Uns zog es einmal mehr in die Stadt Villaputzu im Süden Sardiniens. Die Sonne schien, Menschen eilten die Hauptstraße auf und ab, bevölkerten die Bänke und Terrassen der Lokale. Wir trugen ein wenig zur wirtschaftlichen Belebung der Region bei, indem wir Lebensmittel, Postkarten und Briefmarken erstanden und uns vor einem Café niederließen. Zwei Campari, prego, con ghiaccio, mit Eis; so konnten wir in Ruhe das kleinstädtische Treiben beobachten, Notizen machen und hochblicken. Hoch zum Schild neben dem Kneipeneingang: »Piazza A. Gramsci«. Dieser Name machte uns nachdenklich.
Antonio Gramsci war der bedeutendste Theoretiker der Kommunistischen Partei Italiens, betätigte sich außerdem praktisch in der Politik, im Vorstand der Partei, als Mitglied der Komintern in Moskau, als Mitglied des italienischen Parlaments. Er wurde 1891 in Ales, Provinz Oristano, geboren und wuchs in Ghilarza, einem Dorf zwischen Oristano und Macomèr, auf. Er lebte als Kind und Jugendlicher unter einfachen Verhältnissen. Die Familie war lange Zeit in großen Schwierigkeiten, weil der Vater aufgrund von Intrigen seinen Arbeitsplatz verloren hatte. Antonio war gesundheitlich geschwächt und hatte durch einen Unfall in seiner Kindheit einen Buckel. Als die Familie verarmte, musste er bereits mit zwölf Jahren bis zu zehn Stunden täglich arbeiten. Trotzdem schaffte er ein glänzendes Abitur, was ihm ein Stipendium für sein literaturwissenschaftliches Studium in Turin einbrachte. Dort lernte er die Situation der Fiat-Arbeiter kennen. 1913 trat er der Sozialistischen Partei bei, 1915 brach er sein Studium ab, wurde Journalist und widmete sich ganz der Politik. Ein Zusammenschluss der Sozialistischen mit der Kommunistischen Partei Italiens gelang nicht, im Gegenteil, der kommunistische Flügel spaltete sich und wurde dadurch geschwächt. Gramsci gehörte zum Zentralkomitee der neuen Kommunistischen Partei. Durch die russische Revolution angespornt, kam es zu Barrikadenkämpfen in Italien, die das Militär blutig niederschlug. Gramsci schaffte es, die Brigata Sassari, die im ersten Weltkrieg für Italien gekämpft hatte, so zu beeinflussen, dass diese Soldaten im Sinne der italienischen Regierung nicht einsatzfähig waren, das bedeutete, sie weigerten sich, auf streikende Arbeiter, auf Ihresgleichen, zu schießen. Er setzte sich mit der Führungsrolle der KPdSU auseinander, die er grundsätzlich anerkannte, was ihn aber nicht hinderte, massive Kritik zu üben. Ihm war jegliche Dogmatisierung fremd.
Gramsci polemisierte gegen den Geschichtsdeterminismus, der die Politik zum Handlanger einer objektiv-gesetzmäßigen Entwicklung degradiert. Früh wies er darauf hin, dass es ein Irrtum sei, die zivile Gesellschaft unter kapitalistischen Bedingungen für ideologie- oder klassenkampffrei zu halten. Eine These, die viele Politiker, die im Dienst des Kapitalismus stehen (und nicht selten dafür Geld einstreichen), nicht müde werden zu behaupten.
Einer der ersten Zeitungsartikel Gramscis, der in ganz Italien Beachtung fand, lautete: »Die Revolution der Bolschewiki ist die Revolution gegen das ›Kapital‹ von Karl Marx. Das ›Kapital‹ galt in Russland als ein Buch der Bourgeoisie, nicht als eins des Proletariats. Es war die kritische Demonstration der schicksalhaften Notwendigkeit, dass sich in Russland eine Bourgeoisie entwickeln würde, dass eine kapitalistische Ära beginnen und eine Zivilisation des westlichen Typus entstehen würde, bevor das Proletariat überhaupt an seine eigene Befreiung, seine eigenen Klasseninteressen, seine eigene Revolution denken könne. Die Tatsachen haben den Rahmen gesprengt, innerhalb dessen die Geschichte Russlands nach den Gesetzen des historischen Materialismus hätte ablaufen müssen. Die Bolschewiki verleugnen Karl Marx; sie bestätigen mit dem Beweis der vollendeten Tat, mit ihren Errungenschaften, dass die Gesetze des historischen Materialismus nicht so ehern sind, wie man denken könnte und gedacht hat.«
Trotz der seit über einhundert Jahren andauernden Verteufelung des Kommunismus darf man nicht vergessen, in welchem Zustand sich Russland vor der Oktoberrevolution befand. Das Zarenreich, praktisch eine Diktatur, hatte zwar gerade die Leibeigenschaft offiziell abgeschafft, befand sich aber gegenüber dem übrigen Europa einhundert Jahre in der Entwicklung zurück. Ohne die Leninsche Elektrifizierung könnten auch die Gegner des Sozialismus heute nicht mit der Transsibirischen Eisenbahn von Moskau bis Wladiwostok oder mit der Baikal-Amur-Bahn fahren. Ohne die gewaltige technische Entwicklung, die Russland im Eiltempo nachholen musste, hätte das Land sich im Zweiten Weltkrieg nicht mit Erfolg gegen die Angreifer aus Deutschland wehren können. Dass ein Stalin, vor dem Lenin gewarnt hatte, das Land in einen Gulag verwandelte, ist historische Tatsache. Ob es zu verhindern gewesen wäre, ist genauso wie die Frage, ob ein Hitler im Kapitalismus zu verhindern gewesen wäre, müßige Spekulation. In beiden Fällen ist offen, ob Diktatoren den Beweis erbringen, die Idee eines Systems sei falsch. Während die Kubaner trotz aller Schwierigkeiten, die der »freie Westen« unter Führung der USA der Insel bereitet, unter dem Sozialismus eines Fidel Castro besser lebten als zuvor unter dem Kapitalismus eines Diktators Battista, schlittert das kapitalistische Argentinien und auch die Insel Haiti, die alle Auflagen des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank erfüllen, in die schärfste Krise, die sie je erlebt haben.
Wer deshalb oder trotzdem nicht an dem einen System zweifelt, sollte einmal objektiv über das andere nachdenken. Tertium non datur?
Der aufkommende Faschismus und schließlich der Wahlsieg Mussolinis (des ehemaligen Direktors der sozialistischen Parteizeitung Avanti) brachten Gramsci in große Schwierigkeiten. Trotz seiner Immunität als Abgeordneter wurden er und viele andere verhaftet. Nach über einjähriger Verbannung auf die Insel Ustica bei Palermo, wurde er 1928 zu zwanzig Jahren Kerkerhaft verurteilt. Die Faschisten sollen gesagt haben: Dieser Kopf muss daran gehindert werden zu denken. Inzwischen weiß man, dass durch die starre Rolle der KPdSU als Führungsmacht und durch ihre enge Auslegung des Marxismus viele kluge Köpfe europaweit aus der Partei gedrängt und die Bewegung insgesamt damit geschwächt wurde. Außerdem hat der Stalinismus die grundlegenden Ideen des Sozialismus und Kommunismus (gleiche soziale Rechte für alle und keine Herrschaft von Menschen über Menschen) völlig desavouiert. Während seiner langen Haft, die seinen bereits angegriffenen Gesundheitszustand weiter verschlechterte, verfasste Gramsci dreiunddreißig handgeschriebene Hefte, die sogenannten Gefängnishefte, in denen er seine Theorien weiter ausarbeitete. Wenige Tage vor seinem Tod wurde er freigelassen, er starb 1937 im Alter von sechsundvierzig Jahren in Rom. Seine Frau, die er in der SU kennengelernt hatte, und seine beiden Söhne lebten zu der Zeit sicherheitshalber wieder dort. Lediglich eine Schwester seiner Frau konnte sich um ihn während der Gefängniszeit kümmern.
Gramsci war ein freier Geist. Vielleicht war er kleinkarierten Machtpolitikern wegen seiner immensen Intelligenz zu gefährlich. Der Faschismus tat sein Übriges dazu. So musste er zwangsläufig in der Praxis scheitern. Hinterlassen hat er ein brauchbares Gedankengebäude zur sozialistischen Politik auf der Basis des Marxismus, dazu Ausarbeitungen zur Trivialliteratur, zum Theater, zu Pädagogik und zur Sozialpsychologie.
Harald Neubert schreibt in seinem Buch über den Sarden: »Das Vermächtnis Gramscis muss man (deshalb) heute vor allem als Gebot und Option zur Verteidigung und Erneuerung des Marxismus, zur überzeugenden sozialistischen Bewusstseinsbildung und zum politischen Handeln unter sozialistischen Prämissen begreifen.«
Wieder blickten wir hoch zum Namensschild des Mannes, der sich für die Umsetzung seiner Theorien, die allen Menschen, vor allem den ausgebeuteten unteren Schichten, zugutekommen sollten, eingesetzt und geopfert hatte. Die Erinnerung an ihn wird in Sardinien wachgehalten, durch Straßennamen in vielen Städten, durch Denkmäler und Gedenksteine.
»Die alte Welt stirbt und die neue ist noch nicht geboren!« Dieser Satz spiegelt das Vermächtnis Gramscis, so, als hätte er den Satz von Günter Eich bereits gekannt: Alles, was geschieht, geht mich etwas an.
In Turin lernte Gramsci die Situation der Fiat-Arbeiter kennen, heißt es in seiner Biografie. Das war um 1910. Siebzig Jahre später schreibt Tommaso Di Ciaula, der sich selbst als »Bauern, der zum Fabrikaffen wurde« bezeichnet: »Auf der Strecke nach Palese hat man für Mutter Fiat verschiedene artesische Brunnen angelegt; für die Landwirtschaft wäre das nicht möglich gewesen. Wir befinden uns hier in einer Situation, wo wir einfach nicht mehr wissen, wer oder was wir sind: Maschinenmenschen, Halbmenschen, Halbmaschinen, das Land weiß von nichts und liegt zerstört am Boden, die Menschen werden zornig und beißen um sich. Die Fabriken schließen, das Wasser fehlt, die Aufzüge bleiben stecken, die Steuereintreiber verfolgen uns mit dem Messer zwischen den Zähnen wie die Piraten, die Preise schnellen in die Höhe. So sieht›s im Augenblick aus, ein neuer Arbeitsvertrag wird gerade ausgehandelt, wir erwarten ihn mit großer Hoffnung und Begeisterung, aber es scheint auch diesmal, wie immer, ein Mordsbeschiss zu werden.«