Nach unserem Blick zurück ins letzte Jahrtausend, auf Volkszählung, Boykottbewegung und 40 Jahre Volkszählungsurteil (Ossietzky 01/2024), fragen wir uns: Was ist aus dem seinerzeit vom Bundesverfassungsgericht aus der Taufe gehobenen neuen Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung eigentlich geworden? Schließlich handelte es sich dabei um eine wegweisende Entscheidung just in der Anfangsphase einer gesellschaftlichen und staatlichen Transformation, die uns mit einer rasanten Digitalisierung in die moderne Informationsgesellschaft katapultierte.
Einen epochalen Einschnitt erfuhr die Sicherheitspolitik des Westens und damit auch der Bundesrepublik mit den staatlichen Reaktionen auf die Terror-Anschläge in den USA vom 11. September 2001. Hierzulande bescherte uns ein teils ausufernder Antiterrorkampf die umfangreichsten Sicherheitsgesetze, die in der bundesdeutschen Rechtsgeschichte jemals auf einen Streich verabschiedet worden sind (2002 ff.). Polizei- und Geheimdienstbefugnisse wurden stark ausgeweitet und Migranten, besonders Muslime unter ihnen, quasi unter Generalverdacht gestellt und einer noch intensiveren Überwachung unterzogen. Diesen »Sicherheitsgesetzen« folgten mehrere »Terrorismusbekämpfungsergänzungsgesetze«, ein »Videoüberwachungsverbesserungsgesetz« sowie Verschärfungen der Polizeigesetze in Bund und Ländern (2016 ff.). Damit wurden Polizeiaufgaben und Überwachungsbefugnisse – wie heimliche Online-Durchsuchung von Computern mit Staatstrojanern oder elektronische Fußfesseln und Präventivhaft für »Gefährder« – weit ins Vorfeld konkreter Gefahren und möglicher Straftaten verlagert, zu Lasten von Grund- und Freiheitsrechten und rechtsstaatlichen Prinzipien.
Ein Beispiel zur Veranschaulichung der Problematik: Mit der inzwischen polizeirechtlich und auch geheimdienstlich zulässigen Online-Durchsuchung per Staatstrojaner bricht der Staat massiv in Privat- und Intimsphäre, Persönlichkeitsrechte und informationelle Selbstbestimmung der Betroffenen ein. So kann die Polizei unbemerkt auf Telekommunikation, gespeicherte Festplatteninhalte, intimste Informationen, Fotos und Filme zugreifen. Es handelt sich um einen schweren Grundrechtseingriff, einen Einbruch in alle Lebensbereiche bis hinein in Gedanken- und Gefühlswelten der Betroffenen und ihrer Kontaktpersonen, das heißt auch von unbeteiligten Dritten. Staatstrojaner öffnen darüber hinaus Missbrauch und gefährlichen Cyberattacken Krimineller Tür und Tor. Die Polizei nutzt dabei Sicherheitslücken in der Software längerfristig für die heimliche Einschleusung ihrer Staatstrojaner, anstatt diese Sicherheitslücken sofort schließen zu lassen. So gerät die gesamte Infrastruktur in Gefahr, zulasten der Allgemeinheit und unter Aushöhlung des Grundrechts auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität von IT-Systemen, das das Bundesverfassungsgericht 2008 angesichts der technologischen Entwicklung und ihrer Gefahren proklamiert hatte.
Man könnte angesichts dieser Gesetzesentwicklung auch von ausufernden »Notstandsgesetzen für den Alltag« sprechen und von einem präventiven Sicherheitsstaat, der sich auf den Weg zum Überwachungsstaat macht. Mit der zur Maßlosigkeit neigenden Präventionslogik verkehren sich auch die Beziehungen zwischen Bürger und Staat: Die Unschuldsvermutung, eine der wichtigsten rechtsstaatlichen Errungenschaften, büßte so ihre Staatsmacht begrenzende Funktion ein. Der Mensch mutiert tendenziell zum potentiellen Sicherheitsrisiko und muss unter Umkehr der Beweislast seine Harmlosigkeit und Unschuld nachweisen; auf der anderen Seite wird die »Sicherheit« quasi zum »Supergrundrecht«, das die Grundrechte mehr und mehr in den Schatten zu stellen droht. Dabei gerät in Vergessenheit, dass es weder in einer hoch technisierten Risikogesellschaft, in der wir ja leben, noch in einer offenen, liberalen Demokratie absoluten Schutz vor Gefahren und Gewalt geben kann.
Terror und Terrorangst stärken die Staatsgewalt und entwerten Freiheitsrechte – das hat sich seit 9/11 immer wieder deutlich gezeigt. Tatsächlich mussten Bundesverfassungsgericht (BVerfG) und Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte mehrfach maßlose Antiterrorgesetze und Sicherheitsmaßnahmen und deren digitale Potentiale ganz oder teilweise für verfassungswidrig erklären. Erinnert sei nur an den »Großen Lauschangriff« mit elektronischen Wanzen in Wohnungen (in diesem Zusammenhang hat das BVerfG 2004 den Kernbereich privater Lebensgestaltung unter absoluten Schutz gestellt), an die präventive Telekommunikationsüberwachung oder den Fluggast-Datentransfer an US-Sicherheitsbehörden. Auch die exzessiven Rasterfahndungen nach »islamistischen Schläfern« sind für verfassungswidrig erklärt worden, ebenso präventive Terrorabwehrbefugnisse des Bundeskriminalamtes und die anlasslose Vorratsspeicherung von Telekommunikationsdaten der gesamten Bevölkerung. Zu diesen ohne Verdacht auf Vorrat gespeicherten Massendaten gehörten Verkehrs-, Standort-, Teilnehmer- und andere Daten aller Telekommunikationsvorgänge (mit Ausnahme des eigentlichen Inhalts). Könnte ja sein, dass sie später eventuell zu Strafermittlungszwecken benötigt werden.
Hiergegen hatte ich 2008 in Kooperation mit dem Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung (AK Vorrat) und dem Datenschutz- und Bürgerrechtsverein Digitalcourage Verfassungsbeschwerde vor dem BVerfG eingelegt – und zwar zusammen mit fast 35.000 Menschen. Es war die bis dahin größte Massenbeschwerde in der bundesdeutschen Rechtsgeschichte. Daraufhin erklärte das BVerfG 2010 diese Regelung für weitgehend verfassungswidrig, so dass die Unmengen auf Vorrat gespeicherter Kommunikationsdaten wieder gelöscht werden mussten. Auch die daraufhin abgeänderte Vorratsdatenspeicherung (2015) ist rechtswidrig sowie mit EU-Recht unvereinbar, so der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im September 2023. Eine allgemeine und unterschiedslose Speicherung und Sammlung von Kommunikationsdaten sei mit den Grundrechten auf Privatsphäre, Datenschutz und Meinungsfreiheit unvereinbar. Auch gegen die gesetzliche Ermächtigung von Polizei und Geheimdiensten, heimlich Staatstrojaner in Computersysteme zur Online-Durchsuchung einschleusen zu können, haben wir 2018 Verfassungsbeschwerde eingelegt; weitere Beschwerden sind anhängig.
2020 erklärte das BVerfG die weltweite Massenüberwachung (»strategische Auslandsaufklärung«) durch den Auslandsnachrichtendienst BND für weitgehend verfassungswidrig und stärkte damit internationale Menschenrechte und Pressefreiheit (Urteil, Mai 2020). Auch die »Bestandsdatenauskunft«, also der staatliche Zugriff auf personenbezogene Daten von Telekommunikationsdienste-Anbietern über ihre Kundinnen und Kunden ist schon zum zweiten Mal für verfassungswidrig erklärt worden (letztes Urteil, Mai 2020); und eine Norm des »Antiterrordatei-Gesetzes« (ATDG) verstößt, so das BVerfG, gegen das Grundrecht auf Informationelle Selbstbestimmung und ist damit verfassungswidrig und nichtig (Urteil, Nov. 2020). Auch Datenübermittlungsbefugnisse im Nachrichtendienstrecht (Verfassungsschutz, BND, Militärischer Abschirmdienst), mit denen das Gebot der Trennung von Geheimdiensten und Polizei unterlaufen werden kann, hielten den verfassungsrechtlichen Ansprüchen des Gerichts nicht Stand (2022). Ob die daraufhin erfolgte Neuregelung der Befugnisse vom November 2023 tatsächlich in Gänze verfassungskonform geraten ist, ist allerdings mehr als fraglich.
Wie oft hatte ich im Laufe der Jahrzehnte als parlamentarischer Sachverständiger die Abgeordneten vor der Verfassungswidrigkeit einzelner Sicherheitsgesetze oder Bestimmungen gewarnt. Zumeist allerdings ohne durchschlagenden Erfolg – wurde jedoch in mehreren Fällen etliche Jahre später verfassungsgerichtlich ganz oder teilweise bestätigt. Die Verfassungsgerichte rügten in all diesen Fällen, dass Regierungen und Parlamentsmehrheiten Grund- und Bürgerrechte, die Menschenwürde und den Kern privater Lebensgestaltung unhaltbaren Sicherheitsversprechen und einer vermeintlichen Sicherheit geopfert hatten. Die ausgesprochen hohe Anzahl verfassungswidriger Gesetze dokumentiert letztlich ein bedenklich verkümmertes Verfassungsbewusstsein in der politischen Klasse und in mancher Sicherheitsbehörde
Wir mussten durch die Jahrzehnte hindurch erleben, dass mit Staatsschutz-, Sicherheits-, Überwachungs- und Antiterror-Gesetzen, aber auch mit Asyl- und Migrationsgesetzen die Menschenwürde, Grund- und Freiheitsrechte immer wieder schwer beschädigt werden. Insgesamt und strukturell betrachtet machte sich der demokratische Rechtsstaat, wie bereits angedeutet, auf den Weg in Richtung eines präventiv-autoritären Sicherheits- und Überwachungsstaats – eines Staates, der demokratisch immer schwerer kontrollierbar ist, in dem der Mensch zum Sicherheitsrisiko zu mutieren droht, in dem Rechtssicherheit und Vertrauen der Bürger allmählich verloren gehen. Mit einem weiteren ungezügelten Siegeszug »Künstlicher Intelligenz« (KI) wird sich die Problematik noch potenzieren.
Zwar lässt sich die Mehrheit der Bevölkerung mit Angstpolitik und durch unhaltbare Sicherheitsversprechen von Parteien und Regierungen immer wieder beschwichtigen – oder besser gesagt: hintergehen. Dennoch regte und regt sich durch die Jahrzehnte hindurch auch immer wieder außerparlamentarischer Protest, der zuweilen Abertausende Menschen auf die Straßen treibt. Getragen und betrieben wird die Oppositionsarbeit von durchaus breiten zivilgesellschaftlichen Bündnissen unter Beteiligung vieler Bürgerrechts- und Datenschutz-Organisationen, aber auch von Friedens-, Klima- und Umweltvereinigungen. Erinnert sei etwa an die großen Demos und Kundgebungen Freiheit statt Angst sowie an die Gründung und Arbeit von Datenschutzorganisationen und Gruppen, wie ChaosComputerClub, Digitalcourage, Forum InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung, Deutsche Vereinigung für Datenschutz oder Gesellschaft für Freiheitsrechte. Sie alle kümmern sich um die Grundrechte auf Privat- und Intimsphäre, auf informationelle Selbstbestimmung und Anonymität in digitalen Sphären und betreiben »digitale Selbstverteidigung«. Unter anderem auch, wie Digitalcourage in Bielefeld, mithilfe der jährlichen Verleihung des Negativpreises BigBrotherAward (BBA) an Datenschutzfrevler in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft. 20 Jahre lang durfte ich an diesem Aufklärungsprojekt als Jurymitglied und Laudator teilhaben und mitwirken. Die prekäre Entwicklung in dieser Zeitspanne von 2000 bis 2020 habe ich in Datenkraken im Öffentlichen Dienst. »Laudatio« auf den präventiven Sicherheits- und Überwachungsstaat (PapyRossa, Köln 2021) Revue passieren lassen. Auch im jährlichen Grundrechte-Report. Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland sind regelmäßig Fälle gravierender Grundrechtsverletzungen im digitalen Zeitalter dokumentiert und nachzulesen.
Solche Aufklärungs- und Oppositionsaktivitäten lassen jedenfalls hoffen, gerade weil selbstbewusster und starker Protest und Widerstand dringender sind denn je. Grund- und Freiheitsrechte müssen Tag für Tag verteidigt, fortentwickelt oder aber neu erkämpft werden. Und es ist höchste Zeit für eine längst überfällige unabhängige Evaluierung aller bisherigen Sicherheits- und Antiterror-Gesetze und ihrer konkreten Anwendung, und zwar als Basis für eine »Überwachungsgesamtrechnung«, wie sie vom BVerfG bereits 2010 angemahnt worden ist (Az 1 BvR 256/08, Rn. 1). Eine solche Bilanzierung und Evaluierung, die auch demokratische Transparenz schaffen soll, wird übrigens von der Ampelregierung angestrebt und soll bis Ende 2024 umgesetzt werden. Dann ist auch die Einrichtung einer »Freiheitskommission« geplant, die auf Grundlage der jeweiligen Überwachungsgesamtrechnung bei künftigen sicherheitspolitischen Gesetzesvorhaben beraten soll. Es bleibt abzuwarten und kritisch zu begleiten, wie dieses durchaus sinnvolle Gesamtvorhaben umgesetzt wird – schließlich geht es um die Gewährleistung einer grundrechtsbasierten Innen- und Rechtspolitik, die in der Summe ihrer Sicherheitsgesetze das für eine Demokratie erträgliche Maß an Überwachung nicht überschreiten darf. Nur so lässt sich vermeiden oder rückgängig machen, dass das freiheitliche demokratische Gemeinwesen allmählich unterminiert und von innen heraus geschädigt wird, wie es in der Realität wohl längst passiert.