Geplant war Hybrid-Lehre. Halb Präsenz, halb digital. Daraus wurde nichts. Ansteigende Inzidenzwerte verhinderten sie. Nun nur noch digitaler Fernunterricht. Verwaiste Seminarräume, allein ich darin und die elektronische Tafel. Die Studenten sitzen vor ihren häuslichen Computern. Sie sehen mich nicht. Ich sehe sie nicht. Sie sehen nur die virtuelle Tafel, an der ich arbeite. Wir sind über das Internet verbunden, hören uns, könnten »interaktiv kommunizieren«, das heißt, mit- oder untereinander reden. Meist spreche ich. Die Studenten hören zu. Vermute ich vertrauensvoll. Die Tafel – fabelhafte Technik. Die Admins öffnen mir den Zugang zu den virtuellen Räumen. Die Bedienung ist einfach, die Möglichkeiten beeindruckend: Ich kann schreiben, malen, geometrische Figuren entwerfen, unterschiedliche Schriftstärken und -farben nutzen. Eine Radiergummifunktion ermöglicht es, Schreibfehler mühelos und sauber zu beseitigen. Unendlich viel Platz, man muss das Tafelbild nicht abwischen, kann immer neue Seiten aufrufen, um sie zu beschriften. Gefüllte Seiten werden automatisch gespeichert. Man kann auf frühere zurückgreifen, wenn man Brücken zwischen den Themen schlagen und Zusammenhänge verdeutlichen will. Faszinierende Alternative zum unersetzbaren Präsenzunterricht und zur klassischen Kreidetafel, im digitalen Zeitalter nach wie vor mein Lieblingsinstrument.
Aber der technische Fortschritt hat eine Kehrseite. Wo Vorteile sind, gibt es Nachteile. Alles Gute hat seinen Preis. Die Studenten sitzen nicht mehr vor mir wie im geliebten Frontalunterricht, ich sehe nicht mehr den Glanz und das Staunen in ihren Augen, wenn ich ihnen atemberaubende Gleichungssysteme vorführe. Ich vermisse ihre auf mich überflutende Empathie, wenn ich Formeln entwickele, sie umstelle und in andere einsetze, spüre nicht mehr den Dank, wenn ich sie in sensationelle wissenschaftliche Geheimnisse einweihe. Erhebende Gefühle – für immer verloren? Ich spüre den Verzicht. Er ist groß und schmerzt.
Aber die Vorteile überwiegen: Meine geschundene Paukerseele erholt sich langsam vom jahrelang angestauten Ärger. Ich muss keine müden Augen mehr sehen, die schweren Lider der vor mir Sitzenden, mich grämen über die, die den Kopf in beide Hände gestützt, sich erholen von der nächtlichen Fete, während ich ihnen die Leistungen der Wissenschaft offenbare. Ich muss keinen ermahnen, der die Vorlesung stört, niemanden auffordern, das laute Gespräch mit dem Nachbarn zu beenden. Ich muss nicht mehr moralisieren: »Schalten Sie das Handy aus!« »Sie surfen doch schon wieder im Internet!« »Wenn Sie so weitermachen, fallen Sie durch die Prüfung!« Ich brauche mich nicht mehr zu bemitleiden, wenn die Ersten eine halbe Stunde vor Ende den Vorlesungsraum verlassen. Mit den Studenten ist alles Unangenehme weg. Ich fühle mich sauwohl, muss mich nicht kämmen, nicht rasieren, nicht mit Eau de Cologne beträufeln. Ich kann die ausgelatschten Schuhe anziehen, die ich bei der Gartenarbeit trage, das befleckte Hemd, dass ich anhabe, seit ich vor Wochen die Laube und Pergola strich. Ich muss mir keine zig Geburts- und Sterbedaten berühmter Gelehrter mehr einprägen, um so zu tun, als sei es die normalste Sache der Welt, sie auswendig zu kennen. Jetzt kann ich mich auf den Stuhl setzen, die Beine auf den Tisch legen und die Zahlen einfach vom Blatt ablesen. Gemütlich, entspannend. Ich kann in der Nase popeln, muss keinen Furz mehr unterdrücken oder versuchen, ihn sanft, ungehört entweichen zu lassen. Wild und frei, entbunden aller Konventionen, lasse ich nach Herzenslust einen fahren. Der befreiende Luftzug knattert durch die Po-Backen und ich denke an den alten Mann im erzgebirgischen Dorf, der seinen Hausarzt mit der Nachricht empfängt, er könne, wenn er eine rohe Zwiebel gegessen habe, das Steigerlied furzen. Ach, wie liebe ich die digitale Welt und das einsame Klassenzimmer, das allein mir gehört. Mit Johann Wolfgang von Goethe jubiliere ich: Hier im leeren Raum bin ich Mensch, hier darf ich’s sein!