US-Präsident Joe Biden erlaubt den Einsatz von »ATACMS«-Kurzstrecken-Raketen (= Army TACtical Missile System). Britische »Storm-Shadow«-Marschflugkörper schlagen ein. Aktion und Reaktion treiben die Eskalation wechselseitig auf die Spitze. Dem Einsatz westlicher Mittelstreckenwaffen folgt der Gegenschlag Russlands. Eine neuartige Rakete trifft die Ukraine. Wolodymyr Selenskyj fordert die Weltgemeinschaft zu einer entschiedenen Reaktion auf. Auge um Auge, Zahn um Zahn.
Zur etwa gleichen Zeit unterschreibt Putin die im Sommer geänderte Doktrin Russlands zum Einsatz von Atomwaffen. Nach Bericht des Nachrichtenmagazins Der Spiegel wurde damit »die Liste militärischer Bedrohungen, gegen die Nuklearwaffen zur Abschreckung genutzt werden können, erweitert«. Der Einsatz von Nuklearwaffen wird »weiterhin als extreme Maßnahme zur Abschreckung bezeichnet«. Allerdings würden »künftig Aggressionen gegen Russland durch einen Staat ohne Atomwaffen als gemeinsamer Kriegsakt mit einer Atommacht gewertet – wenn der Angriff unter Beteiligung oder mit Unterstützung eines Staates im Besitz von Atomwaffen erfolgt«. Für westliche Atommächte wie die USA und Frankreich oder Großbritannien erhöhe »sich die Gefahr, Ziel eines russischen Gegenschlags zu werden«.
Und in Deutschland? Wird diskutiert! Auf der einen Seite sogenannte Sicherheitsexperten, die unsere Sicherheit aufs Spiel setzen, indem sie Deutschland in einen Krieg um die Ukraine hineintreiben: wie Joachim Krause, bis 2023 Direktor des Instituts für Sicherheitspolitik an der Christian-Albrecht-Universität Kiel; auf der anderen Seite Generale wie Roland Kather, einst deutscher Vertreter im Nato-Militärausschuss, der im Fernsehsender NTV abwägend und realistisch die Lage beurteilt. Die Äußerungen Putins wertet er als Botschaft, als ein »wir sind vorbereitet«, als noch keine unmittelbar konkrete Gefahr. Deshalb sei es notwendig, die Veränderungen der regierungsoffiziellen Äußerungen Russlands genau zu untersuchen. Den Einsatz der verbotenen Antipersonen-Minen lehnt er ab, er ist ein Bruch des Rechts. Zum gegenseitigen Raketenbeschuss stellt er fest: »Es geht nicht um eine völkerrechtliche, sondern um eine entscheidende strategische Frage. Denn völkerrechtlich ist ein Angriff der Ukraine auf das Gebiet des Angreifers selbstverständlich erlaubt. Die Ukraine ist jedoch für die Einsatz- und Zielplanung von Angriffen mit westlichen weitreichenden Waffensystemen auf strategische Ziele im russischen Hinterland völlig auf die Unterstützung westlicher Spezialisten angewiesen. Wer diese Unterstützung personell und materiell leistet, macht einen großen Schritt in Richtung direkter Kriegsbeteiligung.«
Bisher war der scheidende US-Präsident nicht bereit, diese Waffen einzusetzen, weil sie die Beteiligung der westlichen Liefer-Staaten erfordern und er mehrmals öffentlich betonte, Eskalationen vermeiden und keinen dritten Weltkrieg riskieren zu wollen. Woher kommt nun dieser Sinneswandel? Sollte es die Eitelkeit des Amtsinhabers sein, der schon Afghanistan fluchtartig räumen ließ und die Taliban wieder an die Macht spülte?
Was also steckt hinter dem Sinneswandel von Joe Biden? General a. D. Harald Kujat sieht es so: »Obwohl Präsident Biden mehrfach strikt abgelehnt hat, amerikanische ATACMS für Angriffe auf russisches Territorium freizugeben, hat er nun doch erlaubt, diese Systeme mit einer Reichweite von 300 km zunächst gegen nordkoreanische Truppen im Raum Kursk einzusetzen, um der nordkoreanischen Regierung die Verwundbarkeit ihrer Soldaten zu demonstrieren und sie davon abzuschrecken, noch mehr Soldaten zu schicken. Ich halte diese Begründung nicht für überzeugend, und der erste Einsatz dieses Waffensystems gegen ein Munitionsdepot im Raum Brjansk zeigt das auch. Die Frage ist berechtigt, ob die amerikanische Regierung bereit ist, wegen der kritischen Lage der Ukraine, die trotz massiver westlicher Unterstützung immer unhaltbarer wird, das Risiko eines großen europäischen Krieges einzugehen. Zumal sie weiß, dass diese Raketen ebenso wenig wie die bisher gelieferten Waffen die strategische Lage zugunsten der Ukraine wenden können. Inzwischen haben die USA sogar angekündigt, geächtete Anti-Personen-Minen zu liefern, damit die ukrainischen Streitkräfte das noch unter ihrer Kontrolle befindliche Territorium verteidigen können. Ich halte diesen dramatischen Kurswechsel für ein Zeichen größter Frustration, denn das strategische Ziel, Russland politisch, wirtschaftlich und militärisch zu schwächen, ist nicht erreichbar. Es gibt nur eine vernünftige Erklärung: Der amerikanische Präsident will nach dem fluchtartigen Rückzug aus Afghanistan nicht auch gemeinsam mit der Ukraine diesen Krieg verlieren. Es ist ein letztes Aufbäumen, bevor sein Nachfolger den angekündigten Friedensplan umsetzt.
Die Europäer haben nicht die Kraft, sich konstruktiv für Friedensverhandlungen einzusetzen, obwohl es um das Schicksal ihres Kontinents geht. Es ist merkwürdig, dass die Hoffnungen derjenigen, die Sicherheit und Frieden wollen, in dieser hochbrisanten Lage auf Putin und Trump ruhen, einen großen europäischen Krieg mit dem Risiko einer nuklearen Eskalation zu verhindern. Auf Putin in der Erwartung, dass er besonnen und maßvoll reagiert, und auf Trump, dass er die Entscheidung Bidens, wie vom ihm angekündigt, rückgängig macht.«
Die Zerstörung der Vernunft in Zeiten des Krieges über fast alle europäischen Regierungen und Expertokratien hinweg macht sprachlos; sie haben keinen Plan für den Frieden in Europa, stattdessen schwadronieren sie im Talk bei Maybritt Illner über die »europäische Friedensordnung«, zu der sie selbst gerade nichts Konstruktives beitragen als den verlorenen Krieg in der Ukraine zum europäischen Krieg um die Ukraine zu erweitern. Ein Krieg gegen eine Atommacht ist nicht zu gewinnen. Danach wird ewiger Frieden auf Erden sein! Die besseren Lösungen für die Ukraine wurden vor zwei Jahren vertan. Wo bleibt der Aufstand der Sehenden?
Das Gespräch mit General Kujat hat der Autor selbst geführt. Es ist Teil der Interview-Reihe »KlotzTrifft«: heute General KUJAT (11.11.2024); das komplette Interview ist YouTube abrufbar.