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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Die Zeit ist aus den Fugen …

beklag­te Shake­speares Ham­let schon vor mehr als 420 Jah­ren. Damals schwä­chel­ten feu­da­le Struk­tu­ren bereits, und die fol­gen­de kolo­nia­le Durch­drin­gung wei­ter Welt­re­gio­nen durch die Euro­pä­er hat­te begon­nen. Die erstark­ten USA mach­ten sich anschlie­ßend den Rest der Welt unter­tan, und die mit ihrem way of life ver­brei­te­te Zer­stö­rung heu­ti­ger Lebens­grund­la­gen (inklu­si­ve Kli­ma) stellt inzwi­schen die gesam­te Mensch­heit vor exi­sten­zi­el­le Herausforderungen.

Die seit Anfang des 20. Jahr­hun­derts bis­her ein­zi­ge öko­no­mi­sche Alter­na­ti­ve zum Kapi­ta­lis­mus wur­de mit hei­ßen wie kal­ten Krie­gen bekämpft und schließ­lich 1989/​90 zum Auf­ge­ben gebracht. Das damit ver­bun­de­ne Ende der soge­nann­ten System­kon­kur­renz führ­te jedoch nicht zu einer neu­en Frie­dens­ord­nung, z.B. zum »Haus Euro­pa« Gor­bat­schows, das schon Tuchol­sky vor fast 100 Jah­ren vor­ge­schwebt hat­te. Nach der Auf­lö­sung des War­schau­er Pak­tes blieb die Nato aktiv, fand bald neue Fein­de und hei­ße Kriegs­her­de, von Jugo­sla­wi­en bis zum Irak. Seit den neun­zi­ger Jah­ren dehn­te der Westen den augen­schein­li­chen Sieg des Kapi­tals auch mili­tä­risch wei­ter nach Osten aus – und anstatt Russ­land nach Euro­pa zu brin­gen, wie es Putin noch nach 2000 ver­such­te, setz­ten sich jene (US-)Kapitalinteressen durch, die eine eura­si­sche Ver­bin­dung schon seit hun­dert Jah­ren ver­hin­dert hatten.

Damit ging eine Stär­kung der poli­ti­schen Rech­ten ein­her – die nach 1945 über­all mehr oder weni­ger latent über­lebt hat­te, (post-)faschistische Kräf­te, die dem Kapi­ta­lis­mus inhä­rent sind, för­der­ten zunächst Iden­ti­täts­dis­kur­se und Re-Natio­na­li­sie­rung. Erneu­te wirt­schaft­li­che Kri­sen­er­schei­nun­gen auch des Finanz­ka­pi­tals ver­stärk­ten die schlei­chen­de Deindu­stria­li­sie­rung, der sich vor allem der mili­tä­risch-indu­stri­el­le Kom­plex ent­zie­hen und sogar von ihr pro­fi­tie­ren kann, denn einen Aus­weg aus den gro­ßen Kri­sen bie­tet wie eh und je: Krieg.

Die Rüstungs­in­du­strie mit ihrem Tech­no-Annex ist noch die mäch­tig­ste in den USA, deren wirt­schaft­li­che Vor­macht­stel­lung in der Welt seit län­ge­rem in Fra­ge gestellt ist durch auf­kom­men­de neue Mäch­te (BRICS). Die USA kön­nen ihr inter­nes Wohl­stands­ver­spre­chen nicht mehr auf­recht­erhal­ten und haben ihre euro­päi­schen Ver­bün­de­ten in einen wider­sin­ni­gen Kampf um die Ukrai­ne ein­ge­bun­den, in dem Russ­land mit mili­tä­ri­schen Mit­teln ver­sucht, das gro­ße Grenz­land in sei­ner natio­na­len Inter­es­sensphä­re neu­tral zu hal­ten. In drei lan­gen Jah­ren konn­te die­ser Krieg vom Westen – trotz erheb­li­cher Inve­sti­tio­nen – nicht gewon­nen wer­den, die mate­ri­el­len wie mensch­li­chen Kriegs­schä­den sind immens, und die wich­tig­sten Nato-Län­der, wie z.B. Deutsch­land, ver­fü­gen de fac­to über kei­ne Sou­ve­rä­ni­tät. Wie die vor­herr­schen­de Pro­pa­gan­da zeigt, sind sie weit davon ent­fernt, eige­ne Inter­es­sen zu ver­tre­ten, bzw. die ihrer Bevöl­ke­rungs­mehr­heit. Nicht ein­mal erheb­li­che wirt­schaft­li­che Rück­schlä­ge hal­ten das Estab­lish­ment in Deutsch­land davon ab, sich dem Wür­ge­griff zu ent­zie­hen, den ein US-Prä­si­dent Donald Trump noch ver­stär­ken wird.

Es ist anzu­neh­men, dass die Mehr­heit der Men­schen heu­te weiß, dass zwi­schen gro­ßen Nukle­ar­mäch­ten kei­ne Kon­flik­te um Gebiets­fra­gen oder ähn­li­ches mehr mili­tä­risch aus­ge­tra­gen wer­den soll­ten, denn kon­ven­tio­nel­le mili­tä­ri­sche »Sie­ge« sind vor­aus­sicht­lich unmög­lich. Doch das The­ma Frie­dens­schluss, Ende aller Waf­fen­lie­fe­run­gen in Kriegs­ge­bie­te steht nicht im Vor­der­grund des aktu­el­len Bundestagswahlkampfes.

Über­haupt sind die Pro­gram­me der in weni­gen Wochen zur Regie­rung antre­ten­den Par­tei­en weit davon ent­fernt, sich den drän­gen­den Welt­pro­ble­men auch nur zu stel­len, geschwei­ge denn sie anzugehen.

Kein Wort über Maß­nah­men zur zwin­gend not­wen­di­gen Ver­än­de­rung unse­rer Lebens­grund­la­gen, unse­rer Pro­duk­ti­ons­be­din­gun­gen, zum Abbau der extre­men Ungleich­hei­ten in unse­rer eige­nen Gesell­schaft, wie auch in der Welt – zur Schaf­fung einer sozia­len Basis für tat­säch­li­che Demokratie.

Alle ver­spre­chen hin­ge­gen unter­schied­li­che Maß­nah­men für wie­der mehr wirt­schaft­li­ches Wachs­tum zum Erhalt unse­res Wohl­stands (sprich Indi­vi­du­al­kon­sums), mit mehr Aus­ga­ben für Rüstung, aber weni­ger Migran­ten. Ja, die Het­ze gegen letz­te­re von rechts und aus der poli­ti­schen Mit­te trägt inzwi­schen Züge alt­be­kann­ter Sün­den­bock-Pro­pa­gan­da – von neu­er Flücht­lings­ab­wehr zur Remi­gra­ti­on und zur Depor­ta­ti­on ist es im Kopf nicht weit.

Die For­de­rung nach Frie­den, wie es wohl dem Wunsch einer Mehr­heit der Bevöl­ke­rung ent­spricht, das heißt nach sofor­ti­ger Been­di­gung aller Kriegs­hand­lun­gen, hat man der extre­men Rech­ten über­las­sen, eine Tat­sa­che, die ein BSW auf den Plan geru­fen hat, das sich – anders als die AfD – auch gegen die neue Auf­rü­stung inner­halb der Nato und den neu ent­fach­ten Kriegs­wahn wen­det. Nicht ein­mal die Lin­ke konn­te sich geschlos­sen auf eine radi­kal-kon­se­quen­te Abrü­stungs­po­li­tik fest­le­gen. Ganz zu schwei­gen von der staat­lich ver­ord­ne­ten weit­ge­hen­den Hin­nah­me der israe­li­schen Ver­nich­tungs­po­li­tik gegen die Palä­sti­nen­ser in Gaza und im West­jor­dan­land im Namen einer deut­schen »Staats­rä­son«.

Wenn Euro­pa nicht vor 100 Jah­ren das alles schon erlebt hät­te: Wirt­schafts­kri­sen, Aus­gren­zun­gen, Anti­kom­mu­nis­mus, Anti­se­mi­tis­mus, Faschis­mus, Nazis­mus mit ihren krie­ge­ri­schen Epi­lo­gen, könn­te man ja anneh­men, wir wüss­ten gar nicht, wohin neue mas­si­ve Auf­rü­stung mit der Akti­vie­rung alt-neu­er Feind­bil­der (heu­te neben Ter­ro­ri­sten und Isla­mi­sten auch wie­der Rus­sen) füh­ren werden.