Wenn man früher einen wütenden Brief an jemanden schicken wollte, der einen geärgert hatte, ließ man das Geschriebene oft über Nacht liegen. Der Weg zum nächsten Postkasten wäre am Abend zu weit gewesen, oder man hatte gerade keine Briefmarke zur Hand. Am nächsten Morgen war dann der Zorn schon halb verraucht, oder es kamen einem Bedenken ob der unkalkulierbaren Folgen. Also beließ man es beim Entwurf. Das war gut so, denn der Zweck war bereits erfüllt. Man hatte sich abreagiert, und der Weg zu einer Klärung der Sache war nicht verbaut.
Heute schreibt man keine Briefe mehr, sondern E-Mails. Das schnelle Medium verleitet zu schnellen Reaktionen. Hinter seinem Laptop verschanzt kann man leicht virtuelle Pfeile auf diejenigen abschießen, die einen geärgert oder verletzt haben. Eine Bedenkzeit gibt es dabei nicht. Wer speichert schon seine Mail unter Entwürfe ab, wenn er gerade im Flow des Formulierens ist und der Ärger oder die Verletzung so tief sitzen, dass sie nach rascher oder endlicher Satisfaktion verlangen. Ein Mausklick und die Sache ist scheinbar erledigt.
Beim Mailen kann man sich einigermaßen sicher sein, dass der Adressat erreicht wird. Bei Briefpost ist es nie ganz klar, ob sie ankam, ob sie überhaupt geöffnet und gelesen wurde. Manche Briefe werden verlegt oder landen einfach im Papierkorb. Aber eine Mail nicht zu öffnen, wenn der Absender bekannt ist, würde schon einen heroischen Kampf gegen die eigene Neugier erfordern. Eben weil es nur eines Mausklicks bedarf. Schon deshalb ist es äußerst attraktiv, virtuelle Pfeile abzuschießen. Sie treffen ihr Ziel.
Dann aber geht es los. Ob er auf diese Mail antworten soll und wenn ja, wie, fragt sich der Angeschriebene. Soll er Verständnis zeigen für den Ärger und die Verletztheit des anderen? Soll er gar eine Schuld oder Mitschuld einräumen? Oder ärgert er sich seinerseits über Vorwürfe, die ihm falsch, ungerecht oder maßlos übertrieben vorkommen? Hinter seinem Laptop verschanzt denkt er fieberhaft darüber nach: Verteidigung, Begütigung oder Gegenangriff? Der Griff in die Tasten liegt nahe. Zumal allgemein erwartet wird, dass auf Mails schnell geantwortet wird.
Das Unheil nimmt seinen Lauf. Die gegenseitigen Missverständnisse und Verletztheiten schaukeln sich hoch, wenn das Ganze nicht unterbrochen und der Versuch einer Aussprache »face to face« oder wenigstens per Telefon gemacht wird.
Besonders unproduktiv sind meist auch Versuche, per Rundmail Diskussionen zu führen. Obwohl gerade das als vom Medium ermöglichtes demokratisches und transparentes Verfahren gilt. Weil alle anscheinend alles mitbekommen und zu allem Stellung nehmen können. Das führt aber häufig dazu, dass kleine Meinungsverschiedenheiten aufgebauscht oder Formulierungen auf die Goldwaage gelegt werden, weil man sich profilieren möchte, was bei räumlicher Trennung einfacher ist als in einer offenen Debatte mit bestimmten Regeln und einer Diskussionsleitung. Die Sache, um die es geht, gerät dann in den Hintergrund.
Die digitale Kommunikation hat viele Vorteile mit sich gebracht. Um Probleme und Konflikte zu lösen, erscheint sie ungeeignet. Da kann nur die gute alte analoge Kommunikation weiterhelfen.