Er war lang und jung, also musste er das lMG tragen. »lMG« stand für »leichtes Maschinengewehr«. Es wog fast doppelt so viel wie die Kalaschnikow, die wir alle zu schultern hatten. Wir bildeten den Kampfgruppenzug des Verlages Junge Welt, zwanzig bis dreißig Leute – Redakteure, technische und Mitarbeiter aus der Verwaltung. Männer, deren Wehrdienst bereits geraume Zeit hinter ihnen lag. Unser Zug gehörte zu einer größeren Einheit, die mehrheitlich von Mitarbeitern der Akademie der Pädagogischen Wissenschaften gebildet wurde. Diese befand sich schräg gegenüber vom Brandenburger Tor und unsere Waffenkammer im Wortsinne unter ihrem Dach.
An mehreren Wochenenden im Jahr trampelten wir die Stiegen über etliche Etagen hinauf und hüllten uns in Kampfmontur mit Stahlhelm, Spaten und Feldflasche, ABC-Schutzmaskentasche und den ganzen Klimbim, mit dem wir »ins Gelände« gefahren wurden. Zwei Tage marschierten wir über märkischen Sand, gruben uns Löcher und lagen in der Erwartung eines imaginären Feindes auf der Lauer. Manchmal schossen wir auch und wickelten uns auf Befehl in eine Gummiplane, nachdem wir über unsere damals zumeist behaarten Köpfe mit großer Mühe die Gummi-Gasmaske gezogen hatten.
Es waren Tage – und das liegt nicht an den seither verflossenen Jahrzehnten, die gemeinhin für eine gewisse Verklärung der Vergangenheit verantwortlich sind –, die Wochenendabenteuer-Charakter besaßen. (Heute heißt das Outdoor Survival und kostet auch noch Geld.) Die Begeisterung jener, die eine Datsche besaßen, hielt sich in Grenzen, und auch die anderen unterwarfen sich nur widerwillig der Parteidisziplin, denn eben sie hatte uns zu ja diesem Dienst verpflichtet. Wir taten es einzig aus politischer Überzeugung, uns war jede Art Kriegsspielerei zuwider. Allerdings schwang immer die tröstende Vorstellung mit: Es wird nie ernst werden, denn der Klassenauftrag lautete, den Frieden durch physische Existenz zu schützen und nicht in einen Krieg zu ziehen.
Also wir übten dieses und jenes und waren von der Sinnhaftigkeit der meisten Übungen nicht sonderlich überzeugt, weshalb uns auch ein wenig die Leidenschaft fehlte. In diesem Falle begrenze ich die relative Lustlosigkeit auf uns Journalisten, denn die Genossen Kämpfer aus der Akademie nahmen alles sehr, sehr ernst und schonten sich nicht. Unser Vorbild war mehr der Genosse Schwejk, denn der Genosse Shukow. So entsinne ich mich, dass wir einmal aufgefordert worden waren, unsere Uniformen zu stempeln. Zuvor hatte es eine Parteiversammlung vulgo ideologische Auseinandersetzung gegeben, in der die Genossen Kämpfer aus der Akademie beklagten, dass die Genossen Journalisten die Befehle meist sehr lax ausführten und das obendrein nach freier Auslegung. Befehl sei aber Befehl, da wäre kein Raum für individuelle Interpretation.
Wir nickten um des lieben Friedens willen verständnisvoll. Und irgendwann bekamen wir also jenen Befehl, unsere Uniform zu markieren, wozu uns ein Gummistempel nebst Stempelkissen ausgehändigt wurde. Der Befehl lautete nicht: ein Abdruck in der Innenseite der Jacke, ein zweiter in die Hose, sondern kurz: Uniform stempeln! Den setzten wir – eingedenk der Parteiversammlung – präzise um. Ich weiß nicht mehr, wie viele Abdrucke wir auf dem Kampfanzug außen wie innen untergebracht haben, mit dem der Eigentümer unserer Gewandung mit Namen und Adresse ausgewiesen wurde …
Jahre später – Dietmar kannte inzwischen ebenfalls die Wirkung von Ironie und Sarkasmus und setzte diese Stilmittel rhetorisch auch im Bundestag ein – sagte er mir, ich habe ihm damals mit solchen Reaktionen den Glauben an den Sozialismus genommen. An eine bestimmte Art des Sozialismus ganz gewiss, da widersprach ich nicht …
Der meist schweigende »Fischkopp« – so nannte er sich selbst, er kam von der Küste – verließ unseren Zug Mitte der Achtziger Richtung Moskau, um dort zu studieren. Bei seiner Rückkehr sollte er entweder Sekretär des FDJ-Zentralrats oder Leiter des Verlages Junge Welt werden. Als Dietmar nach vier Jahren als Dr. rer. oec. wiederkehrte, gab es de jure den Zentralrat noch, de facto war er aber ohne Perspektive. So wurde Dietmar Chef des FDJ-Verlages, in dem etwa anderthalb Dutzend Periodika erschienen, darunter die Tageszeitung Junge Welt, deren gewählter Redaktionsleitung ich seit der Demission der alten Führung angehörte. Im Herbst 1989 hatten wir eine Auflage von über 1,6 Millionen, inzwischen waren es 600.000 weniger und die Zahl der Abonnenten sank stetig weiter. Ich erinnere mich der wiederholten Diskussionen mit dem Verlagsleiter, die immer sachlich und freundschaftlich waren. Dietmar wollte den Preis anheben – das Monatsabo kostete 2,70 Mark, die Zeitung am Kiosk einen Groschen –, was wir rigoros ablehnten. Okay, sagte er, ihr seid für den Inhalt verantwortlich, ich bin nur für die Ökonomie zuständig. Wenn ihr also meint, so über die Runden zu kommen – dann macht’s. Wir erfuhren schon bald auf schmerzliche Weise, dass der Lange, inzwischen trug er Schnauzbart und rauchte heftig, die Lage völlig richtig beurteilt hatte. Da war er aber schon nicht mehr Verlagsleiter, sondern bereits Bundesschatzmeister bei der PDS.
Wir verloren uns nicht aus den Augen. Nicht in der schweren Zeit des Finanzskandals noch Ende des Jahres 1994, als die Parteiführung hungerstreikte. Unmittelbar nach dem Wiedereinzug der PDS in den Bundestag hatten die zuständigen staatlichen Gremien es abgelehnt, eine vermeintliche Steuerschuld der PDS aus dem Jahr 1990 in Höhe von 67,5 Millionen DM aus dem SED-Altvermögen zu vollstrecken, auf dem sie bereits saßen. Das Berliner Finanzamt kündigte an, seine Forderungen aus dem aktuellen Vermögen der PDS am 1. Dezember 1994 vollstrecken zu wollen. Damit wäre die Partei tot – was ja auch die Absicht war. Stefan Heym nannte darum diese hinterfotzige Volte »eine verdeckte Variante des Sozialistengesetzes Bismarck’scher Prägung«. Überall in den ostdeutschen Ländern gab es Massenproteste. Am 1. Dezember gingen in Berlin 20.000 unter der Losung auf die Straße: »Wir lassen uns nicht raus-steuern!«, am 3. Dezember noch einmal 30.000.
Die dreißig Streikenden – von Gregor Gysi über Lothar Bisky und Michael Schumann bis hin zu Dietmar Bartsch – hungerten in der ersten Etage der Berliner Volksbühne auf Feldbetten. Nach einigen Tagen roch es dort schon ein wenig streng, Wasser gab es nur in Flaschen und ausschließlich zum Trinken. Der geschwächte Bundesschatzmeister, mit Mitte Dreißig der Jüngste in dieser Ossi-Runde, war dennoch sehr aktiv. Gab fortgesetzt fundierte Erklärungen ab, redete auf dem Alex am 3. Dezember im Jogging-Anzug (»Für mehr Demokratie, gegen Willkür!«) und nannte die Steuerforderung von über 67 Millionen »das Absurdeste, was die Steuergeschichte jemals hervorgebracht hat«. Proteste, Streik und juristische Auseinandersetzung führten aber zum Erfolg. Das Berliner Verwaltungsgericht entschied am 7. Dezember 1994, dass die Treuhand und die Unabhängige Kommission die geforderten Steuern aus dem von ihnen blockierten SED-Altvermögen freigeben und die bereits vom Fiskus gepfändete Wahlkampfkostenrückerstattung an die PDS zurückgegeben mussten. Nach sieben Tagen wurde der Hungerstreik beendet, Bartsch und Genossen konnten endlich duschen. Von da an ging es mit der Antikriegs- und Friedenspartei, die die Interessen der Ostdeutschen als Kümmererpartei vertrat, weiter aufwärts. 1998 überwand die PDS die Fünf-Prozent-Hürde.
Dietmar, inzwischen Bundesgeschäftsführer, wurde einer der vier Spitzenkandidaten, mit der die PDS zur Bundestagswahl 2002 antrat. Die Wahl ging in die Hose, nur zwei Direktkandidatinnen – Gesine Lötzsch und Petra Pau – kamen durch und damit rein in den Bundestag. Die Ursache war wohl ein gewisser Realitätsverlust, ein Anflug von Größenwahn. Ich erinnere mich der Diskussionen während des Wahlkampfes an jedem Freitag in der Agentur, wenn wir die Vorschläge für Plakate, Anzeigen, Flugblätter etc. präsentierten. Die Neigung des Wahlkampfleiters und seines Umfeldes war nicht zu übersehen, den oppositionellen Gestus aus den Verlautbarungen zu tilgen, mindestens aber abzuschwächen. »Du bist nicht Bundeskanzler und musst nicht deinen Job verteidigen, Dietmar«, sagte ich verärgert und verließ 2002 nach zehn Jahren Mitarbeit das Wahlbüro.
Dietmar Bartsch erwies sich jedoch als lernfähig, und je schwieriger die Verhältnisse in der Partei und in der Bundestagsfraktion wurden – die er seit 2015 im Duo leitete, erst mit Sahra Wagenknecht, dann mit Amira Muhamed Ali –, desto mehr gewann er an Profil. Ich bewunderte zunehmend, wie er in dieser Schlangengrube sich nicht nur behauptete, sondern auch konstruktiv versuchte, die auseinanderdriftenden Kräfte trotzdem zu bündeln und zu konstruktiver Zusammenarbeit zu bewegen.
Wir trafen uns auch am 95. Geburtstag von Hans Modrow zu Beginn dieses Jahres. Dass Dietmar dort der einzige Vertreter der Führung war, überraschte nicht. Erstens besaß er Charakter und Stil, die den anderen Häuptlingen ganz offenkundig abgingen (Gysi ausgenommen, der kam später.) Zweitens hatte er immer – egal, in welcher Funktion – die Verbindung zu Modrow gehalten. Der hatte letztlich 1989 auf dem Sonderparteitag mit dafür gesorgt, dass die Partei nicht auseinandergelaufen war. Letztlich verdankten ihm damit die gegenwärtigen Abgeordneten ihre – oft sehr gut dotierten – Mandate.
Selbst diese einfache Logik schien inzwischen den meisten abzugehen, ganz zu schweigen vom Geschichtsbewusstsein. Sie dankten stattdessen dem langjährigen Vorsitzenden des Ältestenrates der Partei mit Ignoranz und übler Nachrede. Das reichte sogar über dessen Tod hinaus. Als Freunde, Verwandte und diverse Parteigremien zur Vorbereitung der Trauerfeier zusammenkamen und publik wurde, dass bereits Altbundeskanzler Schröder und dessen Frau sowie der letzte SED-Generalsekretär und Staatsratsvorsitzende Krenz ihr Kommen angekündigt hatten, zogen sich die Parteifunktionäre naserümpfend aus dem Arbeitskreis zurück.
Dietmar sprach als einziger von ihnen auf der Abschiedsfeier am 15. März und hielt eine sehr gute, geradezu staatsmännische Rede. Sie war des Verstorbenen würdig, den einer als den möglicherweise am meisten unterschätzten Politiker der jüngeren deutschen Geschichte bezeichnete. Dietmar Bartsch gehörte augenscheinlich zu den wenigen Kollegen Modrows, denen dies immer bewusst war und ist. (Oder um mit Fontane zu sprechen: »Man sieht nur, was man weiß.«)
Bartsch zieht sich nun nach mehr als dreißig Jahren im politischen Geschirr aus der ersten Reihe zurück. Damit zollt er nicht nur seinem Alter Tribut. Irgendwann muss mal Schluss sein, haben andere das lMG im Klassenkampf zu tragen. Wenngleich, und das betrübt nicht nur mich allein: Es ist niemand da mit seinem Format und seiner Qualifikation. Viele der potentiellen Nachfolger stellen die Systemfrage nicht, sie bezweifeln sogar die Existenz von Klassenkampf. Woher sollen sie es auch wissen? Ihr Bewusstsein stammt nach meinem Eindruck nicht aus eigenen Erfahrungen, auch nicht aus Büchern, sondern aus dem Ausschnittdienst des Bundestages und den digitalen Kommunikationskanälen. Keine guten Aussichten.