Was ist los in der Republik? Da erhebt ein unbekanntes Bündnis gegen Antisemitismus gegen das Kuratorenteam ruangrupa der 15. Documenta den Vorwurf des Antisemitismus und wie auf Kommando springt die deutsche Presse an, von der Borkumer Zeitung bis zur Bayerischen Rundschau, von der FAZ bis zur ZEIT, und gerät in den Zustand höchster Erregung. Allein das A-Wort genügt, um Hektik in den Redaktionen zu erzeugen und sogleich Partei zu ergreifen – natürlich gegen die vermeintlichen Antisemiten. Und sofort wird ihnen der neudeutsche Fetisch, das »Existenzrecht Israels«, das niemand bestritten hat, entgegengehalten.
Der Vorwurf lautet, ruangrupa habe eine palästinensische Künstlergruppe »The Question of Funding« eingeladen, die in Ramallah mit einem Kulturzentrum zusammenarbeitet, welches nach dem Reformpädagogen Khalil al-Sakakini benannt ist. Dieser ist zwar schon 1953 gestorben, er soll aber als Freund des arabischen Nationalismus auch Sympathien für den Nationalsozialismus gehabt haben. Weder ruangrupa noch der Künstlergruppe aus Ramallah werden solche Sympathien nachgesagt, da geht es schlicht um Kontaktschuld. Aber da steht auch wieder der Elefant BDS (»Boycott, Divestement and Sanctions«) im Raum. Ruangrupa soll Teilnehmer unterstützen, die eine Nähe zur BDS-Bewegung haben, denn die palästinensische Gruppe soll sich wiederholt für den Boykott Israels im kulturellen Leben ausgesprochen haben. Das wiederum sei der ultimative Nachweis des Antisemitismus, wie es ja der Bundestag in seinem berüchtigten Beschluss vom 17. Mai 2019 entschieden hatte. Der falsche Kurzschluss lautet: Wer für BDS ist, bestreitet das Existenzrecht Israels, obwohl nur die Legalität und Legitimität der nun schon 55 Jahre andauernden Besatzungspolitik bestritten wird.
Wir kennen das. Die Antisemitismus-Jäger jagen an allen Fronten. In letzter Zeit vornehmlich in den Revieren der Kultur und Wissenschaft. So sollte die pakistanisch-britische Schriftstellerin Kamila Shamsie 2019 den Nelly Sachs-Preis der Stadt Dortmund erhalten. Bevor sie allerdings den Koffer für ihre Reise nach Deutschland packen konnte, wurde aus der Partei Bündnis90/Die Grünen interveniert, Kamila Shamsie unterstütze BDS. Sie bestätigte das, und der Preis wurde ohne zusätzliche Begründung zurückgezogen. Auch die Verleihung des Carl-von-Ossietzky-Preises an die »Jüdische Stimme für einen gerechten Frieden in Nah-Ost« 2019 in Göttingen sollte verhindert werden. Wiederum war der Vorwurf, die Organisation unterstütze BDS. Der Bürgermeister von Göttingen, die Stadtsparkasse und die Präsidentin der Universität konnten dem Druck, dem sie ausgesetzt wurden, nicht standhalten und zogen ihre traditionelle Unterstützung für die Preisverleihung zurück. Die Organisation bekannte sich zu ihrer Haltung, sodass man auch hier nicht mehr einer zusätzlichen Standard-Begründung der Holocaustrelativierung oder des Bestreitens des Existenzrechtes Israels bedurfte.
Schon 2017 traf das gleiche Verdikt den international renommierten südafrikanischen Religionswissenschaftler Farid Esack, Gastprofessor am Zentrum für Studien der Weltreligionen der Universität Hamburg. Er wollte auf Einladung der Akademie der Weltreligionen der Universität und der Partei Bündnis 90/Die Grünen zum Abschluss seiner Lehre in Hamburg einen Vortrag zum Thema: »Wem erlaube ich, im Zug neben mir zu sitzen? Religionsfreiheit im Zeichen des Terrors« im Hamburger Rathaus halten. Plötzlich kam der Vorwurf, Esack sei in Südafrika ein führender Vertreter der BDS-Bewegung, der in der Tat stimmte. Das genügte, dass sich die Grünen zurückzogen und der Vortrag abgesagt wurde. Und jüngst machte der Fall des südafrikanischen Philosophen Achille Mbembe Schlagzeilen und erweiterte die Kritik, indem nun auch die neuen Forschungsansätze der »postcolonial studies« attackiert werden, in denen der Holocaust in die Reihe der kolonialen Völkermorde gestellt und die Besatzung durch Israel als eine der letzten Formen kolonialer Herrschaft verurteilt wird.
Eine endlose Geschichte? Ja – wohl so lange nicht die Besatzung beendet und den Palästinensern ihr Selbstbestimmungsrecht garantiert wird. Denn solange wird die Kritik an den unerträglichen Zuständen in den besetzten Gebieten nicht aufhören, und solange werden sich auch hier die Meinungs-, Wissenschafts- und Kunstfreiheit immer wieder gegen die Angriffe mit dem Antisemitismusvorwurf zur Wehr setzen müssen. Das jüngste Urteil des Bundesverwaltungsgerichts, mit dem es die Meinungsfreiheit gegen den Münchner Stadtrat für alle Veranstaltungen, die sich im Rahmen der Gesetze halten, durchgesetzt hat, mag die juristischen Fragen geklärt haben. Aber die Reaktionen von prominenter jüdischer Seite, die nach dem Gesetzgeber rufen, um weiterhin das Wort BDS aus den öffentlichen Sälen verbannen zu können, lassen befürchten, dass die politischen Angriffe auf die Freiheiten nicht enden werden.
Der Kurator der 14. Documenta in Athen und Kassel, Adam Szymzyk, konnte dem Palästina-Konflikt 2017 noch breiten Raum geben. Er stammt aus Polen und hatte sich offensichtlich zu BDS nicht geäußert. Mit der weiteren Internationalisierung der Ausstellung und der Übergabe des Ausstellungskonzeptes in außereuropäische Hände ändert sich die Situation. Außerhalb Europas ist die Kritik an der israelischen Politik allgemein, die Unterstützung für die palästinensische Boykottbewegung ist weit verbreitet. Es wird sich keine Künstlergruppe in Palästina finden lassen, die nicht den Boykott unterstützt, erleben sie doch selbst den alltäglichen Boykott durch die israelische Regierung. Hier nun ruft Julia Encke in der FAS vom 23. Januar die neue Kulturstaatsministerin Claudia Roth auf, gegen den Vorstand des »documenta Forum e. V. Kassel« »gegenzuhalten«. Der hatte sich auf die Kunst- und Wissenschaftsfreiheit des Art. 5 Abs. 3 GG und die bekannte »Initiative GG 5.3 Weltoffenheit« berufen, die die Verurteilung der BDS-Kampagne als antisemitisch ablehnt. Enckes Befürchtung: Würde die Staatsministerin nicht eingreifen, »bedeutete das, dass der Bundestagsbeschluss faktisch annulliert würde.« Richtig, es wäre auch höchste Zeit. Würde der Bundestag diesen bisher nicht verbindlichen Beschluss in ein Gesetz mit den erwünschten Ausgrenzungsfolgen umwandeln, hätte es bestimmt keine Überlebenschancen vor dem Bundesverfassungsgericht. Nun wollen der Documenta-Vorstand und ruangrupa ein Forum veranstalten »We need to talk! Art – Freedom – Limits« (Wir müssen sprechen! Kunst – Freiheit – Grenzen), in dem vom Antisemitismus und Rassismus über Kolonialismus und Landrechte bis zu Recht, Medien und Kunst der ganze aufgestaute Streit auf den Tisch kommen soll.
Dies liegt ganz auf der Linie des Documenta-Konzeptes, welches der Vorstand mit zwei Sätzen in seiner Erklärung umrissen hat: »In der gegenwärtigen öffentlichen Diskussion sollte die Reflexion der Vorwürfe einen Diskurs in Gang setzen, der internationale Konflikte, Kontroversen und Entwicklungen in den Blick nimmt. Nicht die eurozentrierte Weltsicht, sondern die internationale Weitsicht aller Positionen, Haltungen, Kulturen und Religionen werden die Weltkunstausstellung auch in Zukunft prägen.« Diese Weltläufigkeit und Absage an die abendländische Kunst- und Kultur-Hegemonie scheint manchem Feuilletonisten aber nicht geheuer. Thomas E. Schmidt, ebenfalls in der ZEIT, beklagt, dass sich die Ausstellung in das Gestrüpp der deutschen Aufarbeitungskontroversen hineinziehen lässt. Wenn sich die Documenta daraus nicht befreit, schreibt er, könnte die 15. die letzte ihrer Art sein. Und man weiß nicht, ob ihm das nicht gefallen würde.
Was auch immer die Forum-Diskussion an Erkenntnissen erbringt, man kann dem Kasseler Oberbürgermeister und Aufsichtsratsvorsitzenden der documenta gGmbH, Christian Geselle, nur Standhaftigkeit wünschen, dass er bei seiner Versicherung bleibt: »Einen Eingriff in die künstlerische Freiheit darf und wird es mit mir nicht geben – auch nicht durch Überprüfung oder gar Beschlüsse in den Gremien der Gesellschaft.«