Der Nationalismus habe »ausgedient«, übertitelt David Legrand in 8/23 zu Recht seinen Beitrag und benennt den Nationalismus – etwas unbestimmt – als »Katalysator für grausame Verbrechen« (S. 271). Als Katalysator bezeichnet man gemeinhin etwas Beschleunigendes. Oder sogar etwas Auslösendes. Aber waren die Beweggründe jener Bank- und Stahlbosse, die Nazis finanzierten und deren renditefixierte Polit-Strategen Armeen gen Frankreich und Russland verbluten ließen, nicht viel kälteres Kalkül als der brodelnde Nationalismus für den braunen »Plebs«? Oder anders gefragt: Kommt der Faschismus in einem imperialistischen Kernland je wieder völkisch an die Macht?
»Volk ohne Raum« war doch bereits vor 90 Jahren eher Opium fürs Volk, während Hitler und seine kosmopolitischen Großfinanziers mit dem »feindlichen Ausland« noch lange Bombengeschäfte betrieben; z. B. mit »General Motors«, »Standard Oil«, auch mit den größten US-Bankhäusern wie »Chase«, »Westminster«, »Barclay«, sowie mit den Industriellen P. Getty und H. Ford (H. J. Abs am 23.1.41 zur Gründung der Continentalen Petroleum-AG: »Für die Betätigung im Ausland legt sich die neue Gesellschaft keinerlei Beschränkung auf«; »… aussichtsreiche Verhandlungen mit Standard Oil über die ungarischen Petroleumfelder (…), auf 30 Mio. $ geschätzt«, zitiert nach R. Opitz, Europastrategien des deutschen Kapitals, Pahl-Rugenstein 1994, S. 801/802).
Eine materialistische Psychologie (die auch große, historische Bewegungen in einzelnen seelischen zu spiegeln weiß), sollte uns helfen, den dialektischen Zusammenhang von »objektivem« Geschehen und subjektiven Kulturpotenzialen zu erkennen: völkische Demagogie für die da unten – Renditekalkül für die Obersten! Ist also der Faschismus »an der Staatsmacht« (Dimitrow) identisch mit seinen subjektiven Beweggründen, einen Hitler, Mussolini oder Pinochet bei deklassierten Mittelschichten und Arbeitslosen hochzuhalten?
Der Journalist Richard Seymour geht in den Marxistischen Blättern (6/20) zunächst dem Nucleus völkischen und nationalistischen Bewusstseins nach: am Beispiel vom »Ausschuss für unamerikanische Betätigung« des (als Antikommunismus immer noch wirkmächtigen) McCarthyismus und fragt dann naiv: »Aber warum sollte das Idiom des Antikommunismus heute so mächtig sein, wo der Kommunismus kaum noch existiert?«
Er führt in einigen Zitaten aus, wie der »Topos eines kulturellen Marxismus« seit 1917, als der Chef-Korrespondent der Times in Russland eine »brodelnde Masse der jüdischen Armen« beklagte und »Winston Churchill, den internationalen Juden die Schuld am Kommunismus« gegeben hatte, weil die »keine Loyalität gegenüber der Nation haben« (S. 4), einen völkischen Nationalismus beförderte. Dann zitiert Seymour Joel Kovel, wonach »im schwarzen Loch Antikommunismus alles, (…) was als bedrohlich empfunden wird, in einem einzigen verräterischen, teuflischen Feind zusammengepresst (…) werden kann. Es sind nur verschiedene Tentakel derselben kommunistischen Krake.«
Beide, Seymour und Legrand, sehen reale Nation und projizierenden Nationalismus in positiver Korrelation und nicht als Gegensatz. Darum empfehlen beide als »Therapie« supranationale Strukturen wie in der EU oder im IWF anstelle der »ausgedienten« Nation: »verstärkt Antworten auf ökonomische, soziale, kulturelle und politische Herausforderung in einer akzeptierten Art und Weise finden und ein Miteinander fördern sowie Identitätsanker« (Ossietzky, S. 273). Vollkommen anders hatte Karl Radek in seiner vielbeachteten »Schlageter-Rede« die nationalen Kräfte und Strukturen aufgerufen, sich mehr um die »nationalistischen Kleinbürgermassen« zu kümmern; im selben Jahr 1924 übrigens, in dem bereits Clara Zetkin – »nach rechts offen«, wohin denn sonst? – ein ähnliches Hinwenden zu diesen Mittelschichten von Seiten nationaler Arbeiterbewegungen gefordert hatte.
Aus alledem sollte zumindest abgeleitet werden, objektive Funktion und subjektive Verfasstheit des Völkischen klarer auseinanderzuhalten. Und keinesfalls nationalistischen Begrifflichkeiten vom monolithischen »Volk« selber auf den Leim zu gehen. Es ist also mehr demagogischer Nebel, den Legrand im Nationalismus zutreffend bezeichnet: »Die eigene Nation wird gegenüber anderen Nationen überhöht.« Denn eine klassenübergreifende Hegemonie gibt es nicht ohne Gewinner und Verlierer. Aber leider grenzt der Autor auch die subjektiven Beweggründe eines »regionalen Nationalismus« nicht von dem der ökonomischen Eliten ab. Und wirft gar noch in einen Topf: den Nationalismus »Kataloniens und Nord-Irlands« (der viel weniger von der antiproletarischen Militanz des Antikommunismus durchprägt ist) mit weltkriegspotentem Nationalismus einer imperialistischen Supermacht wie 1933.
Dem tödlichen Gemisch aus Antikommunismus und Nationalismus nicht nur auf die Spur zu gelangen, sondern es praktisch durch soziale Revolte, Abrüstungskampf, Zuwendung an die bürgerlichen Mittelschichten und kulturelle Aufklärung zu zerlegen und zu überwinden, bedarf es also dreier entscheidender Entzerrungen:
die objektive Funktion im Faschismus an der Macht von dessen subjektiver Verfasstheit zu unterscheiden, aber gleichzeitig die inneren Korrespondenzen zwischen unten und oben bloßzulegen;
den Nationalismus imperialistischer Großmächte vom kleineren, regionalen »Nationalismus« überall auf der Welt zu trennen;
die klassenspezifische Unterscheidung stets von einem nationalistisch pauschalierenden National-Begriff zu lösen, weil in jeder einen Nation durch das Proletariat (nebst Mehrheit der Mittelschichten) und deren Klassenwidersprüchen zu großen Kapitalbesitzern zumindest zwei Nationen (frei nach Lenin) gegeneinander ringen.
Wo aber eine ganze Nation gedemütigt oder in toto auf die Anklage-Bank einer Kollektivschuld gesetzt wird, ohne sie in Klassen zu scheiden, kann das mörderische Gebräu nur verschärft werden, welches psychologisch aus den nach heimatlichen Strohhalmen grabschenden Abstiegsbedrohten und aus militanten Reflexen gegen proletarische »Schamlosigkeiten« zusammengerührt ist. Gerade in diesem umfassenden Sinne war für Thomas Mann »der Antikommunismus die Grundtorheit der Epoche«. Die eigentliche Wirkmacht des Antikommunismus zieht dieser nicht bloß aus Aversionen gegen organisierte Kommunisten, sondern auch als »Schutzmiliz« für Staatsordnung und Sexualmoral, also ebenso zum Erhalt sozialer Verschämtheit wie erotischer Schamhaftigkeit »unten« – und damit gegen »Unverschämtheiten« des Proletariats, Schamlosigkeit von Frauen und punktuell gegen provozierende Randgruppen. Wenn sich dann etwas »von unten« erhebt, kriegt nicht nur die gesamte Tektonik darüber »einen Schlag mit«, sondern wird gleichzeitig auch alles Reaktionäre psychisch angetriggert und zur antidemokratischen Brandgefahr (weshalb die DDR, um dies abzufedern, besonders nationale Traditionen herausgestellt hatte).
Grünliche Antideutsche hingegen haben aus diesem »Antriggern« eine Art »Jagdsport vom Hochsitz aus« gemacht. Umso deutlicher müssen wir uns davon absetzen – weil ja alle bisherigen Regierungen mit Grünen an Bord von großen Bevölkerungsgruppen als »links« angesehen werden. Dem antideutschen Befeuern reaktionärer Kräfte setzen wir den Ausbau von Sozialstaat im Nationalstaat entgegen. So sollten wir – theoretisch wie praktisch – alle wiederaufkeimenden, rechtsextremen Reflexe kulturell entzerren helfen. Grünlicher Giftmüll stinkt fürs Alltagsbewusstsein nämlich oft auch von unseren Schuhsohlen. Und bei antideutschen Zitaten im Netz ist es unerheblich, ob sie vom grünen Ex-Minister Trittin stammen, wörtlich vom Ex-Außenminister oder »nur« aus einer Zusammenfassung von Büchern und Gesprächen mit Fischer:
»Deutschland verschwindet jeden Tag immer mehr – und das finde ich einfach großartig.«
»Deutschland muss von außen eingehegt und von innen durch Zustrom heterogenisiert, quasi verdünnt werden« (so von Fischer zitiert bei Miriam Lau in der WELT, 7.2.2005).
»Deutschland ist ein Problem, weil die Deutschen fleißiger, disziplinierter und begabter als der Rest Europas (und der Welt) sind. Das wird immer wieder zu Ungleichgewichten führen. Dem kann aber gegengesteuert werden, indem so viel Geld wie nur möglich aus Deutschland herausgeleitet wird. Es ist vollkommen egal wofür, es kann auch radikal verschwendet werden – Hauptsache, die Deutschen haben es nicht. Schon ist die Welt gerettet!«
»Deutsche Helden müsste die Welt, tollwütigen Hunden gleich, einfach totschlagen.«.
Vor letzterem Fischer-Zitat haben wir als radikale Demokraten vor allem solche Helden in Schutz zu nehmen, die der widerständigen deutschen Geschichte entstammen, vom Cherusker Hermann bis Robert Blum, von Rosa Luxemburg bis Sophie Scholl.
Zuletzt noch einmal zu Legrands Überschrift im Heft 8/23: Ja, der Nationalismus »hat ausgedient« – in imperialistischen Kernstaaten allmählich sogar als demagogischer Gift-Leim für die Unteren. Das imperialistischste, transnational agierende Monopolkapital hingegen war seinem eigenen Schleim noch nie selbst auf den Leim gegangen. Denn es hat bis heute seine innere, von Marx aufgedeckte Tendenz gegen Nationalstaaten, »den Weltmarkt zu schaffen«, nur radikalisiert: »Jede Grenze erscheint als zu überwindende Schranke« (MEW 42; S. 321).
Diether Dehm, langjähriger MdB für SPD und LINKE, veröffentlichte kürzlich zur o. a. Problematik das Buch »Pornographie und Klassenkampf – Für eine materialistische Psychologie« (Promedia) und die CD »Dass ein gutes Deutschland blühe! Arbeiterlieder von damals und jetzt«.