Der Kreis derer, die Schillers Bücher und Aufsätze mit Gewinn lesen, dürfte weit über die professionell Interessierten hinausreichen, weil er nicht nur ein äußerst engagierter und produktiver Forscher, sondern auch ein Liebhaber des Lesens geblieben ist, der sich als vielseitig interessierter Zeitgenosse der Vermittlung von neuer wie älterer Literatur für breitere Leserkreise widmet.
Es war 1962/63 in einem seiner Seminare, in denen er uns als Assistent am Germanistischen Institut der Humboldt-Universität mit der vorklassischen Periode der deutschen Literatur bekannt machte. Es ging um Antikerezeption, und ich staunte, welche Aufschlüsse man aus Goethes Satire »Götter Helden und Wieland« über ganz aktuelle Streitpunkte gewinnen konnte. Man lernte zu denken in Schillers Lehrveranstaltungen.
Neben der deutschen klassischen Literatur erschloss er sich das weite Feld der Literaturentwicklung im 20. Jahrhunderts, während er u.a. als Forschungsgruppenleiter am Zentralinstitut für Literaturgeschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR tätig war. Er gehörte zum Herausgeberkreis für das »Lexikon sozialistischer Literatur« (1963/94), war Mitherausgeber der Bände 6-10 der »Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart«. Als Autor schrieb er am Band 10 (1917-1945) mit, sein spezielles Interesse richtete sich auf die Literatur des antifaschistischen Exils. Weiterführende Ergebnisse für die Exilforschung legte er mit dem Buch »…von Grund auf anders« (1974) vor, in dem er die Debatten analysierte, die unter den emigrierten Schriftstellern um die Herausbildung eines antifaschistischen Literaturprogramms geführt wurden. Seine Darstellungen waren darauf gerichtet, das gegenwärtige Verständnis für den Zusammenhang von Literatur und Politik in den geschichtlichen Kämpfen zu wecken und die zeitgenössische Aneignung zu beeinflussen. Das Besondere seiner literaturgeschichtlichen Arbeiten besteht darin, dass sie die Beziehungen zwischen Autor, Werk und Leser ins Zentrum stellen und die Gesamtheit der Faktoren einbeziehen, die die literarische Produktion mitbedingen, wie z. B. Verlags-, und Buchwesen. »Im Widerstreit geschrieben« (2008), »Einzelheiten und Beispiele« (2012) befragen Schriftsteller und ihre Werke aufs Neue, der erweiterte Zugang zu Archivalien veränderte überkommene Sichten. Obwohl im Zentrum seiner Exilforschungen zunächst die sozialistischen Autoren standen, überblickt er nun weite literarische Felder. Aus seiner Feder gibt es Essays über H. Mann, K. Mann, Graf, Bloch, Benjamin, Tucholsky, er schrieb über Lukács, den Lehrer aus frühen DDR-Jahren, verfasste Beiträge über Luxemburg, Mühsam, dessen ausgewählte Werke er ist bereits 1961 herausgegeben hat.
In »Willi Münzenberg und sein Umgang mit deutschen Intellektuellen« (2021) richtet sich sein Interesse vorzüglich auf den Organisator eines großen Verlags- und Pressekonzerns als Voraussetzung für die Entstehung sozialistischer Literatur. Hier zeichnet Schiller den weiteren Weg Münzenbergs als politischen Aktivisten nach, der in den Jahren 1933-38 zunehmend kritisch auf die KPD und ihre Vorstellung von Volksfront reagiert und sich unter dem Eindruck der Moskauer Prozesse und des Hitler-Stalin-Paktes aus der Kommunistischen Bewegung zurückzieht. Die Bestrebungen Münzenbergs als profilprägender Autor zielten auf eine sozialistische Einheitspartei, deren theoretische Grundlagen jedoch unerörtert blieben.
Lesenswerte »Literarische Erbschaften« (2018) bezeugen, dass sich der Horizont von Schillers literaturhistorischen Fragestellungen immer auch auf aktuelle Fragen bezieht. Hier bietet er eine Fülle von Beispielen über die Aneignung klassischen Erbes auf dem Theater, im Film und im allgemeinen Verständnis der Gesellschaft. Er rekonstruiert Beispiele vom Umgang mit dem Erbe des antifaschistischen Exils und versteht es, kenntnisreich mit Texten aus der Vergangenheit so umzugehen, dass deren Bedeutung für gegenwärtiges Geschichtsverständnis deutlich wird.
»Rückblick auf ein verlorenes Land« (2019, zusammen mit Leonore Krenzlin verfasst, bezeugt stete Beschäftigung mit der Literatur des verschwundenen Landes. Hier resümieren beide die Spezifik der DDR-Literatur als abgeschlossenes Kapitel, sehen sie als Organ öffentlicher Kommunikation über gesellschaftlich relevante Fragen. Dem Leser wird ein Überblick über historische, sich verändernde Entwicklungsstufen von Autoren und ihren Schreibweisen gegeben, beginnend mit den heimgekehrten Emigranten Becher, Seghers und A. Zweig, anschließend charakterisieren sie unterschiedliche Funktions- und Wirkungsweisen des Literaturverständnisses von Hacks, Braun, Müller, H. Kant, Morgner, Wolf, Köhler, Fühmann, Reimann u. a. Die dem Leser zugewandte Vermittlung gelingt am intensivsten, wenn Rezeptionsangebote im Text selbst aufgefunden werden. Darstellungen über Kriegsschuld und Themen wie Alltag, Widerstand und jüdisches Schicksal in der frühen DDR spiegeln die Auseinandersetzung mit den Relikten der Nazizeit, denen an Werken von Fühmann, Bobrowski, Otto, Noll u. a. nachgegangen wird. Aus Analysen entsteht ein Überblick, der Veränderungen sichtbar macht und Konflikte beschreibt, denen Schreibende in der DDR begegneten. Sie beziehen die kritische Aufnahme der Bücher in der literarischen Öffentlichkeit ein, erhellen Hintergründe politischer Eingriffe und das Konfliktpotential, das daraus erwuchs und dazu führte, dass zahlreiche Autoren die DDR verließen. Einblicke in konfliktreiche Vorgänge bietet die Analyse der Entstehungsgeschichte von Heyms Roman »Fünf Tage im Juni« über den 17. Juni 1953. Auch der Beitrag über A. Zweigs Rolle als Präsident der Akademie der Künste der DDR legt weitgehend unbekannte Auseinandersetzungen offen. Das Zusammenfügen früherer und erneuter Betrachtungen lässt Einblicke in den eigenen Erkenntnisprozess zu, so z. B. in den »Pankower Vorträgen«. Hier rekonstruiert er aus unveröffentlichtem Material, wie die Erneuerungshoffnungen sozialistischer Schriftsteller und Intellektueller auf parteipolitische Ignoranz trafen. Auch hier beeindruckt die historische Analysefähigkeit, die die selbstkritische Befragung nicht scheut.
»Am Rande mittendrin« (2021) unterbreitet Autobiographisches über Jahre am Schreibtisch und im wirklichen Leben, über die auch für ihn schmerzhaften Umbrüche nach dem Übergang zur anderen gesellschaftlichen Verfassung. Der Titel ist eine treffende Selbstzuschreibung.
Von dem ihm eigenen Humor und seiner Geselligkeit zeugen die von ihm seit 2011 herausgegebenen »Unernste(n) Betrachtungen zur literarischen Klassik« (Hiddenseer Goethe-Gesellschaft n. e. V.), die sich in mehr oder weniger ernstem Ton mit den Klassikern beschäftigen. Ein erfrischender Lesestoff!
Möge weiterhin produktive Zeit vor Dir liegen, lieber Dieter.