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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Dieser Kopf darf nicht denken

Uns zog es ein­mal mehr in die Stadt Vil­la­put­zu im Süden Sar­di­ni­ens. Die Son­ne schien, Men­schen eil­ten die Haupt­stra­ße auf und ab, bevöl­ker­ten die Bän­ke und Ter­ras­sen der Loka­le. Wir tru­gen ein wenig zur wirt­schaft­li­chen Bele­bung der Regi­on bei, indem wir Lebens­mit­tel, Post­kar­ten und Brief­mar­ken erstan­den und uns vor einem Café nie­der­lie­ßen. Zwei Cam­pa­ri, pre­go, con ghi­ac­cio, mit Eis; so konn­ten wir in Ruhe das klein­städ­ti­sche Trei­ben beob­ach­ten, Noti­zen machen und hoch­blicken. Hoch zum Schild neben dem Knei­pen­ein­gang: »Piaz­za A. Gram­sci«. Die­ser Name mach­te uns nachdenklich.

Anto­nio Gram­sci war der bedeu­tend­ste Theo­re­ti­ker der Kom­mu­ni­sti­schen Par­tei Ita­li­ens, betä­tig­te sich außer­dem prak­tisch in der Poli­tik, im Vor­stand der Par­tei, als Mit­glied der Kom­in­tern in Mos­kau, als Mit­glied des ita­lie­ni­schen Par­la­ments. Er wur­de 1891 in Ales, Pro­vinz Orist­ano, gebo­ren und wuchs in Ghi­lar­za, einem Dorf zwi­schen Orist­ano und Macomèr, auf. Er leb­te als Kind und Jugend­li­cher unter ein­fa­chen Ver­hält­nis­sen. Die Fami­lie war lan­ge Zeit in gro­ßen Schwie­rig­kei­ten, weil der Vater auf­grund von Intri­gen sei­nen Arbeits­platz ver­lo­ren hat­te. Anto­nio war gesund­heit­lich geschwächt und hat­te durch einen Unfall in sei­ner Kind­heit einen Buckel. Als die Fami­lie ver­arm­te, muss­te er bereits mit zwölf Jah­ren bis zu zehn Stun­den täg­lich arbei­ten. Trotz­dem schaff­te er ein glän­zen­des Abitur, was ihm ein Sti­pen­di­um für sein lite­ra­tur­wis­sen­schaft­li­ches Stu­di­um in Turin ein­brach­te. Dort lern­te er die Situa­ti­on der Fiat-Arbei­ter ken­nen. 1913 trat er der Sozia­li­sti­schen Par­tei bei, 1915 brach er sein Stu­di­um ab, wur­de Jour­na­list und wid­me­te sich ganz der Poli­tik. Ein Zusam­men­schluss der Sozia­li­sti­schen mit der Kom­mu­ni­sti­schen Par­tei Ita­li­ens gelang nicht, im Gegen­teil, der kom­mu­ni­sti­sche Flü­gel spal­te­te sich und wur­de dadurch geschwächt. Gram­sci gehör­te zum Zen­tral­ko­mi­tee der neu­en Kom­mu­ni­sti­schen Par­tei. Durch die rus­si­sche Revo­lu­ti­on ange­spornt, kam es zu Bar­ri­ka­den­kämp­fen in Ita­li­en, die das Mili­tär blu­tig nie­der­schlug. Gram­sci schaff­te es, die Bri­ga­ta Sas­sa­ri, die im ersten Welt­krieg für Ita­li­en gekämpft hat­te, so zu beein­flus­sen, dass die­se Sol­da­ten im Sin­ne der ita­lie­ni­schen Regie­rung nicht ein­satz­fä­hig waren, das bedeu­te­te, sie wei­ger­ten sich, auf strei­ken­de Arbei­ter, auf Ihres­glei­chen, zu schie­ßen. Er setz­te sich mit der Füh­rungs­rol­le der KPdSU aus­ein­an­der, die er grund­sätz­lich aner­kann­te, was ihn aber nicht hin­der­te, mas­si­ve Kri­tik zu üben. Ihm war jeg­li­che Dog­ma­ti­sie­rung fremd.

Gram­sci pole­mi­sier­te gegen den Geschichts­de­ter­mi­nis­mus, der die Poli­tik zum Hand­lan­ger einer objek­tiv-gesetz­mä­ßi­gen Ent­wick­lung degra­diert. Früh wies er dar­auf hin, dass es ein Irr­tum sei, die zivi­le Gesell­schaft unter kapi­ta­li­sti­schen Bedin­gun­gen für ideo­lo­gie- oder klas­sen­kampf­frei zu hal­ten. Eine The­se, die vie­le Poli­ti­ker, die im Dienst des Kapi­ta­lis­mus ste­hen (und nicht sel­ten dafür Geld ein­strei­chen), nicht müde wer­den zu behaupten.

Einer der ersten Zei­tungs­ar­ti­kel Gram­scis, der in ganz Ita­li­en Beach­tung fand, lau­te­te: »Die Revo­lu­ti­on der Bol­sche­wi­ki ist die Revo­lu­ti­on gegen das ›Kapi­tal‹ von Karl Marx. Das ›Kapi­tal‹ galt in Russ­land als ein Buch der Bour­geoi­sie, nicht als eins des Pro­le­ta­ri­ats. Es war die kri­ti­sche Demon­stra­ti­on der schick­sal­haf­ten Not­wen­dig­keit, dass sich in Russ­land eine Bour­geoi­sie ent­wickeln wür­de, dass eine kapi­ta­li­sti­sche Ära begin­nen und eine Zivi­li­sa­ti­on des west­li­chen Typus ent­ste­hen wür­de, bevor das Pro­le­ta­ri­at über­haupt an sei­ne eige­ne Befrei­ung, sei­ne eige­nen Klas­sen­in­ter­es­sen, sei­ne eige­ne Revo­lu­ti­on den­ken kön­ne. Die Tat­sa­chen haben den Rah­men gesprengt, inner­halb des­sen die Geschich­te Russ­lands nach den Geset­zen des histo­ri­schen Mate­ria­lis­mus hät­te ablau­fen müs­sen. Die Bol­sche­wi­ki ver­leug­nen Karl Marx; sie bestä­ti­gen mit dem Beweis der voll­ende­ten Tat, mit ihren Errun­gen­schaf­ten, dass die Geset­ze des histo­ri­schen Mate­ria­lis­mus nicht so ehern sind, wie man den­ken könn­te und gedacht hat.«

Trotz der seit über ein­hun­dert Jah­ren andau­ern­den Ver­teu­fe­lung des Kom­mu­nis­mus darf man nicht ver­ges­sen, in wel­chem Zustand sich Russ­land vor der Okto­ber­re­vo­lu­ti­on befand. Das Zaren­reich, prak­tisch eine Dik­ta­tur, hat­te zwar gera­de die Leib­ei­gen­schaft offi­zi­ell abge­schafft, befand sich aber gegen­über dem übri­gen Euro­pa ein­hun­dert Jah­re in der Ent­wick­lung zurück. Ohne die Lenin­sche Elek­tri­fi­zie­rung könn­ten auch die Geg­ner des Sozia­lis­mus heu­te nicht mit der Trans­si­bi­ri­schen Eisen­bahn von Mos­kau bis Wla­di­wo­stok oder mit der Bai­kal-Amur-Bahn fah­ren. Ohne die gewal­ti­ge tech­ni­sche Ent­wick­lung, die Russ­land im Eil­tem­po nach­ho­len muss­te, hät­te das Land sich im Zwei­ten Welt­krieg nicht mit Erfolg gegen die Angrei­fer aus Deutsch­land weh­ren kön­nen. Dass ein Sta­lin, vor dem Lenin gewarnt hat­te, das Land in einen Gulag ver­wan­del­te, ist histo­ri­sche Tat­sa­che. Ob es zu ver­hin­dern gewe­sen wäre, ist genau­so wie die Fra­ge, ob ein Hit­ler im Kapi­ta­lis­mus zu ver­hin­dern gewe­sen wäre, müßi­ge Spe­ku­la­ti­on. In bei­den Fäl­len ist offen, ob Dik­ta­to­ren den Beweis erbrin­gen, die Idee eines Systems sei falsch. Wäh­rend die Kuba­ner trotz aller Schwie­rig­kei­ten, die der »freie Westen« unter Füh­rung der USA der Insel berei­tet, unter dem Sozia­lis­mus eines Fidel Castro bes­ser leb­ten als zuvor unter dem Kapi­ta­lis­mus eines Dik­ta­tors Bat­ti­sta, schlit­tert das kapi­ta­li­sti­sche Argen­ti­ni­en und auch die Insel Hai­ti, die alle Auf­la­gen des Inter­na­tio­na­len Wäh­rungs­fonds und der Welt­bank erfül­len, in die schärf­ste Kri­se, die sie je erlebt haben.

Wer des­halb oder trotz­dem nicht an dem einen System zwei­felt, soll­te ein­mal objek­tiv über das ande­re nach­den­ken. Ter­ti­um non datur?

Der auf­kom­men­de Faschis­mus und schließ­lich der Wahl­sieg Mus­so­li­nis (des ehe­ma­li­gen Direk­tors der sozia­li­sti­schen Par­tei­zei­tung Avan­ti) brach­ten Gram­sci in gro­ße Schwie­rig­kei­ten. Trotz sei­ner Immu­ni­tät als Abge­ord­ne­ter wur­den er und vie­le ande­re ver­haf­tet. Nach über ein­jäh­ri­ger Ver­ban­nung auf die Insel Usti­ca bei Paler­mo, wur­de er 1928 zu zwan­zig Jah­ren Ker­ker­haft ver­ur­teilt. Die Faschi­sten sol­len gesagt haben: Die­ser Kopf muss dar­an gehin­dert wer­den zu den­ken. Inzwi­schen weiß man, dass durch die star­re Rol­le der KPdSU als Füh­rungs­macht und durch ihre enge Aus­le­gung des Mar­xis­mus vie­le klu­ge Köp­fe euro­pa­weit aus der Par­tei gedrängt und die Bewe­gung ins­ge­samt damit geschwächt wur­de. Außer­dem hat der Sta­li­nis­mus die grund­le­gen­den Ideen des Sozia­lis­mus und Kom­mu­nis­mus (glei­che sozia­le Rech­te für alle und kei­ne Herr­schaft von Men­schen über Men­schen) völ­lig des­avou­iert. Wäh­rend sei­ner lan­gen Haft, die sei­nen bereits ange­grif­fe­nen Gesund­heits­zu­stand wei­ter ver­schlech­ter­te, ver­fass­te Gram­sci drei­und­drei­ßig hand­ge­schrie­be­ne Hef­te, die soge­nann­ten Gefäng­nis­hef­te, in denen er sei­ne Theo­rien wei­ter aus­ar­bei­te­te. Weni­ge Tage vor sei­nem Tod wur­de er frei­ge­las­sen, er starb 1937 im Alter von sechs­und­vier­zig Jah­ren in Rom. Sei­ne Frau, die er in der SU ken­nen­ge­lernt hat­te, und sei­ne bei­den Söh­ne leb­ten zu der Zeit sicher­heits­hal­ber wie­der dort. Ledig­lich eine Schwe­ster sei­ner Frau konn­te sich um ihn wäh­rend der Gefäng­nis­zeit kümmern.

Gram­sci war ein frei­er Geist. Viel­leicht war er klein­ka­rier­ten Macht­po­li­ti­kern wegen sei­ner immensen Intel­li­genz zu gefähr­lich. Der Faschis­mus tat sein Übri­ges dazu. So muss­te er zwangs­läu­fig in der Pra­xis schei­tern. Hin­ter­las­sen hat er ein brauch­ba­res Gedan­ken­ge­bäu­de zur sozia­li­sti­schen Poli­tik auf der Basis des Mar­xis­mus, dazu Aus­ar­bei­tun­gen zur Tri­vi­al­li­te­ra­tur, zum Thea­ter, zu Päd­ago­gik und zur Sozialpsychologie.

Harald Neu­bert schreibt in sei­nem Buch über den Sar­den: »Das Ver­mächt­nis Gram­scis muss man (des­halb) heu­te vor allem als Gebot und Opti­on zur Ver­tei­di­gung und Erneue­rung des Mar­xis­mus, zur über­zeu­gen­den sozia­li­sti­schen Bewusst­seins­bil­dung und zum poli­ti­schen Han­deln unter sozia­li­sti­schen Prä­mis­sen begreifen.«

Wie­der blick­ten wir hoch zum Namens­schild des Man­nes, der sich für die Umset­zung sei­ner Theo­rien, die allen Men­schen, vor allem den aus­ge­beu­te­ten unte­ren Schich­ten, zugu­te­kom­men soll­ten, ein­ge­setzt und geop­fert hat­te. Die Erin­ne­rung an ihn wird in Sar­di­ni­en wach­ge­hal­ten, durch Stra­ßen­na­men in vie­len Städ­ten, durch Denk­mä­ler und Gedenksteine.

»Die alte Welt stirbt und die neue ist noch nicht gebo­ren!« Die­ser Satz spie­gelt das Ver­mächt­nis Gram­scis, so, als hät­te er den Satz von Gün­ter Eich bereits gekannt: Alles, was geschieht, geht mich etwas an.

In Turin lern­te Gram­sci die Situa­ti­on der Fiat-Arbei­ter ken­nen, heißt es in sei­ner Bio­gra­fie. Das war um 1910. Sieb­zig Jah­re spä­ter schreibt Tom­ma­so Di Ciau­la, der sich selbst als »Bau­ern, der zum Fabri­kaf­fen wur­de« bezeich­net: »Auf der Strecke nach Pale­se hat man für Mut­ter Fiat ver­schie­de­ne arte­si­sche Brun­nen ange­legt; für die Land­wirt­schaft wäre das nicht mög­lich gewe­sen. Wir befin­den uns hier in einer Situa­ti­on, wo wir ein­fach nicht mehr wis­sen, wer oder was wir sind: Maschi­nen­men­schen, Halb­menschen, Halb­ma­schi­nen, das Land weiß von nichts und liegt zer­stört am Boden, die Men­schen wer­den zor­nig und bei­ßen um sich. Die Fabri­ken schlie­ßen, das Was­ser fehlt, die Auf­zü­ge blei­ben stecken, die Steu­er­ein­trei­ber ver­fol­gen uns mit dem Mes­ser zwi­schen den Zäh­nen wie die Pira­ten, die Prei­se schnel­len in die Höhe. So sieht›s im Augen­blick aus, ein neu­er Arbeits­ver­trag wird gera­de aus­ge­han­delt, wir erwar­ten ihn mit gro­ßer Hoff­nung und Begei­ste­rung, aber es scheint auch dies­mal, wie immer, ein Mords­be­schiss zu werden.«