Beginnen wir mit dem Ende. Mitte März teilte die Potsdamer Staatsanwaltschaft mit, sie teile die Auffassung der DDR-Behörden, die 1986 den Tod eines Mosambikaners untersucht und Fremdverschulden ausgeschlossen hatten. So sagte das deren Gerichtssprecher natürlich nicht. Die dpa zitierte ihn mit den Worten, dass die acht Monate währenden »intensiven Prüfungen der Todesermittlungsakten« und der »beim Bundesbeauftragten für die Unterlagen der Staatssicherheit vorhandenen Dokumente« keinen Anhaltspunkt für ein Tötungsdelikt oder Manipulationen ergeben hätten.
So oder so formuliert: Mit dieser Feststellung wurde eine seit Jahren penetrant verbreitete Behauptung als das überführt, was sie von Anfang an war: eine dreiste und politisch zweckdienliche Lüge.
Der 23-jährige Mosambikaner Manuel Diogo – aufgrund eines im Oktober 1981 geschlossenen Regierungsabkommens zwischen der DDR und der Volksrepublik Mosambik zur Ausbildung in der DDR weilend wie insgesamt rund zwanzigtausend seiner Landsleute – war nach einer Feier in Dessau angetrunken in die Bahn gestiegen, verpasste seinen Bahnhof, sprang auf freier Strecke aus dem Zug, um in sein Wohnheim zurückzulaufen, und wurde von einem entgegenkommenden Güterzug erfasst. Daraus strickte Jahrzehnte später ein selbsternannter »DDR-Rechtsextremismus-Forscher« die Legende, es habe sich um einen Neonazi-Verbrechen gehandelt. Mehr noch: Die Stasi habe diesen Mord vertuscht, weil es in der antifaschistischen DDR keine Neonazis geben durfte.
Diese krude These fiel auf fruchtbaren publizistischen Acker. Denn: Im Kanon der Parolen zur Delegitimierung der DDR war und ist besonders jene beliebt, dass die DDR keinesfalls so antifaschistisch war, wie sie von sich behauptete. Das angeblich antifaschistische Fundament des untergangenen Landes sei nur ein Mythos, heißt es immer wieder. Wie eben auch sein Antisemitismus bezeugt sei. Die DDR-Gesellschaft war weitaus rassistischer und fremdenfeindlicher als die in der aufgeklärten Bundesrepublik (und diese Linie wird gezogen bis zur AfD, die doch nicht zufällig im Osten ihre stärksten Bataillone habe. Der braune Osten …).
So nimmt es nicht Wunder, dass die von Harry Waibel in die Welt gesetzte Behauptung vom vertuschten Nazi-Mord an dem Mosambikaner Diogo große Aufmerksamkeit fand. Der Eiferer aus dem Westen – obgleich in der Wissenschaft unbekannt – avancierte in den Medien zum gefragten Fachmann und konnte für jedes Interview bald mindestens vierhundert Euro verlangen. Mindestens. Schließlich brachte er »Beweise« für das vermeintliche Unrecht, das in der Zweiten Diktatur herrschte. Waibel wollte mehrere Hundert rassistische Überfälle in der DDR mit einem Dutzend Toten ausfindig gemacht haben. Diese waren seinerzeit offenbar ausnahmslos von den DDR-Deutschen nicht bemerkt worden. Klar, die Stasi hatte sie erfolgreich vertuscht.
Natürlich habe es einen »institutionellen und strukturellen Rassismus« in der DDR gegeben, wie von Politikern, Experten und vermeintlichen Zeitzeugen wiederholt bekräftigt wurde. Und Waibel, der Spezialist, lieferte ihnen dafür die Beweise. Jene, die sich in der Sache auskannten – etwa der ostdeutsche Kolonialhistoriker Ulrich van der Heyden –, widersprachen vehement, aber folgenlos dieser Unwahrheit: Es gab kein Gesetz – keine politische Rede oder Erklärung, kein Buch, kein Film, kein Gerichtsurteil in der DDR –, das fremdenfeindlich konnotiert gewesen sei und den Vorwurf des Rassismus bedient hätte. Wenn es rassistische Äußerungen Einzelner gab, folgten Konsequenzen auf dem Fuße: Das reichte von Abmahnungen bis hin zu Strafprozessen. Natürlich existierten rassistische Ressentiments auch bei Ostdeutschen, räumte auch Ulrich van der Heyden ein. Aber eben kein Alltagsrassismus, der im politischen System begründet gewesen wäre.
Eben dies allerdings behaupteten die »Aufarbeiter«. Wortführer wie Waibel wurden in der Süddeutschen Zeitung, in der Zeit, im Stern, auf NDR und RBB – also den sogenannten Qualitätsmedien – gern zitiert. Rowohlt edierte Max Annas »Morduntersuchungskommission« (Die Zeit am 14. August 2019: »Max Annas hat dieses Buch Manuel Diogo gewidmet, einem Vertragsarbeiter aus Mosambik, der 1986 bei Bad Belzig auf ähnliche Weise getötet wurde und dessen Fall bis heute ungelöst ist.«). Dieser Schlüsselroman wurde von zwei deutschen Literaturjurys ausgezeichnet, von der Kritik laut gelobt und in der Verlagswerbung vollmundig als der »erste große Kriminalroman aus der DDR« gepriesen – als würde es die inzwischen nach Hunderten zählenden einschlägigen Krimis, die in ostdeutschen Verlagen erschienen waren, nicht geben.
Der MDR, das reichweitenstärkste Dritte Programm der ARD, stellte sich ganz in den Dienst der »Aufklärung« dieses DDR-Verbrechens und setzte mit Laiendarstellern die Mordtat in bewegte blutige Bilder um. Der Film (»Schuld ohne Sühne: Warum rassistische Täter in der DDR davonkamen«, 2017) fand in der medialen Echo-Kammer selbstredend großen Zuspruch, er lief in der Folge auch auf 3sat und anderen öffentlich-rechtlichen TV-Kanälen. Ulrich van der Heydens Widerspruch endete mit der Aufforderung zur Abgabe einer strafbewehrten Unterlassungserklärung.
Das nd veröffentlichte, anders als andere Medien, des Historikers Monitum im Feuilleton (»Ein Mord, der keiner war«, nd vom 23. Oktober 2019), nachdem die Zeitung eine Woche zuvor Max Annas in einem Interview breiten Raum für Phantastereien gegeben hatte. (»Übrigens hat in der DDR die Gewalt gegen Vertragsarbeiter bereits in den 70ern angefangen. Zum Beispiel jagten 1975 fürchterlich viele Leute eine Gruppe Algerier durch die Stadt Erfurt. Den Staat hat das wenig interessiert.«) Van der Heyden sprach in seinem nd-Beitrag auch von der »dreisten MDR-Produktion, die das Bild vom ›Unrechtsstaat‹ DDR verfestigen soll«.
Und wie reagierte die »sozialistische Tageszeitung« auf diese Bemerkung? Sie widersprach vier Wochen später mit einem redaktionellen Beitrag auf der Seite 3, indem sie die Waibel-MDR-Lesart unkritisch übernahm: »Von den Baseballschlägerjahren. In den 80er Jahren kamen DDR-Vertragsarbeiter unter rätselhaften Umständen zu Tode.« In jenem ganzseitigen Beitrag wurde Waibel (der »jahrzehntelang in Stasi-Akten geforscht« hat) auch mit der Aussage zitiert, es habe 200 »Pogrome beziehungsweise pogromartige Angriffe« auf Ausländer in der DDR gegeben – eben unter »rätselhaften Umständen«.
Nun, die vorliegenden DDR-Akten hatten keineswegs Rätsel hinterlassen. In jedem einzelnen Fall war sauber ermittelt worden, die bürokratisch dokumentierten Untersuchungen warfen keine Fragen auf. Das vermeintliche »Rätsel« war allenfalls das westdeutsche Vorurteil, dass die DDR-Ermittler unfähig gewesen seien, und ferner, dass die Stasi die Untersuchungsergebnisse manipuliert habe.
Dass die von Waibel und seinem Gefolge verdrehte Sache nunmehr von der Potsdamer Staatsanwaltschaft richtiggestellt wurde, hängt mit mindestens drei Fakten zusammen. Zum einen war da die Hartnäckigkeit des Berliner Historikers Ulrich van der Heyden, der jahrelang wie Don Quijote gegen die vereinigten Windmühlenflügel der hiesigen Medien anrannte. Zum anderen gab es im Juni 2020 eine diesbezügliche Kleine Anfrage einer Linken-Abgeordneten im Brandenburger Landtag, die die Staatsanwaltschaft auf den Plan rief – bekanntlich verjähren Gewaltverbrechen nicht. Und schließlich, drittens, war da die Berliner Zeitung, die aus der Phalanx der Waibel-Fans ausscherte. Das hing kausal wohl mit dem Eigentümerwechsel zusammen, denn als der ostdeutsche Millionär Holger Friedrich die Berliner Zeitung im Herbst 2019 übernahm, gab es alsbald auffällige Veränderungen: Es erschienen beispielsweise Interviews mit Personen, mit denen dreißig Jahre lang nicht gesprochen oder nur abfällig über sie berichtet worden war, es kamen Themen in die Zeitung, bei denen objektiv und souverän mit der DDR-Vergangenheit umgegangen wurde, die Tonalität änderte sich. Man meinte, dass einige Fenster der Redaktionsräume geöffnet worden waren und der Westmief aus Hochmut und Besserwisserei sich verflüchtigt hatte. Nicht vollständig, aber mindestens partiell.
Sofort wurde von der Konkurrenz der Verleger Friedrich als Stasi-IM denunziert. Doch wer in dieser Republik ein dickes Konto hat, der hat auch ein dickes Fell. Die Zeitung ging der Diogo-Sache nach, insbesondere Anja Reich, Ressortleiterin Dossier, recherchierte vorurteilsfrei und ohne ideologische Brille. In mehreren Beiträgen, die seit Herbst 2020 erschienen, machte sie den Vorgang detailliert publik. Gemeinsam mit ihrer Kollegin Jenni Roth porträtierte sie am 18. Dezember 2020 auch den Initiator der Diogo-Stasi-Story und benannte schon in der Überschrift ihr Fazit: »Das Geschäft mit der DDR. Wie der Historiker Harry Waibel seit 30 Jahren Stasi-Unterlagen zieht und Geschichte umschreibt.« Bezeichnend ist eine Passage in ihrem Text: »Im Gespräch mit der Berliner Zeitung in seinem Wohnzimmer fragt er plötzlich eine der Interviewerinnen: ›Haben Sie DDR-Hintergrund? Wo kommen Sie her?‹ – ›Aus Ost-Berlin.‹ – ›Aha‹, ruft er triumphierend, ›aus der Hauptstadt der Neonazis.‹« Wenig überraschend, dass Waibel im gleichen Atemzug die ostdeutsche Schriftstellerin Daniela Dahn, die in mehreren Büchern den Umgang mit den Ostdeutschen seit 1990 kritisch analysierte, eine »prominente Leugnerin« nennt.
Die beiden Autorinnen fragten sich, weshalb Typen wie Waibel eine derartige Wirkung entfalten können. Und kamen zu dem durchaus richtigen Schluss: »Dass er damit durchkommt, hat mit einem Journalismus zu tun, der DDR-Geschichte lieber skandalisiert als sie aufzuarbeiten.«
Das ist richtig, aber nicht die ganze Wahrheit. Denn warum tut »der Journalismus« dies? Weshalb folgt er lieber dem Zeitgeist als kritischen Geistern? Hat das was mit Opportunismus zu tun, mit Anpassung oder Existenzangst? Und: Wird die Feststellung der Staatsanwaltschaft Potsdam etwa dazu führen, dass sich die Waibel-Claque in den Medien bei ihrem Publikum entschuldigt, weil es ihm Lügen als Wahrheit verkaufte? Es wäre eine Premiere.