Ankunft am Bahnhof. Die Sonne strahlt im Januar. Schöne Urlaubsgegend, Freizeit ist aber nicht der Grund meiner Reise. Meine Aufgabe ist die Schulung eines Betriebsrates. Fast 50 Kilometer entfernt von dem Ort, an dem letztes Jahr ein Rechtsterrorist den von vielen Rechten beschworenen »Bürgerkrieg« beginnen und Mitglieder der jüdischen Gemeinde ermorden wollte. Schon der Beginn der Veranstaltung ist seltsam. Acht Männer sitzen im Betriebsratsraum, die einzige Kollegin verteilt Kaffee und bringt das von ihr gekaufte Obst herein. Der Vormittag verläuft recht einsilbig, es wird viel zugehört. Gruselige Begriffe fallen, statt von der Lösung eines Problems wird von »Endlösung« des betrieblichen Themas gesprochen. Ein Teilnehmer streut ein belangloses Zitat ein, mit dem er bei allen Erstaunen erzeugen will, indem er sagt, es stamme von Adolf Hitler.
In der Pause am letzten Tag wird einer redselig. Bekannte menschenverachtende Sätze sind zu hören, wie: Jeder »kann rein, die Grenzen sind ja offen«. Mein Gegenargument, dass »gar nichts offen« sei, viele im Mittelmeer ertrinken oder in Libyen gefoltert werden und es kaum jemand bis zum Asylantrag schafft, bleibt ungehört. Es solle sich »doch jeder an die Regeln hier halten«. Auf meine Frage, was damit gemeint sei, kommt die Schilderung: »Bei uns im Ort« haben vor kurzem »acht syrische junge Männer« den öffentlichen Nahverkehr ohne Fahrkarte genutzt. Dass ich genügend Menschen kenne, die gar keine Fahrkarte lösen und das schon seit Jahren, ohne dass ihnen die deutsche Staatsbürgerschaft entzogen wurde, bleibt unwidersprochen. Die anderen schweigen. Der Wortführer schimpft über die vielen, die kommen, nicht nur aus Syrien. Ich versuche meine Wut nicht herauszuschreien, indem ich reagiere: Dass aus Syrien niemand flüchten musste, bevor sich die NATO in das Land einmischte, dass die Lebensbedingungen miserabel sind in Afghanistan und Irak und dort seit Jahren EU und USA das Sagen haben, dass die Arbeitsplätze in Afrikas Landwirtschaft durch Importe per EU-Subventionen zerstört werden, also dass viele Fluchtursachen mit uns hier zusammenhängen, muss er sich anhören. Auch ein Kollege widerspricht ihm dann. Die Kollegin kommt vom Kaffeekochen zurück und ist erstaunt über die Stimmung und die Themen. Zum Nachtisch gibt es Glückskekse.
Nach der Pause wird es spannend. »Das Unternehmen will keinen Tarifvertrag und keine Tariferhöhungen« ist unser erstes Thema. Warum denn nicht Gewerkschaftsmitglieder werben und mit gemeinsamer Kraft für einen Haustarifvertrag kämpfen, frage ich. »Das klappt bei uns nicht«, ist die – auch von anderen Betriebsräten in West oder Ost schon gehörte – Antwort. Dabei bleibt es aber nicht.
Die Kollegen benennen die Probleme klar. Bei vielen betrieblichen Themen, die wir an den Tagen gesammelt haben, hat der Betriebsrat Mitbestimmungsrechte. Er kann die von allen bemängelte Arbeitszeitregelung ändern, kann über eine Betriebsvereinbarung Belastungen der Beschäftigten reduzieren, die das Unternehmen durch Bereitschaftsdienste erzeugt. Die mit viel Druck durch die Chefs verbundenen Beurteilungen können anders geregelt werden, denn nach Betriebsverfassungsgesetz läuft nichts ohne Betriebsrat. Ich stelle Beispiele aus anderen Betrieben vor. Lösungen werden diskutiert, jeder beteiligt sich. »Man müsste hier …«, »das kann so nicht bleiben«, »wir sollten das …« sind häufig fallende Worte. Bei meiner Frage: »Was machen wir jetzt?« ist kurz Stille im Raum. Der Pausen-»Wortführer« meldet sich: »Ja, das kannste aber bei uns nicht machen …, das will der Arbeitgeber nicht.« »Aber was wollt ihr?« versuche ich die Diskussion erneut anzustoßen. Vergeblich. Anscheinend ist es viel leichter, nach unten zu treten, als die eigenen Interessen zu erkennen – und gegen die Mächtigen, etwa im Betrieb, anzukämpfen. Bei der Rückreise schien trotzdem die Sonne …