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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Dienstreise mit Dascha

Es war sau­kalt und Dascha doof. Wir stan­den vorm men­schen­lee­ren Ein­gang der Tret­ja­kow-Gale­rie, doch sie woll­te spon­tan im vege­ta­ri­schen Café gegen­über ein­keh­ren. Erstens, um das im Hotel ver­schmäh­te Früh­stück nach­zu­ho­len, und zwei­tens, weil sie so früh am Mor­gen nicht reif für die Kunst sei. Ihre Ner­ven im Magen und im Hirn befän­den sich noch im Tief­schlaf, sag­te sie mit schuld­be­frei­en­dem Wimpernschlag.

Na gut, sag­te ich mir, nach den bei­den Tas­sen Kaf­fee kannst du jetzt beim zwei­ten Mor­gen­ge­deck noch einen Tee vertragen.

Dascha ist Ukrai­ne­rin und lebt seit drei­ßig Jah­ren im tie­fen Westen unse­res Vater­lan­des, was ursäch­lich dafür ist, dass man ihre Her­kunft nicht mehr hört und sie inzwi­schen allen modi­schen und son­sti­gen Trends folgt, die den Groß­teil des Lebens­in­halts west­deut­scher Frau­en mitt­le­ren Alters aus­ma­chen. Dascha fand, kaum dass sie Platz genom­men hat­te, das Lokal so wun­der­bar rus­sisch. Was ich nicht bestä­ti­gen konn­te: Es sah aus wie eines am Prenz­lau­er Berg oder in Reykja­vik, auch die Toi­let­ten waren uni­sex. Aber na schön, wenn sie es so emp­fand. Die bei­den Plin­sen, die sie wahl­wei­se mit Sirup und sau­rer Sah­ne bestrich (»Ich lebe vege­ta­risch, nicht vegan«), waren selbst­ver­ständ­lich auch über die Maßen köst­lich, der Kaf­fee sowie­so. Damit gab sie sich selbst das Stich­wort. Sie glau­be jetzt mehr Kaf­fee zu kon­su­mie­ren als frü­her, als sie ihn durch den Fil­ter lau­fen ließ. Sie habe sich näm­lich unlängst einen Auto­ma­ten zuge­legt, nicht eben bil­lig, und der kön­ne alles. Espres­so, Kaf­fee, Lat­te Mac­chia­to, Cap­puc­ci­no … Oben schüt­te man die Boh­nen rein, und dann lau­fe es unten frisch aus den Düsen. Und wie das duf­te! Aber, wie gesagt, sie mei­ne jetzt mehr zu ver­brau­chen als vor­dem. In der Fil­ter­zeit kam sie mit 500 Gramm zwei Wochen hin, jetzt ver­brau­che sie in der glei­chen Zeit ein Kilo Boh­nen. Da müs­se man spa­ren, wo es geht und rollt. Zum Bei­spiel bei den Win­ter­rei­fen, die sie sich vor dem Flug nach Mos­kau noch habe auf­zie­hen las­sen. (Ver­mut­lich weil dort schon Schnee liegt, dach­te ich gänz­lich frei von Iro­nie.) Vier Rei­fen für ins­ge­samt nur sech­zig Euro. Ein ech­tes Schnäpp­chen, das habe ihr auch der Mon­teur gesagt. Die Decken koste­ten nor­ma­ler­wei­se 180 Euro. Ich wag­te nun doch mit einem Zwi­schen­ruf ihren Rede­fluss zu stop­pen: Neue Reifen?

Fast neu, sag­te sie, kaum gefahren.

Dann läu­te­te das vor ihr auf dem Tisch lie­gen­de Smart­phone. Ein Film­chen von daheim, sie krin­gel­te sich vor Ver­gnü­gen. Nach­dem sie den Trai­ler mit nicht nach­las­sen­der Hei­ter­keit min­de­stens drei­mal ange­schaut hat­te, hielt sie mir das Dis­play vor die Nase. Ich sah zwei dicke Kat­zen. Miez und Mauz quäk­ten wie klei­ne Kin­der. Sie sei­en rol­lig, sag­te Dascha erklä­rend und lach­te. Ihr Nef­fe hüte sie, wäh­rend sie sich in der Welt­ge­schich­te her­um­trei­be, sie las­se die Tie­re nie allein. Die zwei?, erkun­dig­te ich mich, um Anteil­nah­me zu heu­cheln. Nicht nur die bei­den, klär­te sie mich auf, sie habe zehn. Ungläu­big starr­te ich sie an: Du lebst mit zehn Kat­zen in einer Woh­nung? Den zwei­ten Satz spü­le ich mit Tee hin­un­ter. Er hät­te gelau­tet: Kein Wun­der, dass es kein Mann bei dir lan­ge aushält.

Die­ses Leid hat­te sie mir näm­lich am Vor­tag geklagt. Nach der Buch­vor­stel­lung und vor den Kat­zen. Der rus­si­sche Kognak, der im Übri­gen wirk­lich exzel­lent war, wes­halb sie ihm unge­niert zusprach, hat­te ihre ohne­hin lose Zun­ge noch ein wenig locke­rer gemacht. Ich weiß nicht, wie vie­le Toasts bereits aus­ge­bracht wor­den waren, es waren nicht weni­ge, weil jeder etwas Wich­ti­ges zu sagen hat­te. Auch auf­fäl­lig vie­le Frau­en. Das Matri­ar­chat schien in Mos­kau aus­ge­bro­chen. Nach jedem Toast führ­ten wir die bis zum Rand gefüll­ten Glä­ser zum Mun­de, und Dascha frag­te mich zwi­schen zwei Trink­sprü­chen, ob ich sie nicht hei­ra­ten wol­le, dann kön­ne sie Kin­der adop­tie­ren. Ich erwi­der­te, dass Biga­mie in Deutsch­land qua Gesetz ver­bo­ten sei. Außer­dem fand ich eine Jour­na­li­stin viel inter­es­san­ter, weil die­se im Pro­fil aus­sah wie Iris Ber­ben. Das Inter­es­se an ihr ver­lor sich jedoch, als sie sich wenig spä­ter ihrem Welt­schmerz hin­gab – es war viel­leicht doch ein Kognak oder ein Wod­ka zu viel gewe­sen. Sie starr­te mit trä­nen­nas­sen Augen aus dem Fen­ster. Auf dem Platz davor, wahr­lich zum Heu­len schön, stand ein kugel­run­der Baum, und statt der Blät­ter trug er bun­te Blu­men­blü­ten aus Kera­mik. Angeb­lich stamm­ten sie vom glei­chen Künst­ler, der die­ses pott­häss­lich-kit­schi­ge Denk­mal vom gro­ßen Peter unweit von hier in die Moskwa gesetzt hat­te. Es war aber ein Prä­sent an die Stadt, und bekannt­lich schaut man einem geschenk­ten Gaul nichts ins Maul, auch wenn er XXXL ist und fast hun­dert Meter hoch. So muss es sich auch mit unse­rem Hotel ver­hal­ten haben. Die­ses hat­ten die Fran­zo­sen vor den Olym­pi­schen Spie­len 1980 errich­tet, und vor den halb­run­den 25-Geschos­ser hat­te der glei­che Zere­te­li ein Stand­bild von Charles de Gaul­le gepflanzt. Ein Stand­bild für­wahr: Bei­de Arme des uni­for­mier­ten Armen hän­gen zu Boden, wes­halb man Frank­reichs Prä­si­den­ten auf eine hohe Mar­mor­säu­le stel­len muss­te. Das sei gewis­ser­ma­ßen der Dank dafür, heißt es, weil Sta­lin durch­ge­setzt hat­te, dass Frank­reich als vier­te Sie­ger­macht in Pots­dam mit dabei sein durf­te. Man ahnt es: Die 18 Meter hohe Sta­tue zählt zu den Top Ten der scheuß­lich­sten Sta­tu­en der Welt, auch wenn die Prä­si­den­ten Chi­rac und Putin sie zum 60. Jah­res­tag des Sie­ges über den Faschis­mus enthüllten.

Dascha erklär­te, wir könn­ten jetzt gehen, sie sei nun satt für die Kunst. Wir tra­ten ins Freie. Vorm Ein­gang wand sich inzwi­schen eine viel­leicht 150 Meter lan­ge Schlan­ge dick ver­hüll­ter Men­schen, es war, wie gesagt, sau­kalt. Wir such­ten unse­ren Platz am Ende, und ich sag­te, das wäre uns erspart geblie­ben, hät­ten wir vor zwei Stun­den Ein­lass begehrt. Jetzt sei die Mit­tags­zeit vor­über und die kul­tur­be­flis­se­nen Mos­ko­wi­ter unter­wegs, es wäre schließ­lich Sonntag.

Sei heu­te nicht bereits Mon­tag, reagier­te Dascha unge­hal­ten. Ich nahm ihr das nicht übel, denn mit dem Kalen­der hat­te sie es so wenig wie mit dem Stadt­plan, mir war sel­ten ein Mensch mit einem der­art despe­ra­ten Ori­en­tie­rungs­sinn begegnet.

Ob Mon­tag oder Sonn­tag sei völ­lig wurscht, ent­geg­ne­te ich: Wir müs­sen jetzt erst ein­mal anstehen.

Nach etwa einer Drei­vier­tel­stun­de erreich­ten wir tief­ge­fro­ren das Hof­tor, und ich ver­nahm den erleich­ter­ten wie dank­ba­ren Seuf­zer: Die Hälf­te haben wir.

Damit soll­te sie Recht behalten.

Nach­dem die Sicher­heits­schleu­se pas­siert und die Lei­bes­vi­si­ta­ti­on nur mei­nen Metall­ku­gel­schrei­ber zuta­ge geför­dert hat­te – den füh­re ich immer mit mir, um zu legi­ti­mie­ren, wenn ich als Jour­na­list Anspruch auf eine Frei­kar­te erhe­be –, stell­ten wir uns nach Abga­be der Gar­de­ro­be erneut in eine Schlan­ge, jene vor der Kas­se. Ich leg­te die 500 Rubel, was umge­rech­net weni­ger als sie­ben Euro bedeu­te­te, für Daschas Ticket auf den Tre­sen und mei­nen Pres­se­aus­weis dazu. Die Frau hin­ter der Schei­be erklär­te mir mit stoi­schem Gesicht, Pres­se­kar­te sei nicht, und ich kön­ne mich dort beschwe­ren, falls ich damit nicht ein­ver­stan­den sei. Ihr Fin­ger wies in die Ecke, wo sich der Infor­ma­ti­ons­stand befand. Beschämt leg­te ich einen zwei­ten Schein aufs Brett. Sodann stie­gen wir mit stei­fen Knien die Mar­mor­stu­fen hinauf.

Wir haben eine gan­ze Stun­de, sag­te ich nach einem Blick auf die Uhr, andern­falls ver­pas­sen wir den Flie­ger in Wnukowo.

Da hät­ten wir gar nicht erst in die Aus­stel­lung zu gehen brau­chen, sag­te Dascha trot­zig. Eine Stun­de sei für die­se Schatz­kam­mer der Welt­kul­tur viel zu wenig.

Wir hät­ten einen hal­ben Tag dafür gehabt, wenn du im Hotel gefrüh­stückt hät­test – woll­te ich brül­len. Doch auch in die­ser hei­li­gen Hal­le kennt man die Rache nicht. Nun haben wir so lan­ge in der Käl­te gestan­den, lass uns wenig­stens die Kör­per wär­men, hör­te ich mich ver­söhn­lich sagen. Dascha wil­lig­te ein.

Um mich schon bald fort­zu­rei­ßen von einem Repin, der mich schon immer begei­stert hat­te, aber erst­mals von mir im Ori­gi­nal in der klein­for­ma­ti­gen Fas­sung von 1880 betrach­tet wer­den konn­te: Die Sapo­ro­ger Kosa­ken schrei­ben dem tür­ki­schen Sul­tan einen Brief. Anschlie­ßend hetz­ten wir zum Aus­gang, vor­bei an Bil­dern, Büsten und Ikonen.

Den Flie­ger hät­te ich den­noch fast ver­passt, weil ich im Duty Free Shop noch etwas für mei­ne Frau besor­gen muss­te. Zum ersten Mal in mei­nem Leben bestieg ich als Letz­ter ein Flug­zeug. Die Mit­rei­sen­den starr­ten mich an, als wür­de nur mei­net­we­gen noch die Maschi­ne am Boden haf­ten. Viel­leicht traf das sogar auch zu. Denn als ich auf 19F saß, setz­te sich auch schon die Maschi­ne in Bewegung.

Mos­kau ist wahr­lich immer eine Rei­se wert. Selbst mit Dascha.