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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Dummheit und Terrorismus

I.

Erst nach dem 7. Okto­ber 2023 wur­de welt­weit publik, dass der israe­li­sche Pre­mier­mi­ni­ster Netan­ja­hu die Ter­ror­or­ga­ni­sa­ti­on Hamas unter­stütz­te, um die Palä­sti­nen­ser zu spal­ten und so einen Palä­sti­nen­ser­staat zu ver­hin­dern. Einer sei­ner Vor­gän­ger, Ehud Barak, sag­te im Inter­view mit dem SPIEGEL (43/​2023): »Ben­ja­min Netan­ja­hu und sei­ne rech­ten Regie­run­gen haben die Hamas jah­re­lang indi­rekt geför­dert. Sie haben es zuge­las­sen, dass Geld aus Katar in den Gaza­strei­fen fließt. Dahin­ter steck­te eine Stra­te­gie.« Solan­ge es die Hamas gebe, so Barak, konn­te Netan­ja­hu immer behaup­ten, man kön­ne mit den Palä­sti­nen­sern nicht ver­han­deln, denn Mah­moud Abbas, der Prä­si­dent der Palä­sti­nen­si­schen Auto­no­mie­be­hör­de, »kon­trol­lie­re die Hälf­te der Bevöl­ke­rung ja nicht, und mit der Ter­ror­or­ga­ni­sa­ti­on Hamas rede man nicht. (…) Er woll­te um jeden Preis ver­hin­dern, dass ein palä­sti­nen­si­scher Staat ent­steht.« Zig­tau­sen­de von Toten sind inzwi­schen das Ergeb­nis die­ser fürch­ter­li­chen Dumm­heit von einer »Stra­te­gie«. Das ande­re ist, dass Poli­ti­ker und Mili­tärs aller Staa­ten und Welt­ge­gen­den nicht begrei­fen, dass man gegen den Ter­ror nicht gewin­nen kann. Man muss­te nur die von den Hamas-Ter­ro­ri­sten von sich gemach­ten Bil­der und Vide­os genau anse­hen, ihre strah­lend tri­um­phie­ren­den Gesich­ter, dann wur­de sofort klar: Der Ter­ro­rist kann gar nicht ver­lie­ren, denn er hat im Augen­blick sei­nes Anschlags schon gewon­nen, und zwar ganz unab­hän­gig davon, wie vie­le Opfer und wel­che Fol­gen die­ser – auch für ihn selbst – haben wird. Die Tat selbst ist schon der Sieg. Ter­ro­ris­mus ist, was man­che Phi­lo­so­phen sehr nüch­tern und for­ma­li­stisch »rei­ne Per­for­manz« nennen.

Ter­ror, so heißt es oft, ist die Waf­fe der Ohn­mäch­ti­gen. Es gibt zwei Arten: die resi­gna­ti­ve Ohn­macht und die in Ter­ror­ak­ten ver­zwei­felt sich auf­leh­nen­de Ohn­macht. Zwar kön­nen bei­de inein­an­der über­ge­hen, aber gegen den Ter­ror ist kein Kraut gewach­sen. Kei­ne tech­no­lo­gisch noch so hoch gerü­ste­te Mili­tär­ma­schi­ne, kein Geheim­dienst, kei­ne Regie­rung kommt gegen ihn an; schon des­halb nicht, weil sie alle blind sind für die Ohn­macht – die ja in aller Regel von ihnen sel­ber erzeugt ist. Armut, Ver­zweif­lung und Ohn­macht fal­len ja nicht vom Him­mel ein­fach so.

Schon im Viet­nam­krieg muss­ten die USA ein­se­hen, dass sie einen asym­me­tri­schen Krieg trotz aller mili­tär­tech­no­lo­gi­schen Über­le­gen­heit nicht gewin­nen kön­nen. Und Ter­ror ist noch asym­me­tri­scher als Gue­ril­la, er ist die maxi­ma­le Asym­me­trie zwi­schen dem größ­ten fak­ti­schen mili­tä­ri­schen Poten­ti­al hier und sub­jek­tiv gefühl­ter abso­lu­ter Ohn­macht dort. Des­halb hält sich Ter­ror, auch wenn er sel­ber ad hoc sei­ne jewei­li­ge Stra­te­gie her­vor­bringt, an kei­ner­lei Regeln im Kon­flikt; jedes Mit­tel ist ihm recht. Abscheu­lich­keit, Bru­ta­li­tät, Grau­sam­keit, Bar­ba­rei sind für ihn kei­ne abzu­leh­nen­den Kate­go­rien, denn er sel­ber sieht sich als deren Ergeb­nis. Der Ter­ro­rist muss dabei nicht per­sön­lich arm sein, es genügt, dass er sich etwa qua Her­kunft oder Reli­gi­on mit den Ver­zwei­fel­ten und Ohn­mäch­ti­gen iden­ti­fi­ziert. Poli­ti­kern und Mili­tärs fällt es extrem schwer, so etwas ein­zu­se­hen, weil sie die Moti­va­ti­on als eine Form von schie­rer Bos­heit und Irra­tio­na­li­tät kate­go­ri­sie­ren. Des­halb machen sie immer wie­der die glei­chen dum­men Fehler.

II.

Die Eröff­nungs­re­de von Sla­voj Zizek zur Frank­fur­ter Buch­mes­se am 17. Okto­ber 2023 rief viel Kri­tik her­vor, Eva Ill­ouz ant­wor­te­te ihm aus­führ­lich in der Süd­deut­schen Zei­tung (28./29.10.2023). »Mora­li­sches Emp­fin­den, bür­ger­li­ches Recht und inter­na­tio­na­les Recht«, schrieb sie, »machen eine kla­re Unter­schei­dung zwi­schen ver­schie­de­nen Tötungs­ar­ten. Kol­la­te­ral­schä­den – ein erschreckend unper­sön­li­cher Begriff – unter­schei­den sich mora­lisch und recht­lich von der Ent­haup­tung von Kin­dern, weil ein ande­res Maß an Absicht und direk­ter Ver­ant­wor­tung dahin­ter­steht.« Ill­ouz’ Behaup­tun­gen über »mora­li­sches Emp­fin­gen« und das »Maß an Absicht und direk­ter Ver­ant­wor­tung« sind schlicht falsch. Mora­li­sches Emp­fin­den ist kei­ne objek­ti­ve Grö­ße, son­dern stets sub­jek­tiv-indi­vi­du­ell und kon­tin­gent. Was der einen mora­lisch gebo­ten erscheint, gilt dem ande­ren als ver­werf­lich. Wenn ein vier­zehn­jäh­ri­ger Jun­ge in Gaza sei­ne Mut­ter und sei­ne zwei klei­nen Schwe­stern im israe­li­schen Bom­ben­ha­gel ver­lo­ren hat, dann ist es ihm egal, ob das ein von Frau Ill­ouz gerecht­fer­tig­ter »Kol­la­te­ral­scha­den« ist. Er mel­det sich bei näch­ster Gele­gen­heit beim Hamas-Rekru­tie­rungs­bü­ro. Am 12. Mai warn­te der Euro­pa-Poli­ti­ker Man­fred Weber (CSU) in einer Talk­run­de im Baye­ri­schen Fern­se­hen die israe­li­sche Regie­rung: »Hört auf, die näch­ste Hamas-Gene­ra­ti­on her­an­zu­züch­ten.« Wenn ein kon­ser­va­ti­ver Poli­ti­ker auf die­se Wei­se warnt, dann ist das ein siche­res Zei­chen, dass das, wovor er warnt, längst geschieht. Es ist ein Rät­sel, dass die israe­li­schen Poli­ti­ker und Mili­tärs und sogar Sozio­lo­gen wie Eva Ill­ouz nicht begrei­fen, dass gegen­wär­tig die näch­ste Gene­ra­ti­on der Hamas-Kämp­fer rekru­tiert wird, die in 10, 15 oder 20 Jah­ren den 7. Okto­ber wie­der­ho­len. Dass Isra­el auf die­se Wei­se gegen die Hamas gar nicht gewin­nen kann, ist son­nen­klar, aber sie alle wol­len es ein­fach nicht sehen.

Aber Isra­el ist die ein­zi­ge Demo­kra­tie im Nahen Osten, heißt es immer wie­der. Man ver­gisst dabei, dass Demo­kra­tien, die fol­tern und die Men­schen­rech­te ver­ra­ten, wert­los sind. Isra­el ist dabei durch­aus nicht das ein­zi­ge Beispiel.

III.

Dem Isla­mis­mus, ins­be­son­de­re dem isla­mi­schen Ter­ro­ris­mus sagt man oft nach, dass er ein vor­mo­der­nes Phä­no­men sei, dem das gei­sti­ge Fun­da­ment der west­li­chen Auf­klä­rung feh­le und das sich gegen die in der Auf­klä­rung her­vor­ge­brach­ten »west­li­chen Wer­te« und Lebens­for­men wen­de. John Grey wider­leg­te die­se Sicht in sei­nem Buch Die Geburt al-Qai­das aus dem Geist der Moder­ne (2003) und zeig­te, inwie­fern die­ser Ter­ror selbst ein moder­nes Phä­no­men und qua­si ein Zwil­ling der west­li­chen Moder­ne ist. Zu sei­nen auf moder­ner Wis­sen­schaft basie­ren­den tech­no­lo­gi­schen Mit­teln gehört alles, was der Markt zu bie­ten hat. Und er kann sich selbst ganz ratio­nal raum­zeit­lich orga­ni­sie­ren, so ähn­lich wie Mafia­or­ga­ni­sa­tio­nen – oder so wie die Staats­ge­walt, die ihn als »Gegen­ge­walt« hervorbringt.

Bei­spie­le: 1953 insze­nier­ten USA und Groß­bri­tan­ni­en eine Revol­te gegen den ira­ni­schen Mini­ster­prä­si­den­ten Mos­sa­degh, weil die­ser einen Teil der ira­ni­schen Ölquel­len, die im Besitz bri­ti­scher Fir­men waren, ver­staat­li­chen woll­te. Sie instal­lier­ten den Schah Reza Pah­le­wi als neu­en Herr­scher, unter des­sen Dik­ta­tur der Geheim­dienst Savak eine extre­me Bru­ta­li­tät ent­wickel­te, die 1979 schließ­lich zum Sturz des Schah-Regimes durch die Bevöl­ke­rung unter Füh­rung von reli­giö­sen Auto­ri­tä­ten führ­te, deren bedeu­tend­ste Aja­tol­lah Kho­mei­ni war. Das impe­ria­li­sti­sche Agie­ren von USA und Groß­bri­tan­ni­en ist also die Ursa­che dafür, dass seit­her die Mul­lahs in der Isla­mi­schen Repu­blik Iran regieren.

In Afgha­ni­stan geriet Ende der 70er Jah­re die kom­mu­ni­sti­sche Regie­rung, die die sozia­len und wirt­schaft­li­chen Pro­ble­me nicht lösen konn­te, immer mehr unter Druck, wes­halb sie die UdSSR um Hil­fe bat. Die­se mar­schier­te mit Streit­kräf­ten ein, was den Westen dazu bewog, nicht nur die Olym­pi­schen Spie­le in Mos­kau 1980 zu boy­kot­tie­ren, son­dern auch isla­mi­sti­sche Extre­mi­sten und Ter­ro­ri­sten wie Osa­ma Bin Laden finan­zi­ell und mili­tä­risch zu unter­stüt­zen, die mit Ter­ror­an­schlä­gen der kom­mu­ni­sti­schen Regie­rung und dem rus­si­schen Mili­tär ein Deba­kel berei­te­ten. Russ­land gab auf und zog sich zurück. Osa­ma Bin Laden aber mach­te wei­ter und folg­te dem Befehl sei­nes Got­tes, die Ungläu­bi­gen zu bekämp­fen, nur dies­mal eben die USA. Man nann­te das Ereig­nis, das wie­der­um per­for­ma­tiv schon sein Erfolg war, kurz und prä­gnant 9/​11. Sel­ten wur­de ein Bild so schnell iko­nisch wie das vom Auf­prall des Flug­zeugs im Süd­turm. Auch die­ser Ter­ror, den die USA vor lau­ter Dumm­heit sel­ber ins Leben geru­fen hat­ten, zeigt, wes­halb man gegen ihn nicht gewin­nen kann. Aber das hat der Westen mit sei­ner bor­nier­ten mili­tä­ri­schen Logik bis heu­te nicht ver­stan­den. Er will es nicht ver­ste­hen, weil das hie­ße, etwas an der eige­nen impe­ria­len Lebens­form zu ändern. Jeder Lern­pro­zess wird abge­wehrt mit der (wie­der­um dum­men) Behaup­tung, Ver­ste­hen impli­zie­re Recht­fer­ti­gung. Gore Vidal schrieb 2002 sein Buch Ewi­ger Krieg für ewi­gen Frie­den. Wie Ame­ri­ka den Hass ern­tet, den es gesät hat. Es wur­de so gut wie nicht zur Kennt­nis genom­men. Man inter­es­sier­te sich nicht dafür. Im Gegen­teil, man leg­te beim Säen des Has­ses noch einen Zahn zu. 2002 kam näm­lich die näch­ste ame­ri­ka­ni­sche Dumm­heit, der »war on ter­ror«. Die US-Regie­rung bezich­tig­te den Irak der Her­stel­lung von Mas­sen­ver­nich­tungs­waf­fen. Im UN-Sicher­heits­rat prä­sen­tier­te ihr Außen­mi­ni­ster Colin Powell (der sich Jah­re spä­ter dafür ent­schul­dig­te, was zu sei­ner Ehren­ret­tung ange­merkt wer­den muss, denn Poli­ti­ker tun das in aller Regel nicht) gefälsch­te Bewei­se, um die Recht­fer­ti­gung für eine Inva­si­on zu haben. Der Krieg ende­te damit, dass in Irak ein poli­ti­sches Vaku­um ent­stand, in dem sich die sich selbst »Isla­mi­scher Staat« nen­nen­de Ter­ror­or­ga­ni­sa­ti­on in der gesam­ten Regi­on aus­brei­ten konn­te, ein Ergeb­nis west­li­cher Poli­tik. Den Krieg gegen den Ter­ror führ­te auch Prä­si­dent Oba­ma mit sei­nen töd­li­chen Droh­nen­an­grif­fen (tar­ge­ted kil­lings) gegen »mut­maß­li­che Ter­ro­ri­sten« in aller Welt wei­ter. Es geht dabei nicht dar­um, dass jemand einer ter­ro­ri­sti­schen Straf­tat über­führt ist, wie dies ein jeder Rechts­staat ver­langt, son­dern es geht dar­um, ver­däch­ti­ge Per­so­nen in gro­ßer Zahl zu töten. Dazu nimmt man auch den Tod unbe­tei­lig­ter Men­schen in Kauf, die sich zufäl­lig beim Rake­ten­ein­schlag in der Umge­bung des Opfers auf­hal­ten. Die Anga­ben dar­über, wie vie­le unbe­tei­lig­te Zivi­li­sten Oba­ma wäh­rend sei­ner Amts­zeit jähr­lich als Kol­la­te­ral­scha­den umbrin­gen ließ, schwan­ken zwar erheb­lich, je nach­dem ob sie von Men­schen­rechts­or­ga­ni­sa­tio­nen oder von Regie­rungs­sei­te kom­men, jedoch ist Begei­ste­rung für den Frie­dens­no­bel­preis­trä­ger Oba­ma wohl nur in Unkennt­nis oder durch Leug­nung die­ser Tat­sa­chen mög­lich. Am 18.11.2015 schrie­ben ihm die vier ehe­ma­li­gen Droh­nen­pi­lo­ten Bran­dan Bryant, Cian West­mo­r­eland, Ste­phen Lewis und Micha­el Haas einen (auch in der ZEIT abge­druck­ten) offe­nen Brief: »Wir sind ehe­ma­li­ge Ange­hö­ri­ge der US-Luft­waf­fe. Wir schlos­sen uns der Air Force mit dem Ziel an, die Leben von Ame­ri­ka­nern sowie unse­re Ver­fas­sung zu schüt­zen. Aber im Lau­fe der Zeit ist uns klar gewor­den, dass der Umstand, dass wir unschul­di­ge Zivi­li­sten töten, die Hass­ge­füh­le nur befeu­ert, die den Ter­ror und Grup­pen wie den ›Isla­mi­schen Staat‹ (IS) antrei­ben (…). Die­se Regie­rung und ihre Vor­gän­ger­re­gie­rung haben ein Droh­nen­pro­gramm auf­ge­setzt, das eine der ver­hee­rend­sten Trieb­fe­dern des Ter­ro­ris­mus und der Desta­bi­li­sie­rung welt­weit ist.«

Iran, Afgha­ni­stan, Irak, Liby­en und der Droh­nen­krieg zei­gen ein­drucks­voll, wie der Westen immer wie­der ver­sucht, sei­ne Inter­es­sen mit bra­chia­ler Gewalt durch­zu­set­zen – und dabei alles ver­mas­selt. Der isla­mi­sti­sche Ter­ror ist ein Ergeb­nis der Poli­tik des »frei­en Westens«. Das Wort Frei­heit dient dabei als Camou­fla­ge für die ver­deck­te oder offe­ne Gewalt des Westens. Hin­ter sei­ner impe­ria­len Dumm­heit hinkt stets der Ter­ro­ris­mus ein­her wie einst die Syphi­lis hin­ter der katho­li­schen Sexu­al­mo­ral. Schon damals war nicht fest­stell­bar, wel­ches die schlim­me­re Gei­ßel für die Mensch­heit war. Gewiss ist nur, dass weder der Ter­ror noch die Dumm­heit auf demo­kra­ti­schem Wege abwähl­bar sind. Viel­leicht jedoch kommt der Ter­ror so man­cher Regie­rung zuwei­len auch ganz gele­gen, denn er gibt ja immer wie­der Anlass zu wei­te­ren »Inter­ven­tio­nen« und zu Gewalt – einer impe­ria­len Gewalt, die seit 1492 der DNA euro­päi­scher Mäch­te und ihres nord­ame­ri­ka­ni­schen Able­gers ein­ge­schrie­ben ist wie sonst (außer Geld, ver­steht sich) kein ande­rer der »west­li­chen Werte«.