Im Berliner RambaZamba Theater wird Klassik oft reizvoll umgeformt, verstehbar gemacht und ins Heute transportiert. Zudem weben die Spieler dieses Theaters ihre Erfahrungen als Menschen einer diskriminierten Minderheit in das Darzustellende ein. Alle Stücke, die hier aufgeführt werden, sind auf seltsame Weise gebrochen. Man kann sich wiedererkennen in dieser Gebrochenheit. Man kann lernen: Solidarität und Wut und Mitfühlen. Ein Theater der Unterdrückten, der Entrechteten, die sich Ausdruck verschaffen – lustvoll-revolutionär. Am 18. Januar hatte unter der Regie von Konrad Wolf (Mozarteum Salzburg) »Don Juan« Premiere, sehr frei nach Molière, wird betont, Wolfs Diplominszenierung. Sein Stück »Objektiviert uns!« bekam 2018 in Hamburg den Publikumspreis.
Worum geht es in der aktuellen Inszenierung? In einem angedachten Schlafzimmer-Kaufhaus mit neun Doppelbetten liegt Don Juan (Christian Behrend) und schläft. Der Diener (Sebastian Urbanski) beginnt zu erzählen, kommentiert: Es sei heutzutage schon verdächtig, wenn man in einem Laden nach einem Einzelbett fragt, man macht sich zu einem, der wohl niemand hat, mit dem oder der er das Bett teilt. Zum komischen Kauz, zum ewig masturbierenden Außenseiter.
Don Juan, genussvoll lasziv sich halbnackt auf dem Doppelbett lümmelnd, prahlt genau wie der molièrsche mit seinen Eroberungen, wird von einer herrlich wütenden Elvira (Franziska Kleinert) mit roten Boxhandschuhen bedroht, während der Diener ihn Moral lehren will, dass Liebe nur dann Spaß macht, wenn man bei einer geliebten Freundin bleibt. Don Juan ist ein wenig Baal nachempfunden, ausschweifend, sich auflehnend, frivol-unkonventionell, verschmitzt. Sein Kostüm (Beatrix Brandler) feminin – mit freiem Oberkörper, die Brust ein wenig hochgebunden, damit sie zur Geltung kommt, sehr geschickt gemacht. Darüber ein Negligee im Leopardenlook.
Das Ganze wird zu Rolling-Stones-Musik getanzt, gespielt, getobt, der Diener kommentiert, es herrsche heutzutage ein don-juanscher Zwang zur Sexualität, alle sollen wie Don Juan leben, es mit unzähligen Partnern täglich auf Doppelbetten treiben.
In der Angst vor Elvira stellt sich heraus, dass Don Juan vor allem eines ist, ein Ungeliebter, und eines hat, nämlich das unersättliche Bedürfnis, geliebt zu werden. Es geht ihm nicht darum zu lieben, er ist auf der Jagd nach Frauen, die ihn lieben sollen. Er wütend, aufstampfend wie ein kleines Kind: »Ich will, dass du mich liebst, wie es sich gehört!« Doch Liebe lässt sich nicht erzwingen. Seine schöne Freundin (Nele Winkler) hochprofessionell, mit herrlicher Stimmmodulation, ironisierend, karikierend, kontert geschickt: »Ich will alles tun, was ich kann, aber es muss von selber kommen, es muss von selber kommen!«
Später schmust und knuddelt sie köstlich lachend »freiwillig« mit dem Diener, der das Zärteln offenbar weitaus besser versteht als Don Juan; der will nur noch, dass man ihn bedient.
Auch gehört, wie man jetzt begreift, wohl Don Juan in Wahrheit gar nicht zu den Männern, die von Frauen schnell begehrt werden. Er muss herumkriegen, mit Geld winken und mit Versprechungen locken. In das Stück fließen nun verstärkt Eigenerfahrungen ein. Traurig sagt Don Juan: »So einen wie mich will keine« und: »Ich habe es mir ausgerechnet, ich könnte es mir leisten, einmal in der Woche zu einer Hure zu gehen, aber ich will das nicht.« Man erkennt, dass auch der echte Don Juan vielleicht etwas von dem hat, was der im RambaZamba offen ausspricht, nämlich das Leiden unter Einsamkeit. Das Leiden unter dem sexuellen Leistungszwang, sich als Mann seinen Wert durch Sexualkontakte beweisen zu müssen.
Aus Molières steinernem Gast wird im RambaZamba ein Nebenbuhler, der plötzlich donnernd und zischend die Bühne betritt, ein Zwillingsdämon, dem die Mädchen sich sogleich an den Hals hängen, dem alles zufliegt, alles gelingt. Meine Assoziation: Der Nichtbehinderte, gegen den der behinderte Mann keine Chance hat, wächst sich aus zum Drohgespenst. So wie in Molières Vorlage der strafende Gottvater seinen sündigen Sohn verflucht, so lässt der maskierte »Zwilling« Don Juan gleichsam schrumpfen und sich ängstlich wegducken. Von Mord ist die Rede, der Diener reicht seinem Herrn ein Messer. Doch er geschieht nicht, ein Lastwagen überfährt Don Juan. Der steinerne Gast geht ab, der Diener hängt sich nun bei ihm ein.
Sexualität im Spannungsfeld von Behinderung und Nichtbehinderung, von Zwang und Freiheit. Die Inszenierung kritisiert laut Programmheft, die »Welt des sexuellen Liberalismus, in der die Freiheit des Systems umschlägt in einen Zwang, ihm zu genügen«. Es geht ums Gegensteuern gegen »eine Sexualität, die ein System sozialer Hierarchie ist« (Michel Houellebecq).
Besonders den Schauspielerinnen gelangen starke Auftritte: mutig, selbstbewusst. Und wie dann Franziska Kleinert als Elvira »Arschloch« schreit, wie sie es brüllt, wie sie aus sich herausgeht, das ist klasse. Hier findet sich eine nicht ab, im Gegenteil, sie ist bereit zur lautstarken Aufkündigung der ihr zugewiesenen Rolle. Ihr Spiel regt zum Nachdenken über die Männerrolle an (»Bin in meinem Körper gefangen«) und zeigt heutige, starke Frauen, die die Schwäche im Macho sichtbar werden lassen. Und einen Macho, der seine innere Angst offen eingesteht.
Merkwürdig: Gerade weil die Spieler ihre eigenen Erfahrungen als Benachteiligte so unmittelbar und selbstverständlich einbringen, empfindet man sie nicht mehr als defizitär. Sie werden so, wie es Augusto Boal im »Theater der Unterdrückten« empfiehlt, zu Lehrern.