»Kaa-mr asoo schwätzä, wia-mr doo schwätzt normaalerwiis? Ich mein graad, ebis brofidiara-mr doch bi däm ganza Griag, wu iiber uns goht. Mr sähnä wider amool, daß-mr zamma ghäära. Un mit nit anders bringä-mr des besser zuam Üsdruck wia mit unsera eigena Sprooch, mit-erä Sprooch, wu sälli in Paris nit vrschdehn, wu-si in Bonn nit vrschdehn un wu salli in Mincha au nit vrschdehn, aber wu miir üs-em alemannischa Räum alli vrschdehn!«
[Meinrad Schwörer aus Wyhl (D) am 20.9.1974 in Marckolsheim (F)]
Vor dem Gorleben-Treck 1979 sei die Anti-Atomkraft-Bewegung nur »lokal begrenzt« aktiv gewesen, äußerte Wolfgang Ehmke nebenbei in einem kenntnisreichen Beitrag (»Gorleben-Treck: Spurensuche«, Ossietzky 13/2019) und erwähnte in dem Zusammenhang Wyhl. Der 45. Jahrestag der ersten Platzbesetzung im Dreyeckland soll Anlass sein, die Behauptung zu hinterfragen und zu zeigen: Im Südwesten wurde die Bewegung früh staatsgrenzenüberschreitend aktiv, gab sich schon 1974 eine transnationale Struktur und engagierte sich für die Umwelt, das heißt vor allem, aber eben nicht ausschließlich, gegen Atomkraft. Um Zusammenhänge, den Begriff »Dreyeckland« und das keineswegs nur »lokal begrenzte« Agieren verständlich zu machen, soll kurz ausgeholt werden.
Alemannisch verbindet
Viel weiß man nicht über die Ursprünge der Alemannen. Sie scheinen zunächst zusammengewürfelte Heerhaufen aus Männern und Frauen gewesen zu sein, die aus dem Osten kamen. Letzter bekannter zeitweiliger Aufenthaltsort, bevor sie weiter südwestwärts zogen, war eine Region, die man heute als Mecklenburg, Mittelelbe- und Saalegebiet bezeichnet. Ab etwa dem 2. Jahrhundert siedelten sie im Vorfeld des Limes. Durch diesen bewachten Schutzwall versuchte das Römische Reich damals zu verhindern, dass »Barbaren« (anderssprachige Nichtrömer) unkontrolliert ins Land kamen. Doch schon damals halfen auf Dauer keine Wachtürme und Mauern oder Schutzwälle gegen Zuwanderung. Der Limes fiel, und etwa ab dem 5. Jahrhundert lebte der nunmehrige Stamm der Alemannen unter anderem in dem Gebiet, das man heute als Südbaden, Elsass und Nordwestschweiz kennt.
Diese Region, durch Nationalstaatenbildung von Staatsgrenzen durchschnitten, ist inzwischen als Dreyeckland bekannt – ein Begriff, der den trotz politischer Grenzen gemeinsamen Siedlungsraum betont (im Gegensatz zum »Dreiländereck«, an dem drei getrennte Länder aufeinandertreffen). Ob man vom Pass her als Franzose, Schweizerin oder Deutsche/r gilt: Im Dreyeckland sprechen viele Menschen in verschiedenen Varianten die gleiche Mundart, das Alemannische. Diese historisch bedingte gemeinsame sprachliche Basis sollte sich für das, was vor fünf Jahrzehnten auf die Menschen im Dreyeckland zukam, als hilfreich erweisen.
Pläne: Atomkraftwerke am Oberrhein
Sowohl flussab als auch flussauf des Rheinknies bei Basel gibt es Anfang der 1970er Jahre Proteste gegen geplante Atomkraftwerke (AKWs): in Fessenheim (Elsass/Frankreich) und Kaiseraugst (Aargau/Schweiz). Bei den Eidgenossen kommt es zu einer »Probebesetzung«, als anderswo noch niemand das Wort »Besetzung« überhaupt in den Mund nimmt. In Deutschland werden diese Proteste und Widerstandsformen zunächst wenig beachtet, mehr Aufmerksamkeit erfährt die Nachricht, dass die baden-württembergische Landesregierung den äußersten Südwesten der Bundesrepublik mit einer großzügigen Industrieansiedlung in der Rheinebene zu beglücken gedenkt. Industrie benötigt Elektrizität, die angeblich nur AKWs kostengünstig und in ausreichendem Maße liefern können. Also sollen auch auf deutscher Seite – wie Perlen an einer Kette – Atomreaktoren entlang des Oberrheins entstehen. Dessen Wasser ist als »kostenloses« Kühlmittel zur Abfuhr der Reaktionshitze gedacht. Ein erstes AKW aus gleich vier Reaktoren wird im Juni 1971 für Breisach westlich von Freiburg im Breisgau beantragt und der Rheinauewald bei Wyhl, einige Kilometer flussabwärts, als möglicher Ersatzstandort ins Auge gefasst.
Befürworter sprechen lieber von »Kernkraftwerk« und »Kernreaktoren«, weil das Wort »Atom« die Menschen verschrecken könnte, schließlich steckt es auch in dem allseits bekannten Begriff »Atombombe«. Die »friedliche Nutzung der Kernenergie« sei eine feine Sache, erfahren die Menschen aus den Medien der damaligen Zeit – Zeitung und Rundfunk. Einige Naturwissenschaftler und Studenten der Freiburger Universität sehen das anders und geben ihre Kenntnisse auf Informationsveranstaltungen weiter. Auch manche Landwirte sind skeptisch, sogar wenn sie selbst eigentlich nichts gegen die Atomenergienutzung hätten, aber sie wollen auch zukünftig sicherstellen, dass (anders als beispielsweise in Norddeutschland) am Oberrhein auf relativ kleinen Flächen relativ viele Menschen ihr Auskommen haben. Dort wachsen neben Gemüse und Getreide einträgliche Sonderkulturen: Tabakpflanzen und Weinreben. Fänden Wein und andere Erzeugnisse aus Angst vor Strahlenschäden bei Verbrauchern keinen Absatz, wäre die Landwirtschaft am Ende.
»Linksradikale« Proteste
In Ortschaften um den beabsichtigten AKW-Standort Breisach und auch in der nahen Universitätsstadt Freiburg bilden sich erste Bürgerinitiativen (BIs), die 1972 eine Arbeitsgemeinschaft mit regelmäßigen Treffen vereinbaren und – auch durch gut sichtbare Schilder an Scheunen und in Vorgärten – öffentlich gegen das geplante AKW protestieren. Ministerpräsident Hans Filbinger (CDU), ein ehemaliger NS-Marine-Richter, verliert die Contenance und bezeichnet alle AKW-Gegner/innen als »Linksradikale«. Die Wortwahl lässt sofort an den von Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) mitverantworteten »Radikalenerlass« denken. Und ab da sehen die in den BIs aktiven Jura-, Lehramts- und anderen Studierenden, die aufgrund ihrer Studienfächer eine Stelle im Staatsdienst anstreben, das Damoklesschwert des Berufsverbots über sich hängen.
Drei Tage nach der verbalen Entgleisung des »Landesvaters« besteigen zahlreiche politisch konservative, also »linksradikale« Wein- und Gemüsebauern ihre Traktoren und veranstalten zwischen dem beantragten AKW-Standort und dessen möglichem Ersatzort eine Schlepperdemonstration. Für einen Sammeleinspruch kommen 65.000 Unterschriften zusammen. Dreißig Wissenschaftler fordern in einer Resolution die Einholung von Gutachten zu zahlreichen Sachverhalten. Zwei Wochen später gibt der zuständige Wirtschaftsminister bei einer Anhörung zu, dass die bisherigen Gutachten ungenügend sind. Und zu guter Letzt wird das Genehmigungsverfahren für Breisach abgebrochen.
Wyhl am Kaiserstuhl
Doch ein echter Sieg ist das im Sommer 1973 nicht. Denn jetzt soll die kleine Ortschaft Wyhl, ein paar Kilometer stromabwärts am Kaiserstuhl gelegen, die vier Atomreaktoren bekommen. Die Bauern protestieren zu Land, die Fischer auf dem Altrhein. Im Frühjahr demonstrieren 400 Traktoren durch den Kaiserstuhl. Es geht weiter mit Unterschriftensammlungen, Informationsveranstaltungen, Erörterungstermin und großem Sternmarsch.
Neue Bürgerinitiativen werden gegründet – und das nicht nur auf deutschem Boden. Im französischen Elsass haben die Bewohner/innen zwar »ihr« Atomkraftwerk am Oberrhein, in Fessenheim, nicht verhindern können, doch nun sind sie neben der drohenden Errichtung von vier weiteren Reaktoren (AKW Wyhl) mit noch einem neuen Problem konfrontiert. Auch dessen Ursprung findet sich in Deutschland.
Bleichemie aus Bayern
Kurze Rückblende: 1972 Olympische Spiele in München. Dafür ist vorher viel Neues gebaut worden, vor allem der Olympiapark samt Presse- und Olympiadorf mit (nacholympischem) Wohnraum für bis zu 25.000 Menschen. Seit der Kaiserzeit steht dort aber auch eine Bleichemiefabrik, die ihre Abluft durch inzwischen über 20 Kamine in den Himmel schickt. Und diese Fabrik möchten die Chemischen Werke München (CWM) dringend vergrößern. Manche der neuen Anrainer/innen befürchten aber, dass der Bleistaub aus den Kaminen ihrer Gesundheit abträglich sein könnte, und erreichen für das Gebiet eine Veränderungssperre. Also macht sich der zweitgrößte deutsche Bleiverarbeiter auf die Suche nach einem anderen Standort – und wird, nach einem Fehlschlag im französischen Lothringen, im Elsass fündig. Das modernste Bleichemiewerk Europas soll nun bei der kleinen Gemeinde Marckolsheim entstehen, die über eine Pontonbrücke auch vom nahegelegenen Kaiserstuhl aus schnell erreichbar ist. Wie ungefährlich die Bleichemie-Abluft für die Marckolsheimer/innen wäre, erfahren diese aus berufenem Münchner Mund: Durch den vorherrschenden Südwestwind werde alles nach Deutschland (Südbaden) hinübergeweht.
Die badisch-elsässischen Bürgerinitiativen
Solchermaßen mit absehbar ungesunden Großprojekten auf beiden Seiten des Rheins konfrontiert, schließen sich Deutsche und Franzosen föderativ zusammen und gründen im Sommer 1974 das Internationale Komitee der (inzwischen 21) badisch-elsässischen Bürgerinitiativen, das anschließend auch Kontakt zur Gewaltfreien Aktion Kaiseraugst (GAK) in der Schweiz pflegt. Die in der Region gebräuchlichen Amtssprachen Deutsch beziehungsweise Französisch hätten zu trennenden Kommunikationsproblemen führen können, aber in den BIs findet die Verständigung in starkem Maße auf Alemannisch statt, auch bei den Kundgebungen werden viele Redebeiträge auf Alemannisch gehalten. Wer nur Französisch oder Schriftdeutsch (Hochdeutsch) versteht, braucht eine/n kundige/n Kameraden oder Freundin als Dolmetscher/in.
Man vereinbart, sich gegenseitig zu helfen, sobald die Rodung oder andere Arbeiten zur Vorbereitung der Bauplätze losgehen. Benötigt werden die Umweltschützer/innen zuerst auf französischem Boden: Am 20. September 1974 wird der CWM-Bauplatz bei Marckolsheim besetzt. Eine Besetzung zu organisieren und dann monatelang Tag und Nacht bei Herbstregen im Schlamm oder später bei Minustemperaturen im Schnee durchzuhalten, ist keine leichte Sache – aber das ist eine weitere Geschichte.
Kurzfassung einer langen Geschichte
Aus kleinen Anfängen vor fünf Jahrzehnten erwuchs damals im alemannischen Dreyeckland eine Bewegung, die unterschiedlichste Bevölkerungsgruppen zusammenbrachte: Franzosen, Schweizer und Deutsche, Alte und Junge vom Land und aus der Stadt, Winzerinnen und Bauern, Handwerker/innen, Arbeiter und Studierende, Weltkriegsteilnehmer und überzeugt Gewaltfreie, Konservative, Liberale und Linke … Die Bewegung gab sich eine transnationale, also Staatsgrenzen überschreitende Struktur, war trotz des gegen Atomkraftnutzung gerichteten Schwerpunkts nicht monothematisch ausgerichtet und blieb, bei klaren Wurzeln, nicht lokal verhaftet, sondern wurde letztlich in drei europäischen Staaten gegen umweltschädliche Großprojekte aktiv und strahlte in weitere Länder aus. Einen ersten Höhepunkt erreichte das Engagement vor genau 45 Jahren mit der Platzbesetzung im französischen Marckolsheim. Mit wenigen Monaten Abstand folgte dann die Besetzung je eines AKW-Bauplatzes im deutschen Wyhl und im schweizerischen Kaiseraugst. Seither gilt das Dreyeckland als Wiege der Umwelt(schutz)bewegung. – Und 45 Jahre nach ihrer ersten Platzbesetzung werden sich manche Aktivisten von damals nun wohl punktgenau am 20. September als grauhaarige Unterstützer/innen bei der einen oder anderen »Fridays for Future«-Kundgebung im Land wiedersehen.