Nein, wir wollen keinen Krieg, nicht mehr und nicht wieder. Deshalb sind wir gegen Waffenlieferungen und Aufrüstung und militärische Drohgebärden. Wir wollen, inzwischen hundertfach geechot, diplomatische Lösungen: So lauten die mehr oder weniger dringenden Rufe aus vielen politischen und zivilgesellschaftlichen Richtungen. Und wenn jetzt sogar der ukrainische Präsident über Verhandlungen spricht, auf seine undurchsichtige Weise, aber immerhin, dann scheinen nicht nur die Diplomatinnen und Diplomaten, sondern wir alle auf einem guten Weg in eine friedliche Welt zu sein.
Wirklich? Wer will da eigentlich welche Ziele erreichen, wenn um Waffenruhe, also um ein Ende des Gemetzels auf dem Schlachtfeld, zwischen den Fronten, verhandelt wird? Um die direkt betroffenen oder indirekt bedrohten Menschen scheint es nicht zu gehen, wie ein kurzer Blick zurück zeigt: Als Putin seinen Krieg begann, waren ihm die Soldatinnen und Soldaten, die ihr Leben für eine in seinem Sinne gerechte und notwendige Sache verlieren würden, offensichtlich völlig egal, wie ihre Mütter und Väter und Ehefrauen und Kinder und Geliebten. Und als Biden im Vorfeld des Krieges Verhandlungen mit Russland ablehnte und seine und die Nato-Strategen ihr Ziel erreicht hatten, Russland in einen Abnutzungskrieg zur langfristigen wirtschaftlichen und militärischen Schwächung zu treiben, haben sie wahrscheinlich keinen Gedanken oder kein Gefühlsmolekül an die zahllosen Opfer, die ihre Strategie fordern würde, verschwendet. Und Selenskyj? Und Stoltenberg und Konsorten? Und Scholz, Baerbock, Habeck, Pistorius und wie sie alle heißen, die immer mehr und immer zerstörerischere Waffen liefern? Werden sie, wenn sie irgendwann am Verhandlungstisch sitzen, zu Friedensaposteln, von Saulussen zu Paulussen? Sehen sie ganz plötzlich die Menschen, aus denen sie skrupellos ihren Nutzen ziehen, plötzlich mit ganz anderen, menschenfreundlichen und respektvollen Blicken?
Keineswegs. Sie alle und ihre diversen Adepten sind Profiteure des Krieges und eines ausgehandelten Friedens. Sie sind nicht weniger Kriegs- als Friedensgewinnler, vergleichbar dem, was in der Psychotherapie Krankheitsgewinn genannt wird: Wie eine – körperliche oder seelische – Erkrankung für leidende Menschen durchaus Aufmerksamkeit und Nachsicht, manchmal auch materielle Vorteile mit sich bringen kann, sollen Krieg wie auch Waffenstillstand oder gar ein vertraglich geregelter Frieden letztlich möglichst maximal ertragreich sein. Die Mächtigen wollen einen zweckbestimmten Frieden, mit dem sie ihre Macht stärken, ihre Gewinne steigern, ihr Gewaltpotenzial aufstocken können. Kriege und ihre diplomatische Fortsetzung sind janusköpfige Formen der Herrschafts- und Profitsicherung.
An Menschen sind sie nur interessiert, soweit über sie als »Kanonenfutter« für ihre machtpolitischen und militärischen Interessen verfügt werden kann. Den Individuen, die an der Vielfalt des Lebens teilhaben wollen, den Lebenswünschen und -träumen Tausender junger Menschen, dem Menschlichen, begegnen sie gleichgültig, hochmütig, respektlos. Sie ausnutzen, aussaugen, ausbeuten, als Soldaten, als Arbeitskräfte – oder auch als Wahlvolk –, ist das magische Dreieck der militärischen, der politischen, der ökonomischen Macht. Sie bleiben Verlierer, ob auf dem Schlachtfeld oder in der neoliberalen Marktlogik, daran ändert der jeweilige Modus des Verfügens über sie nichts, am Verhandlungstisch bleiben die Untertanen nichts weiter als Verschiebemasse.
Für wen ist der diplomatische Ansatz also fruchtbar, hilfreich, hoffnungsvoll? Eine rhetorische Frage angesichts der herrschenden Verhältnisse und Zustände. Also weiter Krieg bis zum bitteren, möglicherweise apokalyptisch-atomaren Ende? Nein, aber es geht darum zu verstehen, dass Diplomatie als Mittel zum Stoppen eines Krieges heute wie in der Vergangenheit denjenigen, die vor allem als Zielscheiben und als Profitgaranten nützlich sind, am allerwenigsten zugutekommt. Nach Beendigung des ersten Weltkrieges verbreiteten die Weimarer Republik und eine erstarkte Arbeiterbewegung Hoffnungsschimmer, die allerdings innerhalb kurzer Zeit in politischen Machtpokern, wirtschaftlichem Desaster und faschistischen Gewaltorgien verblassten. Als aus dem zweiten Weltkrieg zwei neue deutsche Staaten hervorgingen, war die Idee eines sozialistischen Neuanfangs nicht nur in der DDR, sondern auch in der BRD Kristallisationskern für den Aufbruch in eine friedliche, gerechte Zukunft. Dessen zarter Keim wurde im westlichen Projekt von ehemaligen Nazis, reaktionären Machtpolitikern und militärisch-ökonomischem Druck durch kapitalistische Interessengruppen, innerhalb weniger Jahre erstickt. In beiden historischen Konstellationen fiel die aufflackernde Hoffnung vieler Menschen auf ein würdevolles Leben denen zum Opfer, die ihr Gewaltmonopol zur Durchsetzung ihrer Interessen – vielfältig diplomatisch verschleiert – einsetzen konnten.
Dass diplomatische Handlungsroutinen strukturell nichts verändern, zeigen die militärischen und ökonomischen Planungs- und Haushaltsskizzen für die nächsten Jahre. Sozial- und Demokratieabbau zugunsten militärischer Interventionspotenziale und hegemonialer Ansprüche, gehen zu Lasten der meisten Menschen, vor allem der ohnehin prekär belasteten: Ihre Lebensqualität, ihre Zukunft, ihre Gesundheit, ihre Bildung, ihre Wohnbedingungen bleiben weiter desolat. Diplomatie bleibt der Sandkasten, in dem die Vertreter und die Vertrauten des Herrschaftsapparates ihre Spielchen austragen, die immer und ausschließlich dem Ziel dienen, macht- und profitkonforme Strukturen und Systeme zu stabilisieren. Die regierten, die beherrschten, die benutzten, die vertriebenen Menschen werden der diplomatischen Umtriebigkeit beliebig geopfert – wie das aktuelle Beispiel der Verhandlungen zwischen Tunesien und der EU in einer Weise demonstriert, die auch den letzten gutgläubigen Zweifel beseitigt: Noch während der Gespräche ging das Morden, das Vertreiben in den Hunger- und Dursttod in der Wüste, weiter. Auf Verhandlungsverlauf und -ergebnisse hatte es keinerlei Einfluss, im Gegenteil feierten nicht nur die politische Klasse dieses Landes, sondern auch die ihr hörigen Medien den diplomatischen Erfolg – ein Mords-Spektakel.
Diplomatie war und ist eine Falle für die meisten Menschen, ein Spiel, in dem ihre Lebensbedingungen, ihre Sorgen und Nöte, ihre Ängste und Verzweiflung, ihre Hoffnungslosigkeit und Resignation weder die Diplomaten noch ihre regierungsamtlichen Auftraggeber jemals sonderlich interessiert haben. An diesen Tatsachen ändern jene redlichen, rechtschaffenen, klugen und friedfertigen Verhandlerinnen und Verhandler nichts, die eine von ihnen selbst nur selten durchschaute Doppelrolle für das herrschende Establishment spielen: Sie geben dem Geschacher um Macht und Profit einen moralischen Anstrich, vor allem aber sollen sie mit ihrem Fachwissen, ihrem Verhandlungsgeschick und ihrer Einsatzbereitschaft den größtmöglichen Effekt für ihre Auftraggeber erzielen. Aber selbst, wenn sie empathisch oder ethisch motiviert sind und das ehrbare Ziel verfolgen, nicht nur die Würde, sondern vor allem das Leben der in den Krieg gezwungenen Mitmenschen zu schützen und das sinnlose Morden zu beenden, streben sie in den seltensten Fällen nach einer für alle Menschen lebenswerten, also gerechten und friedlichen Welt ohne Ausbeutung und Unterdrückung, ohne Kolonialismus und Rassismus. Sie helfen vielleicht, das direkte Metzeln zu vermeiden, aber das indirekte zu beseitigen – krankmachende und tötende Arbeitsbedingungen, das Sterben im Mittelmeer und in der Wüste, das bei Foxconn, in der Textilproduktion in Bangladesch, im Bergbau in Sudan usw. –, ist ihr Ziel nicht.
Die Menschen, die in den Herrschaftskalkülen nur nach ihrer Verwertbarkeit gelistet werden, sollten sich der Wahrheit stellen, dass es aus dem gegenwärtigen globalen militärischen, aber auch aus dem klimatischen und ökonomischen Desaster nur einen systemsprengenden, keinen diplomatischen Ausweg gibt: Sie müssen ihre dritte Chance innerhalb von etwas mehr als hundert Jahren erkennen und ergreifen, wenn sie eine lebenswerte Zukunft haben wollen. Wenn erstmals seit Beginn des Krieges in der Ukraine Gewerkschaften sich öffentlich gegen Waffenlieferungen und für Abrüstung aussprechen, wenn, über den großen Teich geblickt, in Ecuador die Mehrheit der Bevölkerung sich gegen weitere Ölförderung und gegen weitere Naturzerstörung ausspricht, lassen sie das einzige Handlungsmuster erahnen, das geeignet wäre, ihre Damen und Herren zu entmachten und nicht auf neue, drastischere Formen ihrer Haltung als menschliches Nutzvieh hereinzufallen: Das Heft des Handelns in die eigenen Hände nehmen, zu Subjekten der eigenen Geschichte werden. Aber der gewerkschaftliche Impuls müsste eine Welle des basisdemokratischen Eingreifens der organisierten Arbeiter- und Angestelltenschaft auslösen; der Generalstreik müsste als probates Mittel der Durchsetzung von Interessen großer Teile der Bevölkerung wieder hoffähig werden; Straßen müssten zu Orten der permanenten politischen Aktion werden. Noch wichtiger aber: In Russland und in der Ukraine wäre massenhafte »Fahnenflucht«, also Kriegsdienstverweigerung, zu mobilisieren, ein Ansatz, der in dem Bonmot »stell Dir vor, es ist Krieg und niemand geht hin«, kompakten Ausdruck findet – entsprechend müsste die Zivilgesellschaft jede Art von militärisch nutzbarer Produktion mit allen legitimen Mitteln zu unterbinden versuchen.
Eine Friedensbewegung, die ihre Bezeichnung verdient, müsste nicht nur nach diplomatischen Aktivitäten rufen, sondern vor allem die Abschaffung eines Systems fordern, dessen Protagonisten alle Formen des Krieges – von denen die des gegenseitigen Totschießens nur die spektakulärste ist – einsetzen, um seine Nutznießer, die Reichen und Mächtigen, reicher und mächtiger zu machen. Sie müsste darauf drängen, die abgewirtschaftete repräsentative durch eine Kombination aus direkter und Rätedemokratie zu ersetzen: Für eine Übergangszeit müssten existenzielle Entscheidungen, von denen alle Menschen betroffen sind – Krieg, Rüstung, Verkehr, Wohnen, Gesundheit, Sanktionen, Lebensarbeitszeit, Grundsicherung –, nicht von einer kleinen Minderheit in Parlament und Regierung, sondern von allen Menschen getroffen werden, also über Volksentscheide.
Es ist deutlicher denn je: Wer sich für den Frieden bewegt, muss versuchen, nicht nur den waffenstrotzenden, sondern auch den sozial-ökonomischen Krieg gegen die Mehrheit der Menschen zu beenden. Die Menschen wollen nicht durch Gewehrkugeln oder Granatsplitter getötet werden, und sie wollen genauso wenig mit 14 oder 16 Jahren vor einer so düsteren wie armseligen Zukunft stehen. In beiden Fällen dominiert nicht der Respekt vor ihrem Leben, ihrem Dasein als Menschen, sondern ausschließlich das Interesse, sie jenen verfügbar werden zu lassen, die Futter benötigen, für Kanonen, für Maschinen, für Produktionsprozesse. Da hilft kein diplomatischer Diskurs, kein Verhandlungsgeschick, sondern nur revolutionäre Kraft und Ausdauer. Bis zu dieser Einsicht scheint die Friedensbewegung noch einen weiten Weg zurücklegen zu müssen.