Bei der Zeitschrift Ossietzky geht mir manches gegen den Strich – aber eine äußerst seltene Wohltat gewährt uns das ziegelrot eingeschlagene Heftchen: Es verzichtet im stets 36 Seiten starken Innenteil vollständig auf Abbildungen jeglicher Art. Somit wird man dort auch nicht von den Briefmarken großen oder Bildschirm füllenden Fotos belästigt, die den Autor oder die Autorin des jeweiligen Beitrags vorstellen. Ich empfinde die unaufhaltsam zunehmende Verbilderung der Welt schon seit vielen Jahren grundsätzlich als Gräuel. Seitdem ich allerdings hier und dort selber »publiziere«, stoßen mir diese meist »Autorenporträts« genannten Pass- oder Ganzkörperfotos besonders übel auf. Ich bilde mir nämlich bis zur Stunde ein: Was ich zu sagen habe, kann ich in Schrift stellen. Ich benötigte dazu keine fotografische Aussagekraft. Sie lenkt im glimpflichsten Falle ab; häufig jedoch richtet sie auch jede Menge Unheil an.
Freilich kann man das Ärgernis gleich auf die Fotos ausweiten, die nicht den Autor, vielmehr den Gegenstand eines Artikels zeigen. Selbstverständlich schmücken sie auch Bücher. Warum genügt es eigentlich nicht, wenn mir soundso viele Biografien über den Maler und Schriftsteller Adalbert Stifter versichern oder zumindest andeuten, der Mann sei im Laufe seiner Karriere immer fetter, erfolgloser und enttäuschter geworden? Müssen uns Gemälde oder Fotos auch noch seine Gedrungenheit zeigen? Tragen solche Abbildungen auch nur einen Deut zu der aufgeschriebenen Diagnose bei, der Mann sei ein übermütiger Langweiler gewesen und an soundso vielen hohen Zielen ziemlich kläglich gescheitert?
Nie und nimmer. Und Ähnliches gilt selbstverständlich für die Autoren von Artikeln oder Manifesten. Neuerdings geht Sahra Wagenknecht mit einem Manifest gegen die verheerende Kriegstreiberei hausieren. Das kann man doof oder goldrichtig finden. Ist es aber unerlässlich, ihre flammenden Worte (und die Berichterstattung darüber) mit ihrem bekannt prinzessinnenhaften Antlitz zu zieren? Das haben wir doch schon 50.000-mal gesehen. Ja, eben deshalb! Das Foto wirkt als Signal. Es hat den berüchtigten Wiedererkennungswert. Wer die Prinzessin hasst, liest ihr Manifest gar nicht erst, oder er verschlingt es geradezu, weil er die Prinzessin schon immer verehrt.
Man muss also genauer, allgemeiner und weittragender feststellen: das Verbildern und insbesondere Personalisieren von Texten, Politik, Öffentlichem Wirken überhaupt lenkt vor allem von dem Erfordernis ab, sich gedanklich mit dem auseinanderzusetzen, was da jeweils vertreten wird. Eben dadurch richtet es viel Unheil an. Es macht die Welt dümmer, knechtischer und ärmer, obwohl doch täglich wahre Fluten von Bildern auf uns einstürzen. Heutzutage ist gedankliche Mitarbeit beim Lesen überflüssig, weil alles wunderbar visualisiert ist. Zehntausende von typografischen oder kommunikationstechnischen Kunstgriffen entheben uns der Mühe, die Seele eines Textes bloßzulegen beziehungsweise unsere ganz eigene Leseart von ihm zu finden. Denn die IT- und Werbefritzen wissen viel besser als wir selber, was für uns gut ist. Sogar der Webmaster von Rubikon weiß es, rückt er doch in den meisten Beiträgen alle naselang ein paar Sätze fettgedruckt ein. Damit leuchtet jedem ein, was hier das Wichtige ist. In Zukunft wird es uns genügen, nur noch die paar eingerückten fetten Stellen zur Kenntnis zu nehmen. Das spart viel Zeit. Ähnlich funktionieren die inzwischen allgegenwärtigen Kurzplakate auf den Startseiten der Portale oder Magazine, »teaser« genannt. Wer diese ungemein griffig, schlagwortartig, phrasenhaft formulierten »Anreißer« in 20 Sekunden überflogen hat, weiß Bescheid und kann das Portal oder Magazin wieder wegdrücken. Aber es wird noch besser kommen. Schon heute setzt man die »Anreißer« oder auch »Blickfänge« zunehmend neben oder auf Fotos, die der Peinlichkeit und der Gleichgeschaltetheit der anreißenden Textzeilen selten nachstehen. Man wird die Textzeilen also demnächst einfach weglassen. Damit können unsere Blicke restlos von jeder Gedankenschwere genesen.
Ob Videos und alle anderen Filme, Fernsehen eingeschlossen, noch schlimmer sind als Fotos, wage ich im Augenblick nicht zu entscheiden. Auf meinem Planeten Pöhsnick werden sie todsicher verschmäht. »Literaturverfilmungen« sind dort besonders geächtet. Neulich hat irgendein Dorfrat sogar eine harmlose »Dichterlesung« abgelehnt. Ein gewisser Friedrich Hölderlin wollte ein paar eigene Gedichte vortragen. »Aber Hölder, mein Lieber«, sagte die Dorfschiedsrätin entsetzt, »werden deine Werke denn davon besser, dass wir deine oder meine Visage zeigen?« Ja, wenn der Dichter blendend aussieht oder die Dame, die den Autor ablichtet, Isolde Ohlbaum heißt, unbedingt. Im Übrigen können die Gedichte natürlich nur schlechter werden. Sie erfahren Ablenkung, Einengung, Verfälschung, je nach dem. Zum Beispiel liegt das Labsal der geschriebenen Worte »Mit gelben Birnen hänget / Und voll mit wilden Rosen / Das Land in den See« auch darin, dass sich jeder Leser eine etwas andere Birne und ein etwas anderes Ufer vorstellt. Die LeserInnen dürfen sich ihre eigenen Vorstellungen machen. Gewiss erfordert dies ihre Mitarbeit, wie ich bereits angedeutet habe. Und da Mühe im Zeitalter der Rolltreppen, elektronisch gesteuerten Türen und ungemein »bedienungsfreundlichen« Taschen-Computer verpönt ist, sind die Hersteller-, Veranstalter- und VerfilmerInnen so freundlich, uns ihr Bild zu diktieren. Augen auf genügt.