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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Direkte Kriegsbeteiligung

US-Prä­si­dent Joe Biden erlaubt den Ein­satz von »ATACMS«-Kurzstrecken-Raketen (= Army TAC­ti­cal Mis­sile System). Bri­ti­sche »Storm-Shadow«-Marschflugkörper schla­gen ein. Akti­on und Reak­ti­on trei­ben die Eska­la­ti­on wech­sel­sei­tig auf die Spit­ze. Dem Ein­satz west­li­cher Mit­tel­strecken­waf­fen folgt der Gegen­schlag Russ­lands. Eine neu­ar­ti­ge Rake­te trifft die Ukrai­ne. Wolo­dym­yr Selen­skyj for­dert die Welt­ge­mein­schaft zu einer ent­schie­de­nen Reak­ti­on auf. Auge um Auge, Zahn um Zahn.

Zur etwa glei­chen Zeit unter­schreibt Putin die im Som­mer geän­der­te Dok­trin Russ­lands zum Ein­satz von Atom­waf­fen. Nach Bericht des Nach­rich­ten­ma­ga­zins Der Spie­gel wur­de damit »die Liste mili­tä­ri­scher Bedro­hun­gen, gegen die Nukle­ar­waf­fen zur Abschreckung genutzt wer­den kön­nen, erwei­tert«. Der Ein­satz von Nukle­ar­waf­fen wird »wei­ter­hin als extre­me Maß­nah­me zur Abschreckung bezeich­net«. Aller­dings wür­den »künf­tig Aggres­sio­nen gegen Russ­land durch einen Staat ohne Atom­waf­fen als gemein­sa­mer Kriegs­akt mit einer Atom­macht gewer­tet – wenn der Angriff unter Betei­li­gung oder mit Unter­stüt­zung eines Staa­tes im Besitz von Atom­waf­fen erfolgt«. Für west­li­che Atom­mäch­te wie die USA und Frank­reich oder Groß­bri­tan­ni­en erhö­he »sich die Gefahr, Ziel eines rus­si­schen Gegen­schlags zu werden«.

Und in Deutsch­land? Wird dis­ku­tiert! Auf der einen Sei­te soge­nann­te Sicher­heits­exper­ten, die unse­re Sicher­heit aufs Spiel set­zen, indem sie Deutsch­land in einen Krieg um die Ukrai­ne hin­ein­trei­ben: wie Joa­chim Krau­se, bis 2023 Direk­tor des Insti­tuts für Sicher­heits­po­li­tik an der Chri­sti­an-Albrecht-Uni­ver­si­tät Kiel; auf der ande­ren Sei­te Gene­ra­le wie Roland Kather, einst deut­scher Ver­tre­ter im Nato-Mili­tär­aus­schuss, der im Fern­seh­sen­der NTV abwä­gend und rea­li­stisch die Lage beur­teilt. Die Äuße­run­gen Putins wer­tet er als Bot­schaft, als ein »wir sind vor­be­rei­tet«, als noch kei­ne unmit­tel­bar kon­kre­te Gefahr. Des­halb sei es not­wen­dig, die Ver­än­de­run­gen der regie­rungs­of­fi­zi­el­len Äuße­run­gen Russ­lands genau zu unter­su­chen. Den Ein­satz der ver­bo­te­nen Anti­per­so­nen-Minen lehnt er ab, er ist ein Bruch des Rechts. Zum gegen­sei­ti­gen Rake­ten­be­schuss stellt er fest: »Es geht nicht um eine völ­ker­recht­li­che, son­dern um eine ent­schei­den­de stra­te­gi­sche Fra­ge. Denn völ­ker­recht­lich ist ein Angriff der Ukrai­ne auf das Gebiet des Angrei­fers selbst­ver­ständ­lich erlaubt. Die Ukrai­ne ist jedoch für die Ein­satz- und Ziel­pla­nung von Angrif­fen mit west­li­chen weit­rei­chen­den Waf­fen­sy­ste­men auf stra­te­gi­sche Zie­le im rus­si­schen Hin­ter­land völ­lig auf die Unter­stüt­zung west­li­cher Spe­zia­li­sten ange­wie­sen. Wer die­se Unter­stüt­zung per­so­nell und mate­ri­ell lei­stet, macht einen gro­ßen Schritt in Rich­tung direk­ter Kriegsbeteiligung.«

Bis­her war der schei­den­de US-Prä­si­dent nicht bereit, die­se Waf­fen ein­zu­set­zen, weil sie die Betei­li­gung der west­li­chen Lie­fer-Staa­ten erfor­dern und er mehr­mals öffent­lich beton­te, Eska­la­tio­nen ver­mei­den und kei­nen drit­ten Welt­krieg ris­kie­ren zu wol­len. Woher kommt nun die­ser Sin­nes­wan­del? Soll­te es die Eitel­keit des Amts­in­ha­bers sein, der schon Afgha­ni­stan flucht­ar­tig räu­men ließ und die Tali­ban wie­der an die Macht spülte?

Was also steckt hin­ter dem Sin­nes­wan­del von Joe Biden? Gene­ral a.  D. Harald Kujat sieht es so: »Obwohl Prä­si­dent Biden mehr­fach strikt abge­lehnt hat, ame­ri­ka­ni­sche ATACMS für Angrif­fe auf rus­si­sches Ter­ri­to­ri­um frei­zu­ge­ben, hat er nun doch erlaubt, die­se Syste­me mit einer Reich­wei­te von 300 km zunächst gegen nord­ko­rea­ni­sche Trup­pen im Raum Kursk ein­zu­set­zen, um der nord­ko­rea­ni­schen Regie­rung die Ver­wund­bar­keit ihrer Sol­da­ten zu demon­strie­ren und sie davon abzu­schrecken, noch mehr Sol­da­ten zu schicken. Ich hal­te die­se Begrün­dung nicht für über­zeu­gend, und der erste Ein­satz die­ses Waf­fen­sy­stems gegen ein Muni­ti­ons­de­pot im Raum Brjansk zeigt das auch. Die Fra­ge ist berech­tigt, ob die ame­ri­ka­ni­sche Regie­rung bereit ist, wegen der kri­ti­schen Lage der Ukrai­ne, die trotz mas­si­ver west­li­cher Unter­stüt­zung immer unhalt­ba­rer wird, das Risi­ko eines gro­ßen euro­päi­schen Krie­ges ein­zu­ge­hen. Zumal sie weiß, dass die­se Rake­ten eben­so wenig wie die bis­her gelie­fer­ten Waf­fen die stra­te­gi­sche Lage zugun­sten der Ukrai­ne wen­den kön­nen. Inzwi­schen haben die USA sogar ange­kün­digt, geäch­te­te Anti-Per­so­nen-Minen zu lie­fern, damit die ukrai­ni­schen Streit­kräf­te das noch unter ihrer Kon­trol­le befind­li­che Ter­ri­to­ri­um ver­tei­di­gen kön­nen. Ich hal­te die­sen dra­ma­ti­schen Kurs­wech­sel für ein Zei­chen größ­ter Fru­stra­ti­on, denn das stra­te­gi­sche Ziel, Russ­land poli­tisch, wirt­schaft­lich und mili­tä­risch zu schwä­chen, ist nicht erreich­bar. Es gibt nur eine ver­nünf­ti­ge Erklä­rung: Der ame­ri­ka­ni­sche Prä­si­dent will nach dem flucht­ar­ti­gen Rück­zug aus Afgha­ni­stan nicht auch gemein­sam mit der Ukrai­ne die­sen Krieg ver­lie­ren. Es ist ein letz­tes Auf­bäu­men, bevor sein Nach­fol­ger den ange­kün­dig­ten Frie­dens­plan umsetzt.

Die Euro­pä­er haben nicht die Kraft, sich kon­struk­tiv für Frie­dens­ver­hand­lun­gen ein­zu­set­zen, obwohl es um das Schick­sal ihres Kon­ti­nents geht. Es ist merk­wür­dig, dass die Hoff­nun­gen der­je­ni­gen, die Sicher­heit und Frie­den wol­len, in die­ser hoch­bri­san­ten Lage auf Putin und Trump ruhen, einen gro­ßen euro­päi­schen Krieg mit dem Risi­ko einer nuklea­ren Eska­la­ti­on zu ver­hin­dern. Auf Putin in der Erwar­tung, dass er beson­nen und maß­voll reagiert, und auf Trump, dass er die Ent­schei­dung Bidens, wie vom ihm ange­kün­digt, rück­gän­gig macht.«

Die Zer­stö­rung der Ver­nunft in Zei­ten des Krie­ges über fast alle euro­päi­schen Regie­run­gen und Exper­to­kra­tien hin­weg macht sprach­los; sie haben kei­nen Plan für den Frie­den in Euro­pa, statt­des­sen schwa­dro­nie­ren sie im Talk bei Mayb­ritt Ill­ner über die »euro­päi­sche Frie­dens­ord­nung«, zu der sie selbst gera­de nichts Kon­struk­ti­ves bei­tra­gen als den ver­lo­re­nen Krieg in der Ukrai­ne zum euro­päi­schen Krieg um die Ukrai­ne zu erwei­tern. Ein Krieg gegen eine Atom­macht ist nicht zu gewin­nen. Danach wird ewi­ger Frie­den auf Erden sein! Die bes­se­ren Lösun­gen für die Ukrai­ne wur­den vor zwei Jah­ren ver­tan. Wo bleibt der Auf­stand der Sehenden?

Das Gespräch mit Gene­ral Kujat hat der Autor selbst geführt. Es ist Teil der Inter­view-Rei­he »Klotz­Trifft«: heu­te Gene­ral KUJAT (11.11.2024); das kom­plet­te Inter­view ist You­Tube abrufbar.