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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Die Werte-Kanzlerin

Drei­zehn­ein­halb Jah­re ist Ange­la Mer­kel nun schon unse­re Kanz­le­rin, und in all der Zeit hat sie sich unbe­irrt von hohen Wer­ten lei­ten las­sen. Ihr Wer­te­ka­non ist fest­ge­fügt, durch nichts und nie­man­den zu erschüt­tern. Eine klei­ne Aus­wahl, die mög­li­cher­wei­se Geduld und Ner­ven eini­ger Ossietzky-Leser stra­pa­ziert, bie­tet das Ver­gnü­gen, die Rede­kunst und Sprach­ge­walt unse­rer Regie­rungs­chefin zu bewundern:

Als die­se 2008 mit dem Karls­preis aus­ge­zeich­net wur­de, hielt sie eine bewe­gen­de Dan­kes­re­de, in der sie »unse­re gemein­sa­me Wer­te­grund­la­ge« dar­leg­te: »Für uns steht der Mensch im Mit­tel­punkt. Sei­ne Wür­de ist unan­tast­bar. Dar­aus lei­ten sich zen­tra­le Wer­te ab, die Euro­pa im Kern zusam­men­hal­ten. So set­zen wir uns gemein­sam für Frie­den und Frei­heit, für Soli­da­ri­tät und Tole­ranz, für Demo­kra­tie und Rechts­staat­lich­keit ein. Wir Euro­päe­rin­nen und Euro­pä­er wis­sen um unse­re Ver­ant­wor­tung für die Schöp­fung. Wir wis­sen auch um unse­re sozia­le Ver­ant­wor­tung – im Innern unse­rer Gesell­schaf­ten, aber auch im Umgang mit ande­ren. Wenn wir uns unse­rer gemein­sa­men Wer­te bewusst sind, dann haben wir einen ver­läss­li­chen Kom­pass für unser Han­deln in Poli­tik und Gesell­schaft.« Ach, hat sie das schön gesagt. Ja, in die­sem Euro­pa möch­te man leben.

Im dar­auf­fol­gen­den Jahr trat sie auf dem Welt­wirt­schafts­fo­rum in Davos auf und bekann­te, dass sie nicht für Kapi­ta­lis­mus und schon gar nicht für Sozia­lis­mus sei. In ihrer Rede unter­strich sie, dass die sozia­le Markt­wirt­schaft, die Deutsch­land nach dem Krieg Wohl­stand gebracht habe, der drit­te Weg zwi­schen Kapi­ta­lis­mus und Staats­wirt­schaft sei. »Der Staat ist der Hüter der sozia­len Ord­nung, aber Wett­be­werb braucht Augen­maß und sozia­le Verantwortung.«

Nichts liegt Frau Mer­kel so am Her­zen wie die »sozia­le Markt­wirt­schaft«. So nimmt es nicht Wun­der, dass es ihr ein Her­zens­be­dürf­nis war, Mit­te 2018 auf der Fest­ver­an­stal­tung »70 Jah­re Sozia­le Markt­wirt­schaft« auf­zu­tre­ten und zu unter­strei­chen: »Es geht um Chan­cen­ge­rech­tig­keit, die auf den Ein­zel­nen abstellt und nicht auf das Kol­lek­tiv. Sie soll jedem die Mög­lich­keit geben, sich in glei­cher Frei­heit nach jewei­li­gen Nei­gun­gen und Fähig­kei­ten ent­fal­ten zu kön­nen – eigen­ver­ant­wort­lich, aber eben auch immer ver­ant­wort­lich gegen­über ande­ren. Die Ori­en­tie­rung an die­sen Wer­ten – an Frei­heit, Soli­da­ri­tät und Gerech­tig­keit – macht in der Sum­me uns als Gemein­schaft und als Land stark.«

Für wel­che Wer­te die Noch-Kanz­le­rin ein­tritt, mach­te sie im Novem­ber 2016 in ihrem Pres­se­state­ment im Bun­des­kanz­ler­amt zur Wahl Trumps deut­lich, in dem sie unter ande­rem fest­stell­te »Deutsch­land und Ame­ri­ka sind durch Wer­te ver­bun­den: Demo­kra­tie, Frei­heit, Respekt vor dem Recht und der Wür­de des Men­schen, unab­hän­gig von Her­kunft, Haut­far­be, Reli­gi­on, Geschlecht, sexu­el­ler Ori­en­tie­rung oder poli­ti­scher Ein­stel­lung. Auf der Basis die­ser Wer­te bie­te ich dem künf­ti­gen Prä­si­den­ten der Ver­ei­nig­ten Staa­ten von Ame­ri­ka, Donald Trump, eine enge Zusam­men­ar­beit an.« Da wird der Donald sich gewal­tig gefreut und sich flugs ans Werk gemacht haben, die Zusam­men­ar­beit mit den Rüstungs­aus­ga­ben­säu­mi­gen nicht all­zu eng wer­den zu lassen.

Um Wer­te ging es der Kanz­le­rin auch in ihrer Neu­jahrs­an­spra­che 2018. Die Bun­des­bür­ge­rin­nen und -bür­ger waren über­aus glück­lich und zugleich gerührt, als sie die­se Wor­te hör­ten: »Mit unse­rer Arbeit für gleich­wer­ti­ge Lebens­ver­hält­nis­se wol­len wir errei­chen, dass jede und jeder einen guten Zugang zu Bil­dung, Wohn­raum und Gesund­heits­ver­sor­gung hat … Dabei rin­gen wir um die besten Lösun­gen in der Sache. Immer häu­fi­ger aber auch um den Stil unse­res Mit­ein­an­ders, um unse­re Wer­te: Offen­heit, Tole­ranz und Respekt.«

Macht man sich die Mühe, in dem Wer­te­re­per­toire Mer­kels die For­de­rung nach sozia­ler Gerech­tig­keit zu suchen, dann wird man sel­ten fün­dig. Eine der weni­gen Aus­nah­men war ihre Rede auf dem Par­tei­tag der nord­rhein-west­fä­li­schen CDU im April 2017, in der sie den dama­li­gen SPD-Spit­zen­kan­di­da­ten Mar­tin Schulz scharf angriff: »Die Sozi­al­de­mo­kra­ten sind in der Ver­gan­gen­heit ver­han­gen. Sie reden über Gerech­tig­keit, aber ver­ges­sen, dass Gerech­tig­keit ohne Inno­va­ti­on nicht klappt. Gerech­tig­keit und Inno­va­ti­on muss es hei­ßen.« Ein wenig sybil­li­nisch ist die­se Aus­sa­ge allerdings.

Aber gut, schließ­lich fan­den die Schwar­zen und die Blass­ro­ten doch zusam­men, wenn auch ohne Schulz, und in ihrem Koali­ti­ons­ver­trag wird »sozia­le Gerech­tig­keit« wohl einen zen­tra­len Platz ein­neh­men. Weit gefehlt! Der Begriff taucht zum ersten und damit auch zum letz­ten Mal in Zei­le 7218 auf. Hier for­mu­lier­ten die Koali­ti­ons­part­ner ihre außen­po­li­ti­schen Zie­le gegen­über Latein­ame­ri­ka. Dazu heißt es: »Neben Han­dels­fra­gen sind für uns Kli­ma­po­li­tik, Umwelt­schutz, sozia­le Gerech­tig­keit, eine fai­re Glo­ba­li­sie­rung sowie Sicher­heit und Frie­den zen­tra­le Punk­te unse­rer Koope­ra­ti­on.« End­lich geht es den Regie­rungs­par­tei­en ein­mal um sozia­le Gerech­tig­keit, wenn auch nur auf einem fer­nen Kontinent.

Aber war­um soll­te die Kanz­le­rin in ihren vie­len Reden für sozia­le Gerech­tig­keit ein­tre­ten, war­um soll­ten im Koali­ti­ons­ver­trag, also im Regie­rungs­pro­gramm, ent­spre­chen­de Maß­nah­men vor­ge­se­hen sein? In der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land ist doch gera­de auf die­sem Gebiet alles in bester Ord­nung. Selbst­ver­ständ­lich gibt es hier und da noch klei­ne Män­gel, aber ins­ge­samt sind die sozia­len Errun­gen­schaf­ten unbestreitbar.

So erhal­ten alle alten Men­schen Ren­te, wenn auch nicht in glei­cher Höhe. Nahe­zu jeder zwei­te Alters­rent­ner, also rund 8,6 Mil­lio­nen Bür­ge­rin­nen und Bür­ger der Bun­des­re­pu­blik, erhält monat­lich weni­ger als 800 Euro. Das ent­spricht einem Anteil von 48 Pro­zent aller Rent­ner. Gut 11,3 Mil­lio­nen oder 62 Pro­zent der Rent­ner erhal­ten weni­ger als 1000 Euro. Aber wer ein Leben lang flei­ßig war, muss im Alter nicht dar­ben. Das ist am Bei­spiel des Daim­ler-Chefs Die­ter Zet­sche gut zu sehen. Der flei­ßi­ge Mann geht im Mai in Ren­te. Er wird jähr­lich min­de­stens 1,05 Mil­lio­nen Euro Ruhe­ge­halt bezie­hen. Da er als Füh­rungs­kraft der Daim­ler AG Anspruch auf ange­sam­mel­te jähr­li­che Kapi­tal­bau­stei­ne hat, wird Herr Zet­sche eine zusätz­li­che jähr­li­che Ren­te von cir­ca 500.000 Euro erhal­ten. Falls er dar­auf nicht ver­zich­tet, was aller­dings nicht zu erwar­ten ist, erhält er sum­ma sum­ma­rum eine täg­li­che Ren­te von rund 4250 Euro. Wenn der Daim­ler-Chef kein leuch­ten­des Vor­bild für alle deut­schen Arbeit­neh­mer ist, wer dann?

Auch das Eigen­tum ist im bun­des­deut­schen Hei­mat­land recht unter­schied­lich ver­teilt. Wäh­rend die reich­sten zehn Pro­zent der Bevöl­ke­rung laut dem letz­ten Armuts- und Reich­tums­be­richt der Bun­des­re­gie­rung 51,9 Pro­zent des Net­to­ge­samt­ver­mö­gens besit­zen, kommt die ärme­re Hälf­te der Bevöl­ke­rung gera­de ein­mal auf ein Pro­zent. Nach EU-Maß­stä­ben sind 13,4 Mil­lio­nen Men­schen von Armut betrof­fen oder bedroht. Nach Anga­ben des Deut­schen Insti­tuts für Wirt­schafts­for­schung besit­zen die reich­sten 45 Fami­li­en mehr Ver­mö­gen als die ärme­re Hälf­te der Bevöl­ke­rung. Es bewahr­hei­tet sich die alte deut­sche Volks­weis­heit: »Sich regen, bringt Segen.«

Ja, der Kapi­ta­lis­mus sorgt ganz auto­ma­tisch für sozia­le Ver­hält­nis­se. So ist es ein­fach nicht nötig, dass die Kanz­le­rin die For­de­rung nach sozia­ler Gerech­tig­keit in ihren Wer­te­ka­ta­log auf­nimmt. Was bereits schön­ste Lebens­rea­li­tät ist, das muss nie­mand for­dern, auch nicht unse­re Noch-Regierungschefin.