Liebe Leserin, lieber Leser, verzeihen Sie, wenn ich mich mit diesem Text direkt an Sie wende, aber hier geht es, nein, nicht um Krieg und Frieden, sondern um unser ganz alltägliches Leben – in dem wir unter dem Eindruck der einstürzenden Ereignisse leicht die Orientierung zu verlieren drohen. Das geht mir genauso wie Ihnen. Was ist gut, was ist schlecht, was ist richtig, was ist wichtig? Nehmen wir zum Beispiel mal »die Kultur« – und ihre Zukunft.
»Du lieber Himmel«, werden Sie ganz spontan denken, »wir haben doch weiß Gott andere Sorgen, als uns mit derartigen Luxusthemen zu beschäftigen«. Und wenn Sie so denken, könnte ich es Ihnen und mir leicht machen. Ich bräuchte nur allen eitlen Anwandlungen, die das Thema »Kultur« bei einem Autor (m/w/d) auslösen, zu widerstehen – und Ihnen einfach Recht geben: »Die Kultur und ihre Zukunft? Was soll der Quatsch?« Wo es wie hier und heute um Existenzielles geht, um die Klimakrise, um Armut, marode Schulen und ein kollabierendes Gesundheitswesen und – nicht zuletzt – um Kriege allüberall, da ist die Kultur nun wirklich nebenrangig. Sie leistet keinerlei konkreten Beitrag zur Lösung unserer Probleme. Und das ist beinahe schon alles, was es dazu zu sagen gibt.
Aber nur beinahe! Bevor Sie mir nun zustimmen und wir uns alle wieder Wichtigerem zuwenden, möchte ich doch einen bescheidenen Zweifel anmelden. Denn in Wahrheit bereitet mir die vermeintliche Luxusförmigkeit der Kultur doch irgendwie Unbehagen. Und ich finde, auch Sie sollten sich dabei unbehaglich fühlen – ganz egal, ob Sie regelmäßig in die Oper gehen oder nicht. Warum ich das finde, ist nicht so leicht zu erklären, weil jeder von uns unter Kultur etwas anderes verstehen dürfte. Der eine sammelt Comics, die andere liest Gedichte, wieder ein anderer schätzt Tattoos, und die nächste hält die Weblogger für eine kulturelle Avantgarde. Die Kultur ist ein schier unerschöpfliches Reservoir, das für jeden das Passende bereithält. Kultur in diesem weitesten Sinne meint eben alles, was der Mensch geschaffen hat, was also nicht Natur ist. Und hierzu zählen die Plastiktüte ebenso wie der Kaugummi, die Tattoo-Nadel und das Internet. Um solchen »großräumigen« Kulturbegriff will ich mich hier nicht weiter bekümmern.
Kultur im etwas engeren Sinne meint – abstrakt formuliert – alle Schöpfungen und Aktivitäten, die einen Sinnzusammenhang herstellen oder gestalten. Diesen Kulturbegriff meine ich schon eher, er stellt den klassischen Bereich des Wahren, Guten und Schönen ins Zentrum. Hierzu zählen Bildung und Wissenschaft ebenso wie Kunst und Musik, Literatur und Film– also all das, was übrigens auch der Staat als Kultur versteht und wozu er sich sogar ausdrücklich bekennt.
Ja, der deutsche Staat hat sich verpflichtet, die so verstandene Kultur zu schützen und zu fördern. Dafür sind in den Ländern die Kultusministerien und im Bund ein eigenes Kulturstaatsministerium zuständig – und mit entsprechenden Mitteln ausgestattet. So wenden Bund, Länder und Gemeinden rund 15 Milliarden Euro jährlich – und die Bildungs-, Hochschul- und Forschungsausgaben sind hier nicht eingerechnet – für die Kultur auf. Wir verdanken diesen öffentlichen Ausgaben wunderbare Museen und Kunstsammlungen, Archive und Bibliotheken, Stiftungen, Institute und Gedenkstätten, Theater und Opernhäuser.
»15 Milliarden?« – werden nun einige von Ihnen ungläubig fragen. »ja sind wir denn komplett von Sinnen? Millionen prekär Beschäftigte leben am Rande des Existenzminimums, Millionen Flüchtlinge müssen versorgt werden, und der Staat verschwendet unsere Steuergelder, um den Kunstgenuss einer relativ kleinen und zahlungsfähigen Kulturelite zu fördern? Und während deren Angehörige subventioniert werden, um in der Oper oder in der Goya-Ausstellung ihre Langeweile zu bekämpfen, können viele nicht mal ihre Rundfunkgebühren bezahlen? Ist das nicht dekadent?« Ja, so lässt sich fragen. Und das gesunde Volks- und Gerechtigkeitsempfinden wird die richtige Antwort schon nahelegen.
Und das heißt, es steht nicht gut um unsere Kultur. Ihre Aussichten werden sogar noch schlechter, da gibt es nichts zu beschönigen, wenn man sich die Verwendung der Mittel etwas genauer anschaut. Nehmen wir zum Beispiel das Goethe-Institut, dessen Förderung freilich im gerade bezifferten Kulturetat noch gar nicht enthalten ist, weil es im Wesentlichen vom Auswärtigen Amt finanziert wird – aber das nur nebenbei bemerkt. Das Goethe-Institut: eine wunderbare Einrichtung der auswärtigen Kulturpolitik, mit 158 Filialen in knapp 100 Ländern, das sich in seiner Geschichte große Meriten erworben und sich um den friedlichen Dialog mit unseren nahen und fernen Nachbarn äußerst verdient gemacht hat. Inzwischen beträgt der Etat dieser so wichtigen Organisation der Kulturvermittlung – grob gerundet – mehr als 400 Millionen Euro im Jahr, weit mehr als die Hälfte davon, rund 250 Millionen Euro sind Zuwendungen des Auswärtigen Amtes, sprich: aus Steuergeldern finanziert; der Rest setzt sich aus Eigenmitteln, Einnahmen aus Sprachkursen, Sponsoren- und Fördergeldern zusammen. Eine schöne Summe, mit der sich vielfältige Projekte initiieren und unterstützen lassen.
Sollte man meinen. Schaut man nun hingegen auf die Ausgabenseite, sucht man die erwartete Projektvielfalt vergebens. Man stößt stattdessen auf einen Posten, der einen gehörigen Zweifel an der Sinnhaftigkeit staatlicher Kulturpolitik nährt. Von den rund 400 Millionen Euro, werden, bevor in New York noch irgendein Text gelesen oder in Moskau – sorry, ich meine natürlich Kiew – irgendeine Ausstellung eröffnet wird, gut 320 Millionen für Personal und Verwaltung verbraucht. Das heißt, nur weniger als 20 Prozent des Gesamtetats werden für das verwendet, wofür diese Institution betrieben wird. Nach eigenen Angaben sind 4.280 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter weltweit für das Institut tätig, davon knapp 500 in der Zentrale in München. Da darf man schon mal fragen, womit all diese Menschen – die sogenannten Ortskräfte und die Sprachlehrkräfte ausgenommen – eigentlich ihr Geld verdienen.
Um nicht missverstanden zu werden: Ich gönne jedem Beschäftigten beim Goethe-Institut und anderswo seinen Arbeitsplatz. Von Herzen. Außerdem müssen kulturelle Veranstaltungen selbstverständlich geplant, verabredet, organisiert und betreut werden. Wir sollten uns aber nicht vormachen, dass all die für Kultur aufgebrachten Mittel auch der Kultur zugutekommen. Insofern wäre es eine politische Aufgabe der Zukunft, die Effektivität der im Kulturbereich eingesetzten Mittel zu erhöhen.
Übrigens gern auch die Mittel selbst – aber damit ist wohl in absehbarer Zeit nicht zu rechnen. Eher im Gegenteil. Die »Kriegsertüchtigung«, die uns unsere Regierung jüngst verordnete, kostet natürlich sehr viel Geld, das nun – wegen der Schuldenbremse – woanders eingespart werden muss. Schon ist von Schließungen mehrerer Standorte des Goethe-Instituts die Rede, unter anderem in Frankreich und Italien. Aber was sparen wir da wofür eigentlich ein? Wer der Meinung ist, die so wichtige »auswärtige Kulturpolitik« könne am effektivsten von der Münchener Zentrale aus gelenkt werden, sollte die alt-ehrwürdige Institution gleich ganz schleifen.
Womit ich wieder an meinen Ausgangspunkt zurückkehre. Das »offizielle« kulturelle Leben erscheint sowohl von außen als auch von innen bedroht. Deshalb hat wohl auch die Kultur, die ich meine, keine Zukunft. Ich rede von der Kultur, die schon Cicero als Lebensmittel beschwor, nämlich – und das sind in etwa seine Worte – alle die Subsistenz des Menschen übersteigenden Werte und Pflichten. Schon Cicero wusste, dass wir nicht von Brot allein leben, sondern dass wir, um ein erfülltes Leben zu leben, eine Moral ausbilden müssen, die den Kern jeder Kultur ausmacht. Und in dieser Moral geht es nicht um das blanke Überleben, sondern – und das nenne ich Kultur – um das »Gute Leben«.
Es ist klar, wo die Existenz bedroht erscheint, wo Abstiegs- und Armutsängste herrschen, da steht einem nicht der Sinn nach solcher Transzendenz. Es sollte aber ebenso klar sein: Ohne einen derartigen Überstieg, ohne Kritik und Vision, ist auch die Krise und sind auch unsere Ängste nicht zu überwinden. Wenn es also stimmt, dass sich in diesem Land vieles ändern muss, dann brauchen wir die Kultur nötiger denn je. Denn ohne Kultur kommt buchstäblich nichts Neues, also auch nichts Besseres in die Welt. Ohne Cicero oder Leonardo da Vinci, ohne Bach oder Schiller, ohne Goya oder Freud lebten wir heute nicht in der Welt, in der wir leben. Kunst und Kultur haben die Gegenwart stets kritisch reflektiert und den Zeitgenossen dabei nicht nur einen Spiegel der Erkenntnis vorgehalten. Kunst und Kultur öffnen in ihren besten Momenten zugleich Fenster, ins Mögliche, ins Bessere, vielleicht ins Unwahrscheinliche. Kultur, wie ich sie verstehe, ist ein Gegner des Faktischen und der Wahrscheinlichkeit; sie ist die Suche nach dem Überschuss des heute Möglichen über das heute Wirkliche.
Große Worte, ich weiß. Und natürlich erfüllt nicht jedes Bild, jeder Roman, jedes Gedicht und am wenigsten leider die Wissenschaft dieses hehre Ideal. Aber in der Summe ihrer Äußerungen macht die so verstandene Kultur das aus, was wir sind und, vielleicht am Wichtigsten, was aus uns wird.
Deshalb brauchen wir mehr und nicht weniger Kultur. Deshalb brauchen wir mehr Geld für die freie Szene, mehr Förderung von jungen Künstlern, mehr Hörspiele, mehr Streitkultur und mehr internationalen Kulturaustausch – und das alles bei deutlich weniger Administration. Sie finden, das klingt allzu idealistisch und realitätsfern? Ja, so klingt es wohl. Die faktischen Verhältnisse im öffentlich-rechtlichen Raum stimmen auch mich pessimistisch. Ich möchte mir aber einen Optimismus des Wollens bewahren, und ich kann Sie nur beschwören, das ebenfalls zu tun. Denn auch wenn Sie selbst vielleicht mit Kunst, Literatur und all dem Gedöns rein gar nichts am Hut haben, sollten Sie sich für die Kultur einsetzen – oder mindestens die unterstützen und befördern, die sich dafür einsetzen. Zwar gebiert die Kultur, also die Beschäftigung mit dem Möglichen, hin und wieder den puren Unsinn – wer stand nicht schon verständnislos vor einem sogenannten Kunstwerk? Aber eben von dieser Beschäftigung könnte eines Tages auch Ihr Wohlbefinden, vielleicht sogar Ihr Überleben abhängen. Weil wir, um zu überleben, der Macht des Faktischen kritisch entgegentreten müssen, weil wir, um gut zu leben, Träume und Fantasie für Alternativen und Gegenentwürfe benötigen.
In anderen Worten, und damit komme ich wieder zum Anfang und nun auch zum Schluss: Wenn die Kultur keine Zukunft hat, dann haben wir auch keine!