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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Dietmar geht

Er war lang und jung, also muss­te er das lMG tra­gen. »lMG« stand für »leich­tes Maschi­nen­ge­wehr«. Es wog fast dop­pelt so viel wie die Kalasch­ni­kow, die wir alle zu schul­tern hat­ten. Wir bil­de­ten den Kampf­grup­pen­zug des Ver­la­ges Jun­ge Welt, zwan­zig bis drei­ßig Leu­te – Redak­teu­re, tech­ni­sche und Mit­ar­bei­ter aus der Ver­wal­tung. Män­ner, deren Wehr­dienst bereits gerau­me Zeit hin­ter ihnen lag. Unser Zug gehör­te zu einer grö­ße­ren Ein­heit, die mehr­heit­lich von Mit­ar­bei­tern der Aka­de­mie der Päd­ago­gi­schen Wis­sen­schaf­ten gebil­det wur­de. Die­se befand sich schräg gegen­über vom Bran­den­bur­ger Tor und unse­re Waf­fen­kam­mer im Wort­sin­ne unter ihrem Dach.

An meh­re­ren Wochen­en­den im Jahr tram­pel­ten wir die Stie­gen über etli­che Eta­gen hin­auf und hüll­ten uns in Kampf­mon­tur mit Stahl­helm, Spa­ten und Feld­fla­sche, ABC-Schutz­mas­ken­ta­sche und den gan­zen Klim­bim, mit dem wir »ins Gelän­de« gefah­ren wur­den. Zwei Tage mar­schier­ten wir über mär­ki­schen Sand, gru­ben uns Löcher und lagen in der Erwar­tung eines ima­gi­nä­ren Fein­des auf der Lau­er. Manch­mal schos­sen wir auch und wickel­ten uns auf Befehl in eine Gum­mi­pla­ne, nach­dem wir über unse­re damals zumeist behaar­ten Köp­fe mit gro­ßer Mühe die Gum­mi-Gas­mas­ke gezo­gen hatten.

Es waren Tage – und das liegt nicht an den seit­her ver­flos­se­nen Jahr­zehn­ten, die gemein­hin für eine gewis­se Ver­klä­rung der Ver­gan­gen­heit ver­ant­wort­lich sind –, die Wochen­end­aben­teu­er-Cha­rak­ter besa­ßen. (Heu­te heißt das Out­door Sur­vi­val und kostet auch noch Geld.) Die Begei­ste­rung jener, die eine Dat­sche besa­ßen, hielt sich in Gren­zen, und auch die ande­ren unter­war­fen sich nur wider­wil­lig der Par­tei­dis­zi­plin, denn eben sie hat­te uns zu ja die­sem Dienst ver­pflich­tet. Wir taten es ein­zig aus poli­ti­scher Über­zeu­gung, uns war jede Art Kriegs­spie­le­rei zuwi­der. Aller­dings schwang immer die trö­sten­de Vor­stel­lung mit: Es wird nie ernst wer­den, denn der Klas­sen­auf­trag lau­te­te, den Frie­den durch phy­si­sche Exi­stenz zu schüt­zen und nicht in einen Krieg zu ziehen.

Also wir übten die­ses und jenes und waren von der Sinn­haf­tig­keit der mei­sten Übun­gen nicht son­der­lich über­zeugt, wes­halb uns auch ein wenig die Lei­den­schaft fehl­te. In die­sem Fal­le begren­ze ich die rela­ti­ve Lust­lo­sig­keit auf uns Jour­na­li­sten, denn die Genos­sen Kämp­fer aus der Aka­de­mie nah­men alles sehr, sehr ernst und schon­ten sich nicht. Unser Vor­bild war mehr der Genos­se Schwe­jk, denn der Genos­se Shu­kow. So ent­sin­ne ich mich, dass wir ein­mal auf­ge­for­dert wor­den waren, unse­re Uni­for­men zu stem­peln. Zuvor hat­te es eine Par­tei­ver­samm­lung vul­go ideo­lo­gi­sche Aus­ein­an­der­set­zung gege­ben, in der die Genos­sen Kämp­fer aus der Aka­de­mie beklag­ten, dass die Genos­sen Jour­na­li­sten die Befeh­le meist sehr lax aus­führ­ten und das oben­drein nach frei­er Aus­le­gung. Befehl sei aber Befehl, da wäre kein Raum für indi­vi­du­el­le Interpretation.

Wir nick­ten um des lie­ben Frie­dens wil­len ver­ständ­nis­voll. Und irgend­wann beka­men wir also jenen Befehl, unse­re Uni­form zu mar­kie­ren, wozu uns ein Gum­mi­stem­pel nebst Stem­pel­kis­sen aus­ge­hän­digt wur­de. Der Befehl lau­te­te nicht: ein Abdruck in der Innen­sei­te der Jacke, ein zwei­ter in die Hose, son­dern kurz: Uni­form stem­peln! Den setz­ten wir – ein­ge­denk der Par­tei­ver­samm­lung – prä­zi­se um. Ich weiß nicht mehr, wie vie­le Abdrucke wir auf dem Kampf­an­zug außen wie innen unter­ge­bracht haben, mit dem der Eigen­tü­mer unse­rer Gewan­dung mit Namen und Adres­se aus­ge­wie­sen wurde …

Jah­re spä­ter – Diet­mar kann­te inzwi­schen eben­falls die Wir­kung von Iro­nie und Sar­kas­mus und setz­te die­se Stil­mit­tel rhe­to­risch auch im Bun­des­tag ein – sag­te er mir, ich habe ihm damals mit sol­chen Reak­tio­nen den Glau­ben an den Sozia­lis­mus genom­men. An eine bestimm­te Art des Sozia­lis­mus ganz gewiss, da wider­sprach ich nicht …

Der meist schwei­gen­de »Fisch­kopp« – so nann­te er sich selbst, er kam von der Küste – ver­ließ unse­ren Zug Mit­te der Acht­zi­ger Rich­tung Mos­kau, um dort zu stu­die­ren. Bei sei­ner Rück­kehr soll­te er ent­we­der Sekre­tär des FDJ-Zen­tral­rats oder Lei­ter des Ver­la­ges Jun­ge Welt wer­den. Als Diet­mar nach vier Jah­ren als Dr. rer. oec. wie­der­kehr­te, gab es de jure den Zen­tral­rat noch, de fac­to war er aber ohne Per­spek­ti­ve. So wur­de Diet­mar Chef des FDJ-Ver­la­ges, in dem etwa andert­halb Dut­zend Peri­odi­ka erschie­nen, dar­un­ter die Tages­zei­tung Jun­ge Welt, deren gewähl­ter Redak­ti­ons­lei­tung ich seit der Demis­si­on der alten Füh­rung ange­hör­te. Im Herbst 1989 hat­ten wir eine Auf­la­ge von über 1,6 Mil­lio­nen, inzwi­schen waren es 600.000 weni­ger und die Zahl der Abon­nen­ten sank ste­tig wei­ter. Ich erin­ne­re mich der wie­der­hol­ten Dis­kus­sio­nen mit dem Ver­lags­lei­ter, die immer sach­lich und freund­schaft­lich waren. Diet­mar woll­te den Preis anhe­ben – das Monats­abo koste­te 2,70 Mark, die Zei­tung am Kiosk einen Gro­schen –, was wir rigo­ros ablehn­ten. Okay, sag­te er, ihr seid für den Inhalt ver­ant­wort­lich, ich bin nur für die Öko­no­mie zustän­dig. Wenn ihr also meint, so über die Run­den zu kom­men – dann macht’s. Wir erfuh­ren schon bald auf schmerz­li­che Wei­se, dass der Lan­ge, inzwi­schen trug er Schnauz­bart und rauch­te hef­tig, die Lage völ­lig rich­tig beur­teilt hat­te. Da war er aber schon nicht mehr Ver­lags­lei­ter, son­dern bereits Bun­des­schatz­mei­ster bei der PDS.

Wir ver­lo­ren uns nicht aus den Augen. Nicht in der schwe­ren Zeit des Finanz­skan­dals noch Ende des Jah­res 1994, als die Par­tei­füh­rung hun­ger­streik­te. Unmit­tel­bar nach dem Wie­der­ein­zug der PDS in den Bun­des­tag hat­ten die zustän­di­gen staat­li­chen Gre­mi­en es abge­lehnt, eine ver­meint­li­che Steu­er­schuld der PDS aus dem Jahr 1990 in Höhe von 67,5 Mil­lio­nen DM aus dem SED-Alt­ver­mö­gen zu voll­strecken, auf dem sie bereits saßen. Das Ber­li­ner Finanz­amt kün­dig­te an, sei­ne For­de­run­gen aus dem aktu­el­len Ver­mö­gen der PDS am 1. Dezem­ber 1994 voll­strecken zu wol­len. Damit wäre die Par­tei tot – was ja auch die Absicht war. Ste­fan Heym nann­te dar­um die­se hin­ter­fot­zi­ge Vol­te »eine ver­deck­te Vari­an­te des Sozia­li­sten­ge­set­zes Bismarck’scher Prä­gung«. Über­all in den ost­deut­schen Län­dern gab es Mas­sen­pro­te­ste. Am 1. Dezem­ber gin­gen in Ber­lin 20.000 unter der Losung auf die Stra­ße: »Wir las­sen uns nicht raus-steu­ern!«, am 3. Dezem­ber noch ein­mal 30.000.

Die drei­ßig Strei­ken­den – von Gre­gor Gysi über Lothar Bis­ky und Micha­el Schu­mann bis hin zu Diet­mar Bartsch – hun­ger­ten in der ersten Eta­ge der Ber­li­ner Volks­büh­ne auf Feld­bet­ten. Nach eini­gen Tagen roch es dort schon ein wenig streng, Was­ser gab es nur in Fla­schen und aus­schließ­lich zum Trin­ken. Der geschwäch­te Bun­des­schatz­mei­ster, mit Mit­te Drei­ßig der Jüng­ste in die­ser Ossi-Run­de, war den­noch sehr aktiv. Gab fort­ge­setzt fun­dier­te Erklä­run­gen ab, rede­te auf dem Alex am 3. Dezem­ber im Jog­ging-Anzug (»Für mehr Demo­kra­tie, gegen Will­kür!«) und nann­te die Steu­er­for­de­rung von über 67 Mil­lio­nen »das Absur­de­ste, was die Steu­er­ge­schich­te jemals her­vor­ge­bracht hat«. Pro­te­ste, Streik und juri­sti­sche Aus­ein­an­der­set­zung führ­ten aber zum Erfolg. Das Ber­li­ner Ver­wal­tungs­ge­richt ent­schied am 7. Dezem­ber 1994, dass die Treu­hand und die Unab­hän­gi­ge Kom­mis­si­on die gefor­der­ten Steu­ern aus dem von ihnen blockier­ten SED-Alt­ver­mö­gen frei­ge­ben und die bereits vom Fis­kus gepfän­de­te Wahl­kampf­ko­sten­rück­erstat­tung an die PDS zurück­ge­ge­ben muss­ten. Nach sie­ben Tagen wur­de der Hun­ger­streik been­det, Bartsch und Genos­sen konn­ten end­lich duschen. Von da an ging es mit der Anti­kriegs- und Frie­dens­par­tei, die die Inter­es­sen der Ost­deut­schen als Küm­me­rer­par­tei ver­trat, wei­ter auf­wärts. 1998 über­wand die PDS die Fünf-Prozent-Hürde.

Diet­mar, inzwi­schen Bun­des­ge­schäfts­füh­rer, wur­de einer der vier Spit­zen­kan­di­da­ten, mit der die PDS zur Bun­des­tags­wahl 2002 antrat. Die Wahl ging in die Hose, nur zwei Direkt­kan­di­da­tin­nen – Gesi­ne Lötzsch und Petra Pau – kamen durch und damit rein in den Bun­des­tag. Die Ursa­che war wohl ein gewis­ser Rea­li­täts­ver­lust, ein Anflug von Grö­ßen­wahn. Ich erin­ne­re mich der Dis­kus­sio­nen wäh­rend des Wahl­kamp­fes an jedem Frei­tag in der Agen­tur, wenn wir die Vor­schlä­ge für Pla­ka­te, Anzei­gen, Flug­blät­ter etc. prä­sen­tier­ten. Die Nei­gung des Wahl­kampf­lei­ters und sei­nes Umfel­des war nicht zu über­se­hen, den oppo­si­tio­nel­len Gestus aus den Ver­laut­ba­run­gen zu til­gen, min­de­stens aber abzu­schwä­chen. »Du bist nicht Bun­des­kanz­ler und musst nicht dei­nen Job ver­tei­di­gen, Diet­mar«, sag­te ich ver­är­gert und ver­ließ 2002 nach zehn Jah­ren Mit­ar­beit das Wahlbüro.

Diet­mar Bartsch erwies sich jedoch als lern­fä­hig, und je schwie­ri­ger die Ver­hält­nis­se in der Par­tei und in der Bun­des­tags­frak­ti­on wur­den – die er seit 2015 im Duo lei­te­te, erst mit Sahra Wagen­knecht, dann mit Ami­ra Muha­med Ali –, desto mehr gewann er an Pro­fil. Ich bewun­der­te zuneh­mend, wie er in die­ser Schlan­gen­gru­be sich nicht nur behaup­te­te, son­dern auch kon­struk­tiv ver­such­te, die aus­ein­an­der­drif­ten­den Kräf­te trotz­dem zu bün­deln und zu kon­struk­ti­ver Zusam­men­ar­beit zu bewegen.

Wir tra­fen uns auch am 95. Geburts­tag von Hans Mod­row zu Beginn die­ses Jah­res. Dass Diet­mar dort der ein­zi­ge Ver­tre­ter der Füh­rung war, über­rasch­te nicht. Erstens besaß er Cha­rak­ter und Stil, die den ande­ren Häupt­lin­gen ganz offen­kun­dig abgin­gen (Gysi aus­ge­nom­men, der kam spä­ter.) Zwei­tens hat­te er immer – egal, in wel­cher Funk­ti­on – die Ver­bin­dung zu Mod­row gehal­ten. Der hat­te letzt­lich 1989 auf dem Son­der­par­tei­tag mit dafür gesorgt, dass die Par­tei nicht aus­ein­an­der­ge­lau­fen war. Letzt­lich ver­dank­ten ihm damit die gegen­wär­ti­gen Abge­ord­ne­ten ihre – oft sehr gut dotier­ten – Mandate.

Selbst die­se ein­fa­che Logik schien inzwi­schen den mei­sten abzu­ge­hen, ganz zu schwei­gen vom Geschichts­be­wusst­sein. Sie dank­ten statt­des­sen dem lang­jäh­ri­gen Vor­sit­zen­den des Älte­sten­ra­tes der Par­tei mit Igno­ranz und übler Nach­re­de. Das reich­te sogar über des­sen Tod hin­aus. Als Freun­de, Ver­wand­te und diver­se Par­tei­gre­mi­en zur Vor­be­rei­tung der Trau­er­fei­er zusam­men­ka­men und publik wur­de, dass bereits Alt­bun­des­kanz­ler Schrö­der und des­sen Frau sowie der letz­te SED-Gene­ral­se­kre­tär und Staats­rats­vor­sit­zen­de Krenz ihr Kom­men ange­kün­digt hat­ten, zogen sich die Par­tei­funk­tio­nä­re nase­rümp­fend aus dem Arbeits­kreis zurück.

Diet­mar sprach als ein­zi­ger von ihnen auf der Abschieds­fei­er am 15. März und hielt eine sehr gute, gera­de­zu staats­män­ni­sche Rede. Sie war des Ver­stor­be­nen wür­dig, den einer als den mög­li­cher­wei­se am mei­sten unter­schätz­ten Poli­ti­ker der jün­ge­ren deut­schen Geschich­te bezeich­ne­te. Diet­mar Bartsch gehör­te augen­schein­lich zu den weni­gen Kol­le­gen Mod­rows, denen dies immer bewusst war und ist. (Oder um mit Fon­ta­ne zu spre­chen: »Man sieht nur, was man weiß.«)

Bartsch zieht sich nun nach mehr als drei­ßig Jah­ren im poli­ti­schen Geschirr aus der ersten Rei­he zurück. Damit zollt er nicht nur sei­nem Alter Tri­but. Irgend­wann muss mal Schluss sein, haben ande­re das lMG im Klas­sen­kampf zu tra­gen. Wenn­gleich, und das betrübt nicht nur mich allein: Es ist nie­mand da mit sei­nem For­mat und sei­ner Qua­li­fi­ka­ti­on. Vie­le der poten­ti­el­len Nach­fol­ger stel­len die System­fra­ge nicht, sie bezwei­feln sogar die Exi­stenz von Klas­sen­kampf. Woher sol­len sie es auch wis­sen? Ihr Bewusst­sein stammt nach mei­nem Ein­druck nicht aus eige­nen Erfah­run­gen, auch nicht aus Büchern, son­dern aus dem Aus­schnitt­dienst des Bun­des­ta­ges und den digi­ta­len Kom­mu­ni­ka­ti­ons­ka­nä­len. Kei­ne guten Aussichten.