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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Die Zukunft der Kultur

Lie­be Lese­rin, lie­ber Leser, ver­zei­hen Sie, wenn ich mich mit die­sem Text direkt an Sie wen­de, aber hier geht es, nein, nicht um Krieg und Frie­den, son­dern um unser ganz all­täg­li­ches Leben – in dem wir unter dem Ein­druck der ein­stür­zen­den Ereig­nis­se leicht die Ori­en­tie­rung zu ver­lie­ren dro­hen. Das geht mir genau­so wie Ihnen. Was ist gut, was ist schlecht, was ist rich­tig, was ist wich­tig? Neh­men wir zum Bei­spiel mal »die Kul­tur« – und ihre Zukunft.

»Du lie­ber Him­mel«, wer­den Sie ganz spon­tan den­ken, »wir haben doch weiß Gott ande­re Sor­gen, als uns mit der­ar­ti­gen Luxus­the­men zu beschäf­ti­gen«. Und wenn Sie so den­ken, könn­te ich es Ihnen und mir leicht machen. Ich bräuch­te nur allen eit­len Anwand­lun­gen, die das The­ma »Kul­tur« bei einem Autor (m/​w/​d) aus­lö­sen, zu wider­ste­hen – und Ihnen ein­fach Recht geben: »Die Kul­tur und ihre Zukunft? Was soll der Quatsch?« Wo es wie hier und heu­te um Exi­sten­zi­el­les geht, um die Kli­ma­kri­se, um Armut, maro­de Schu­len und ein kol­la­bie­ren­des Gesund­heits­we­sen und – nicht zuletzt – um Krie­ge all­über­all, da ist die Kul­tur nun wirk­lich neben­ran­gig. Sie lei­stet kei­ner­lei kon­kre­ten Bei­trag zur Lösung unse­rer Pro­ble­me. Und das ist bei­na­he schon alles, was es dazu zu sagen gibt.

Aber nur bei­na­he! Bevor Sie mir nun zustim­men und wir uns alle wie­der Wich­ti­ge­rem zuwen­den, möch­te ich doch einen beschei­de­nen Zwei­fel anmel­den. Denn in Wahr­heit berei­tet mir die ver­meint­li­che Luxus­för­mig­keit der Kul­tur doch irgend­wie Unbe­ha­gen. Und ich fin­de, auch Sie soll­ten sich dabei unbe­hag­lich füh­len – ganz egal, ob Sie regel­mä­ßig in die Oper gehen oder nicht. War­um ich das fin­de, ist nicht so leicht zu erklä­ren, weil jeder von uns unter Kul­tur etwas ande­res ver­ste­hen dürf­te. Der eine sam­melt Comics, die ande­re liest Gedich­te, wie­der ein ande­rer schätzt Tat­toos, und die näch­ste hält die Web­log­ger für eine kul­tu­rel­le Avant­gar­de. Die Kul­tur ist ein schier uner­schöpf­li­ches Reser­voir, das für jeden das Pas­sen­de bereit­hält. Kul­tur in die­sem wei­te­sten Sin­ne meint eben alles, was der Mensch geschaf­fen hat, was also nicht Natur ist. Und hier­zu zäh­len die Pla­stik­tü­te eben­so wie der Kau­gum­mi, die Tat­too-Nadel und das Inter­net. Um sol­chen »groß­räu­mi­gen« Kul­tur­be­griff will ich mich hier nicht wei­ter bekümmern.

Kul­tur im etwas enge­ren Sin­ne meint – abstrakt for­mu­liert – alle Schöp­fun­gen und Akti­vi­tä­ten, die einen Sinn­zu­sam­men­hang her­stel­len oder gestal­ten. Die­sen Kul­tur­be­griff mei­ne ich schon eher, er stellt den klas­si­schen Bereich des Wah­ren, Guten und Schö­nen ins Zen­trum. Hier­zu zäh­len Bil­dung und Wis­sen­schaft eben­so wie Kunst und Musik, Lite­ra­tur und Film– also all das, was übri­gens auch der Staat als Kul­tur ver­steht und wozu er sich sogar aus­drück­lich bekennt.

Ja, der deut­sche Staat hat sich ver­pflich­tet, die so ver­stan­de­ne Kul­tur zu schüt­zen und zu för­dern. Dafür sind in den Län­dern die Kul­tus­mi­ni­ste­ri­en und im Bund ein eige­nes Kul­tur­staats­mi­ni­ste­ri­um zustän­dig – und mit ent­spre­chen­den Mit­teln aus­ge­stat­tet. So wen­den Bund, Län­der und Gemein­den rund 15 Mil­li­ar­den Euro jähr­lich – und die Bil­dungs-, Hoch­schul- und For­schungs­aus­ga­ben sind hier nicht ein­ge­rech­net – für die Kul­tur auf. Wir ver­dan­ken die­sen öffent­li­chen Aus­ga­ben wun­der­ba­re Muse­en und Kunst­samm­lun­gen, Archi­ve und Biblio­the­ken, Stif­tun­gen, Insti­tu­te und Gedenk­stät­ten, Thea­ter und Opernhäuser.

»15 Mil­li­ar­den?« – wer­den nun eini­ge von Ihnen ungläu­big fra­gen. »ja sind wir denn kom­plett von Sin­nen? Mil­lio­nen pre­kär Beschäf­tig­te leben am Ran­de des Exi­stenz­mi­ni­mums, Mil­lio­nen Flücht­lin­ge müs­sen ver­sorgt wer­den, und der Staat ver­schwen­det unse­re Steu­er­gel­der, um den Kunst­ge­nuss einer rela­tiv klei­nen und zah­lungs­fä­hi­gen Kul­ture­li­te zu för­dern? Und wäh­rend deren Ange­hö­ri­ge sub­ven­tio­niert wer­den, um in der Oper oder in der Goya-Aus­stel­lung ihre Lan­ge­wei­le zu bekämp­fen, kön­nen vie­le nicht mal ihre Rund­funk­ge­büh­ren bezah­len? Ist das nicht deka­dent?« Ja, so lässt sich fra­gen. Und das gesun­de Volks- und Gerech­tig­keits­emp­fin­den wird die rich­ti­ge Ant­wort schon nahelegen.

Und das heißt, es steht nicht gut um unse­re Kul­tur. Ihre Aus­sich­ten wer­den sogar noch schlech­ter, da gibt es nichts zu beschö­ni­gen, wenn man sich die Ver­wen­dung der Mit­tel etwas genau­er anschaut. Neh­men wir zum Bei­spiel das Goe­the-Insti­tut, des­sen För­de­rung frei­lich im gera­de bezif­fer­ten Kul­tur­etat noch gar nicht ent­hal­ten ist, weil es im Wesent­li­chen vom Aus­wär­ti­gen Amt finan­ziert wird – aber das nur neben­bei bemerkt. Das Goe­the-Insti­tut: eine wun­der­ba­re Ein­rich­tung der aus­wär­ti­gen Kul­tur­po­li­tik, mit 158 Filia­len in knapp 100 Län­dern, das sich in sei­ner Geschich­te gro­ße Meri­ten erwor­ben und sich um den fried­li­chen Dia­log mit unse­ren nahen und fer­nen Nach­barn äußerst ver­dient gemacht hat. Inzwi­schen beträgt der Etat die­ser so wich­ti­gen Orga­ni­sa­ti­on der Kul­tur­ver­mitt­lung – grob gerun­det – mehr als 400 Mil­lio­nen Euro im Jahr, weit mehr als die Hälf­te davon, rund 250 Mil­lio­nen Euro sind Zuwen­dun­gen des Aus­wär­ti­gen Amtes, sprich: aus Steu­er­gel­dern finan­ziert; der Rest setzt sich aus Eigen­mit­teln, Ein­nah­men aus Sprach­kur­sen, Spon­so­ren- und För­der­gel­dern zusam­men. Eine schö­ne Sum­me, mit der sich viel­fäl­ti­ge Pro­jek­te initi­ie­ren und unter­stüt­zen lassen.

Soll­te man mei­nen. Schaut man nun hin­ge­gen auf die Aus­ga­ben­sei­te, sucht man die erwar­te­te Pro­jekt­viel­falt ver­ge­bens. Man stößt statt­des­sen auf einen Posten, der einen gehö­ri­gen Zwei­fel an der Sinn­haf­tig­keit staat­li­cher Kul­tur­po­li­tik nährt. Von den rund 400 Mil­lio­nen Euro, wer­den, bevor in New York noch irgend­ein Text gele­sen oder in Mos­kau – sor­ry, ich mei­ne natür­lich Kiew – irgend­ei­ne Aus­stel­lung eröff­net wird, gut 320 Mil­lio­nen für Per­so­nal und Ver­wal­tung ver­braucht. Das heißt, nur weni­ger als 20 Pro­zent des Gesamt­etats wer­den für das ver­wen­det, wofür die­se Insti­tu­ti­on betrie­ben wird. Nach eige­nen Anga­ben sind 4.280 Mit­ar­bei­te­rin­nen und Mit­ar­bei­ter welt­weit für das Insti­tut tätig, davon knapp 500 in der Zen­tra­le in Mün­chen. Da darf man schon mal fra­gen, womit all die­se Men­schen – die soge­nann­ten Orts­kräf­te und die Sprach­lehr­kräf­te aus­ge­nom­men – eigent­lich ihr Geld verdienen.

Um nicht miss­ver­stan­den zu wer­den: Ich gön­ne jedem Beschäf­tig­ten beim Goe­the-Insti­tut und anders­wo sei­nen Arbeits­platz. Von Her­zen. Außer­dem müs­sen kul­tu­rel­le Ver­an­stal­tun­gen selbst­ver­ständ­lich geplant, ver­ab­re­det, orga­ni­siert und betreut wer­den. Wir soll­ten uns aber nicht vor­ma­chen, dass all die für Kul­tur auf­ge­brach­ten Mit­tel auch der Kul­tur zugu­te­kom­men. Inso­fern wäre es eine poli­ti­sche Auf­ga­be der Zukunft, die Effek­ti­vi­tät der im Kul­tur­be­reich ein­ge­setz­ten Mit­tel zu erhöhen.

Übri­gens gern auch die Mit­tel selbst – aber damit ist wohl in abseh­ba­rer Zeit nicht zu rech­nen. Eher im Gegen­teil. Die »Kriegs­er­tüch­ti­gung«, die uns unse­re Regie­rung jüngst ver­ord­ne­te, kostet natür­lich sehr viel Geld, das nun – wegen der Schul­den­brem­se – woan­ders ein­ge­spart wer­den muss. Schon ist von Schlie­ßun­gen meh­re­rer Stand­or­te des Goe­the-Insti­tuts die Rede, unter ande­rem in Frank­reich und Ita­li­en. Aber was spa­ren wir da wofür eigent­lich ein? Wer der Mei­nung ist, die so wich­ti­ge »aus­wär­ti­ge Kul­tur­po­li­tik« kön­ne am effek­tiv­sten von der Mün­che­ner Zen­tra­le aus gelenkt wer­den, soll­te die alt-ehr­wür­di­ge Insti­tu­ti­on gleich ganz schleifen.

Womit ich wie­der an mei­nen Aus­gangs­punkt zurück­keh­re. Das »offi­zi­el­le« kul­tu­rel­le Leben erscheint sowohl von außen als auch von innen bedroht. Des­halb hat wohl auch die Kul­tur, die ich mei­ne, kei­ne Zukunft. Ich rede von der Kul­tur, die schon Cice­ro als Lebens­mit­tel beschwor, näm­lich – und das sind in etwa sei­ne Wor­te – alle die Sub­si­stenz des Men­schen über­stei­gen­den Wer­te und Pflich­ten. Schon Cice­ro wuss­te, dass wir nicht von Brot allein leben, son­dern dass wir, um ein erfüll­tes Leben zu leben, eine Moral aus­bil­den müs­sen, die den Kern jeder Kul­tur aus­macht. Und in die­ser Moral geht es nicht um das blan­ke Über­le­ben, son­dern – und das nen­ne ich Kul­tur – um das »Gute Leben«.

Es ist klar, wo die Exi­stenz bedroht erscheint, wo Abstiegs- und Armuts­äng­ste herr­schen, da steht einem nicht der Sinn nach sol­cher Tran­szen­denz. Es soll­te aber eben­so klar sein: Ohne einen der­ar­ti­gen Über­stieg, ohne Kri­tik und Visi­on, ist auch die Kri­se und sind auch unse­re Äng­ste nicht zu über­win­den. Wenn es also stimmt, dass sich in die­sem Land vie­les ändern muss, dann brau­chen wir die Kul­tur nöti­ger denn je. Denn ohne Kul­tur kommt buch­stäb­lich nichts Neu­es, also auch nichts Bes­se­res in die Welt. Ohne Cice­ro oder Leo­nar­do da Vin­ci, ohne Bach oder Schil­ler, ohne Goya oder Freud leb­ten wir heu­te nicht in der Welt, in der wir leben. Kunst und Kul­tur haben die Gegen­wart stets kri­tisch reflek­tiert und den Zeit­ge­nos­sen dabei nicht nur einen Spie­gel der Erkennt­nis vor­ge­hal­ten. Kunst und Kul­tur öff­nen in ihren besten Momen­ten zugleich Fen­ster, ins Mög­li­che, ins Bes­se­re, viel­leicht ins Unwahr­schein­li­che. Kul­tur, wie ich sie ver­ste­he, ist ein Geg­ner des Fak­ti­schen und der Wahr­schein­lich­keit; sie ist die Suche nach dem Über­schuss des heu­te Mög­li­chen über das heu­te Wirkliche.

Gro­ße Wor­te, ich weiß. Und natür­lich erfüllt nicht jedes Bild, jeder Roman, jedes Gedicht und am wenig­sten lei­der die Wis­sen­schaft die­ses heh­re Ide­al. Aber in der Sum­me ihrer Äuße­run­gen macht die so ver­stan­de­ne Kul­tur das aus, was wir sind und, viel­leicht am Wich­tig­sten, was aus uns wird.

Des­halb brau­chen wir mehr und nicht weni­ger Kul­tur. Des­halb brau­chen wir mehr Geld für die freie Sze­ne, mehr För­de­rung von jun­gen Künst­lern, mehr Hör­spie­le, mehr Streit­kul­tur und mehr inter­na­tio­na­len Kul­tur­aus­tausch – und das alles bei deut­lich weni­ger Admi­ni­stra­ti­on. Sie fin­den, das klingt all­zu idea­li­stisch und rea­li­täts­fern? Ja, so klingt es wohl. Die fak­ti­schen Ver­hält­nis­se im öffent­lich-recht­li­chen Raum stim­men auch mich pes­si­mi­stisch. Ich möch­te mir aber einen Opti­mis­mus des Wol­lens bewah­ren, und ich kann Sie nur beschwö­ren, das eben­falls zu tun. Denn auch wenn Sie selbst viel­leicht mit Kunst, Lite­ra­tur und all dem Gedöns rein gar nichts am Hut haben, soll­ten Sie sich für die Kul­tur ein­set­zen – oder min­de­stens die unter­stüt­zen und beför­dern, die sich dafür ein­set­zen. Zwar gebiert die Kul­tur, also die Beschäf­ti­gung mit dem Mög­li­chen, hin und wie­der den puren Unsinn – wer stand nicht schon ver­ständ­nis­los vor einem soge­nann­ten Kunst­werk? Aber eben von die­ser Beschäf­ti­gung könn­te eines Tages auch Ihr Wohl­be­fin­den, viel­leicht sogar Ihr Über­le­ben abhän­gen. Weil wir, um zu über­le­ben, der Macht des Fak­ti­schen kri­tisch ent­ge­gen­tre­ten müs­sen, weil wir, um gut zu leben, Träu­me und Fan­ta­sie für Alter­na­ti­ven und Gegen­ent­wür­fe benötigen.

In ande­ren Wor­ten, und damit kom­me ich wie­der zum Anfang und nun auch zum Schluss: Wenn die Kul­tur kei­ne Zukunft hat, dann haben wir auch keine!