehle und das sich gegen die in der Aufklärung hervorgebrachten »westlichen Werte« und Lebensformen wende. John Grey widerlegte diese Sicht in seinem Buch Die Geburt al-Qaidas aus dem Geist der Moderne (2003) und zeigte, inwiefern dieser Terror selbst ein modernes Phänomen und quasi ein Zwilling der westlichen Moderne ist. Zu seinen auf moderner Wissenschaft basierenden technologischen Mitteln gehört alles, was der Markt zu bieten hat. Und er kann sich selbst ganz rational raumzeitlich organisieren, so ähnlich wie Mafiaorganisationen – oder so wie die Staatsgewalt, die ihn als »Gegengewalt« hervorbringt.
Beispiele: 1953 inszenierten USA und Großbritannien eine Revolte gegen den iranischen Ministerpräsidenten Mossadegh, weil dieser einen Teil der iranischen Ölquellen, die im Besitz britischer Firmen waren, verstaatlichen wollte. Sie installierten den Schah Reza Pahlewi als neuen Herrscher, unter dessen Diktatur der Geheimdienst Savak eine extreme Brutalität entwickelte, die 1979 schließlich zum Sturz des Schah-Regimes durch die Bevölkerung unter Führung von religiösen Autoritäten führte, deren bedeutendste Ajatollah Khomeini war. Das imperialistische Agieren von USA und Großbritannien ist also die Ursache dafür, dass seither die Mullahs in der Islamischen Republik Iran regieren.
In Afghanistan geriet Ende der 70er Jahre die kommunistische Regierung, die die sozialen und wirtschaftlichen Probleme nicht lösen konnte, immer mehr unter Druck, weshalb sie die UdSSR um Hilfe bat. Diese marschierte mit Streitkräften ein, was den Westen dazu bewog, nicht nur die Olympischen Spiele in Moskau 1980 zu boykottieren, sondern auch islamistische Extremisten und Terroristen wie Osama Bin Laden finanziell und militärisch zu unterstützen, die mit Terroranschlägen der kommunistischen Regierung und dem russischen Militär ein Debakel bereiteten. Russland gab auf und zog sich zurück. Osama Bin Laden aber machte weiter und folgte dem Befehl seines Gottes, die Ungläubigen zu bekämpfen, nur diesmal eben die USA. Man nannte das Ereignis, das wiederum performativ schon sein Erfolg war, kurz und prägnant 9/11. Selten wurde ein Bild so schnell ikonisch wie das vom Aufprall des Flugzeugs im Südturm. Auch dieser Terror, den die USA vor lauter Dummheit selber ins Leben gerufen hatten, zeigt, weshalb man gegen ihn nicht gewinnen kann. Aber das hat der Westen mit seiner bornierten militärischen Logik bis heute nicht verstanden. Er will es nicht verstehen, weil das hieße, etwas an der eigenen imperialen Lebensform zu ändern. Jeder Lernprozess wird abgewehrt mit der (wiederum dummen) Behauptung, Verstehen impliziere Rechtfertigung. Gore Vidal schrieb 2002 sein Buch Ewiger Krieg für ewigen Frieden. Wie Amerika den Hass erntet, den es gesät hat. Es wurde so gut wie nicht zur Kenntnis genommen. Man interessierte sich nicht dafür. Im Gegenteil, man legte beim Säen des Hasses noch einen Zahn zu. 2002 kam nämlich die nächste amerikanische Dummheit, der »war on terror«. Die US-Regierung bezichtigte den Irak der Herstellung von Massenvernichtungswaffen. Im UN-Sicherheitsrat präsentierte ihr Außenminister Colin Powell (der sich Jahre später dafür entschuldigte, was zu seiner Ehrenrettung angemerkt werden muss, denn Politiker tun das in aller Regel nicht) gefälschte Beweise, um die Rechtfertigung für eine Invasion zu haben. Der Krieg endete damit, dass in Irak ein politisches Vakuum entstand, in dem sich die sich selbst »Islamischer Staat« nennende Terrororganisation in der gesamten Region ausbreiten konnte, ein Ergebnis westlicher Politik. Den Krieg gegen den Terror führte auch Präsident Obama mit seinen tödlichen Drohnenangriffen (targeted killings) gegen »mutmaßliche Terroristen« in aller Welt weiter. Es geht dabei nicht darum, dass jemand einer terroristischen Straftat überführt ist, wie dies ein jeder Rechtsstaat verlangt, sondern es geht darum, verdächtige Personen in großer Zahl zu töten. Dazu nimmt man auch den Tod unbeteiligter Menschen in Kauf, die sich zufällig beim Raketeneinschlag in der Umgebung des Opfers aufhalten. Die Angaben darüber, wie viele unbeteiligte Zivilisten Obama während seiner Amtszeit jährlich als Kollateralschaden umbringen ließ, schwanken zwar erheblich, je nachdem ob sie von Menschenrechtsorganisationen oder von Regierungsseite kommen, jedoch ist Begeisterung für den Friedensnobelpreisträger Obama wohl nur in Unkenntnis oder durch Leugnung dieser Tatsachen möglich. Am 18.11.2015 schrieben ihm die vier ehemaligen Drohnenpiloten Brandan Bryant, Cian Westmoreland, Stephen Lewis und Michael Haas einen (auch in der ZEIT abgedruckten) offenen Brief: »Wir sind ehemalige Angehörige der US-Luftwaffe. Wir schlossen uns der Air Force mit dem Ziel an, die Leben von Amerikanern sowie unsere Verfassung zu schützen. Aber im Laufe der Zeit ist uns klar geworden, dass der Umstand, dass wir unschuldige Zivilisten töten, die Hassgefühle nur befeuert, die den Terror und Gruppen wie den ›Islamischen Staat‹ (IS) antreiben (…). Diese Regierung und ihre Vorgängerregierung haben ein Drohnenprogramm aufgesetzt, das eine der verheerendsten Triebfedern des Terrorismus und der Destabilisierung weltweit ist.«
Iran, Afghanistan, Irak, Libyen und der Drohnenkrieg zeigen eindrucksvoll, wie der Westen immer wieder versucht, seine Interessen mit brachialer Gewalt durchzusetzen – und dabei alles vermasselt. Der islamistische Terror ist ein Ergebnis der Politik des »freien Westens«. Das Wort Freiheit dient dabei als Camouflage für die verdeckte oder offene Gewalt des Westens. Hinter seiner imperialen Dummheit hinkt stets der Terrorismus einher wie einst die Syphilis hinter der katholischen Sexualmoral. Schon damals war nicht feststellbar, welches die schlimmere Geißel für die Menschheit war. Gewiss ist nur, dass weder der Terror noch die Dummheit auf demokratischem Wege abwählbar sind. Vielleicht jedoch kommt der Terror so mancher Regierung zuweilen auch ganz gelegen, denn er gibt ja immer wieder Anlass zu weiteren »Interventionen« und zu Gewalt – einer imperialen Gewalt, die seit 1492 der DNA europäischer Mächte und ihres nordamerikanischen Ablegers eingeschrieben ist wie sonst (außer Geld, versteht sich) kein anderer der »westlichen Werte«.