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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Digitalisierung und Armut

»Wir müs­sen die Digi­ta­li­sie­rung vor­an­trei­ben«, for­dern Chri­stoph Neu­ber­ger und Sascha Friesike vom Direk­to­ri­um des Wei­zen­baum Insti­tuts. Die Coro­na-Kri­se sei die Chan­ce zu einem zwei­ten »Inter­net-Früh­ling«. Der Zusam­men­hang zwi­schen Digi­ta­li­sie­rung und Ver­ar­mung wird dabei ger­ne über­se­hen. »Was mir Sor­ge macht, ist die Geschwin­dig­keit des tech­no­lo­gi­schen Wan­dels, das ist wirk­lich noch nie so dage­we­sen, dass inner­halb von zehn Jah­ren kom­plet­te Sek­to­ren ver­schwin­den kön­nen«, warn­te früh­zei­tig Mar­cel Fratz­scher vom Deut­schen Insti­tut für Wirtschaftsforschung.

80 Pro­zent der Mana­ger haben in der Pan­de­mie neue Tools und Tech­no­lo­gien aus­pro­biert und dabei gro­ße Lern­ef­fek­te für die digi­ta­le Trans­for­ma­ti­on erzielt, ergibt eine Umfra­ge von Bit­kom Rese­arch bei rund 500 Geschäfts­füh­rern, Vor­stän­den und Digi­ta­li­sie­rungs­ver­ant­wort­li­chen. »In der Coro­na-Pan­de­mie wur­den Unter­neh­men gezwun­gen, Home­of­fice ein­zu­füh­ren und Pro­zes­se zu digi­ta­li­sie­ren – und sehr vie­le haben dabei bemerkt, dass dies nicht nur eine Not­ope­ra­ti­on ist, son­dern grund­sätz­li­che Vor­tei­le bringt«, kom­men­tiert Bit­kom-Prä­si­dent Achim Berg. Coro­na wer­de zum »Game Chan­ger«. Die Digi­ta­li­sie­rung in den Betrie­ben erhält einen mäch­ti­gen Schub.

Neue Tech­nik erfasst immer mehr Daten. Sam­melt immer mehr Daten. Big Data bedeu­tet in den Betrie­ben häu­fig die Anwen­dung von Algo­rith­men zur mög­lichst auto­ma­ti­schen Aus­wer­tung aller Daten von allen Arbeits­pro­zes­sen, auf die der Vor­ge­setz­te dann zugrei­fen kann. Es wird aus­ge­wer­tet, wie lan­ge der Mit­ar­bei­ter für ein Gespräch mit einem Kun­den oder die Bear­bei­tung eines Antra­ges benö­tigt hat. Im näch­sten Schritt ent­ste­hen For­men der Arbeits­or­ga­ni­sa­ti­on, die stark auf Fremd­steue­rung set­zen: Arbeits­schrit­te wer­den immer stär­ker zer­glie­dert und Beschäf­tig­ten haben nur noch weni­ge oder kei­ne Ent­schei­dungs­spiel­räu­me mehr. Sie wer­den über­wacht. Der näch­ste Schritt ist die Auto­ma­ti­sie­rung. Ein Pro­zess, der in den Fabri­ken schon weit fort­ge­schrit­ten ist.

Tech­nik ersetzt mensch­li­che Arbeit. Man­che Online-Bera­tung wird per Chat-Bot durch die Maschi­ne über­nom­men; Stel­len in der Kun­den­be­ra­tung oder in der Genuss­mit­tel­her­stel­lung, von Packern oder Trans­port­ar­bei­tern, von Werk­zeug­ma­chern oder Kraft­wer­kern wer­den abge­baut. Unklar ist, wie vie­le Arbeits­plät­ze kon­kret ent­fal­len wer­den. Eine viel beach­te­te Stu­die von Carl Frey und Micha­el Osbor­ne sieht für die USA 47 Pro­zent des Beschäf­ti­gungs­vo­lu­mens in Pro­duk­ti­on, Ein­zel­han­del oder in Dienst­lei­stungs­be­rei­chen wie Medi­zin, Ban­ken oder Archi­tek­tur­bü­ros als gefähr­det an. Beson­ders Stel­len gering qua­li­fi­ziert Arbei­ten­der kön­nen leicht weg­fal­len, der Weg in Hartz IV und Armut ist dann nicht weit.

Aber sie sind nicht die ein­zi­gen, deren Arbeits­plät­ze gefähr­det sind. Zwar kann die Arbeit vie­ler hoch­qua­li­fi­zier­ter Ange­stell­ter nicht mehr durch ein­fa­che Metho­den gesteu­ert wer­den. Die kom­ple­xe Arbeit eines Pro­gram­mie­rers kann ein Vor­ge­setz­ter kaum mit Anwei­sun­gen im Sin­ne von »Befehl und Gehor­sam« beein­flus­sen, dafür fehlt die­sem der Ein­blick in Details der Arbeit. Aber auch hier gibt es Manage­ment­stra­te­gien, etwa »digi­tal lea­der­ship«: »Auf­ga­be der Füh­rungs­kräf­te ist es, einen Rah­men zu schaf­fen, in dem sich die Mit­ar­bei­ter ent­fal­ten kön­nen«, ver­kün­det Thor­sten Petry, Pro­fes­sor der Hoch­schu­le Rhein-Main. Die­ser Ansatz klingt zunächst nur nach der Fle­xi­bi­li­tät, die von den Beleg­schaf­ten ver­langt wird – und scheint aus Sicht der Beschäf­tig­ten auf den ersten Blick kei­ne grund­le­gen­de Ver­än­de­rung zum heu­ti­gen Stand zu sein. Es geht aber um mehr: Ziel ist eine grund­le­gen­de Umge­stal­tung der Arbeits­ab­läu­fe und der Arbeits­ver­ga­be. Auch mit Hil­fe des Home-Office.

Noch sehen vie­le Arbeit­neh­mer das Home-Office wegen der grö­ße­ren Sou­ve­rä­ni­tät als Erfolgs­mo­dell. Und (auch) an sei­nem Heim­ar­beits­platz ent­schei­det der Beschäf­tig­te eigen­stän­dig, WIE er das Ziel errei­chen kann. Statt mit direk­ten Anwei­sun­gen, wie eine Arbeit aus­zu­füh­ren ist, orga­ni­sie­ren die hoch­qua­li­fi­zier­ten Beschäf­tig­ten ihre Arbeits­ab­läu­fe selbst. Doch für Heim-Arbei­ten­de haben Unter­neh­men in Coro­na-Zei­ten die Arbeits­steue­rung ver­än­dert. Zuneh­mend nut­zen sie Arbeits­pa­ke­te, »um die Men­schen im Home­of­fice zu len­ken und zu über­wa­chen« erklärt Swen Schnei­der, Pro­fes­sor der Frank­furt Uni­ver­si­ty of Applied Sci­en­ces. Die ein­zel­nen Auf­ga­ben und Auf­trä­ge wer­den eben­so wie die ein­zel­nen Beschäf­tig­ten zuneh­mend nach dem Kosten-Nut­zen-Prin­zip betrach­tet. Als Paket. Doch wenn man als Arbeit­ge­ber immer mehr in Pro­jek­ten und Arbeits­pa­ke­ten den­ke, so Schnei­der, wenn sol­che abge­grenz­ten Arbeits­pa­ke­te erst ein­mal doku­men­tiert und nach­voll­zieh­bar sei­en, mer­ke das Manage­ment schnell, dass es »nicht zwangs­läu­fig fest­an­ge­stell­te Mit­ar­bei­te­rin­nen und Mit­ar­bei­ter braucht. Die Arbei­ten kön­nen auch von Frei­en aus­ge­führt wer­den. Und das mit Sitz auf der gan­zen Welt. Auch da, wo Arbeits­kraft deut­lich bil­li­ger ist als in Deutsch­land«. Die Fol­gen sind weit­ge­hend: Arbeits­ver­hält­nis­se oder plan­ba­ren und aus­kömm­li­chen Lohn gibt es so nicht mehr. Der Weg in die Gig Eco­no­my. Die Gig Eco­no­my bezeich­net einen ver­gleichs­wei­se neu­en Teil des Arbeits­mark­tes. Klei­ne Auf­trä­ge, die kurz­fri­stig an eine Viel­zahl von unab­hän­gi­gen Frei­be­ruf­lern ver­ge­ben wer­den. So wie Musi­ker von ­einem bezahl­ten Auf­tritt (Gig) zum näch­sten, han­geln sich bei­spiels­wei­se Uber-Fah­rer oder Deli­veroo-Boten von einem Auf­trag zum ande­ren. Auf Platt­for­men wie Myham­mer oder Tas­krab­bit wer­den Hand­werks- oder Putz­tä­tig­kei­ten ver­mit­telt. Bei Twa­go oder Upwork kön­nen Fir­men ein­zel­ne Auf­trä­ge oder Pro­jek­te an Desi­gner, Über­set­zer oder Tex­ter vergeben.

Dank High-Tech-Kapi­ta­lis­mus wird zyni­scher­wei­se auch noch das Pro­ze­de­re der Ent­las­sung zur Ware. Das Ber­li­ner Start­up Twin­win »hilft Unter­neh­men dabei, ihre Mit­ar­bei­ter los­zu­wer­den«, mel­det businessinsider.de. Die Auf­ga­be über­nimmt ein vir­tu­el­ler »Tren­nungs­ma­na­ger«, eine eigens ent­wickel­te Soft­ware. Die Tech­nik erklärt die ein­zel­nen Schrit­te zur Kün­di­gung und lie­fert im Vor­feld For­mu­lie­rungs­hil­fen etwa für Abmah­nun­gen. Jede auto­ma­ti­sier­te Tren­nungs-Ana­ly­se kostet eine Gebühr von 60 Euro, auch ein Flat­rate-Abo ist mög­lich. »Frü­her war ein Arbeit­neh­mer jah­re­lang bei dem glei­chen Arbeit­ge­ber, das ist heu­te anders«, freut sich Max Bau­er­mei­ster über sein Geschäfts­mo­dell. So kann auch Armut zum Geschäft gemacht werden.

Mar­cus Schwarz­bach ist Autor des neu­en isw-wirt­schafts­in­fos, Nr. 59: »Coro­na: Pro­fi­te zuerst – statt Gesund­heit« /​ www.isw-muenchen.de