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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Die Weisheit der Taverne

Ich stieg an Land – es han­del­te sich um Grie­chen­land, und ich hat­te mich ein wenig im Was­ser getum­melt –, blick­te um mich. In der Nähe wand sich eine Per­go­la ent­lang des Weges zur Trep­pe, die zum Strand führ­te. Sie hing ber­stend voll mit Bou­gain­vil­leen, die an den Sei­ten lan­ge Zwei­ge hin­un­ter streck­ten und licht­durch­flu­te­te Wän­de bil­de­ten. Unter dem über­wäl­ti­gen­den, berau­schen­den Rot der Blü­ten­pracht konn­ten nicht nur wir, son­dern hät­ten auch Sokra­tes und Pla­ton lust­wan­deln kön­nen, ihr berühm­tes Fra­ge- und Ant­wort­spiel treibend.
»Ich weiß, dass ich nichts weiß!«
»Was ist nichts?«
»Nichts ist alles, das Nichts ist groß und unendlich.«
»Ergo weiß ich viel?«
»Mög­lich.«
»Bist du dei­ner Zeit voraus?«
»Ich will es nicht selbst behaupten.«
»Das könn­te gefähr­lich werden.«
»Ich stim­me dir zu.«
»Also weiß auch ich, dass ich nichts weiß.«
»Sicher, du bist mein Schüler.«
»Ich könn­te eige­ne Ent­deckun­gen machen.«
»Ver­such es! Zum Bei­spiel in Syra­kus beim Tyrannen.«
»Das wäre eine Sisyphos-Aufgabe.«
»Was bleibt uns als der immer­wäh­ren­de Versuch?«
»Das stimmt. Doch wes­halb quält sich Sisyphos?«
»Um glück­lich zu sein!«
»Glück­lich?«
»Sicher, er schafft etwas, näm­lich den Stein nach oben. Immer wie­der. Er ist oft glück­lich. Stell dir vor, der Stein blie­be liegen! «
»Unvor­stell­bar. Aber was wäre zu errei­chen, was wäre erstrebenswert?«
»Für dich, für uns bei­de oder für alle?«
»Für die Menschheit.«
»Sozia­le Gerech­tig­keit, ein men­schen­wür­di­ges Leben.«
»Ver­ste­hen wir nicht alle etwas ande­res darunter?
„Es gibt Grundlegendes.«
»Zum Beispiel?«
»Genug zu essen und zu trin­ken, ein bezahl­ba­rer Arzt, eine Woh­nung, Freun­de, Musik und Tanz. Eine eigen­stän­di­ge, herr­schafts­kri­ti­sche Kul­tur für jede Nation.«
»Wie errei­chen wir das?«
»Nicht auf Kosten ande­rer. Das gemein­sam Erwirt­schaf­te­te muss gerecht ver­teilt werden.«
»Wer bestimmt das?«
»Wir. Der Demos.«
»Wann wird das sein?«
»Das weiß ich nicht. Viel­leicht, wenn die Mehr­heit der Men­schen es will.«
»Du sprachst vom Erwirtschafteten?«
»Ja, von Wirtschaft.«
»Dort hin­ten sehe ich das Schild einer herz­al­ler­lieb­sten Taverne.«
»Sehr gut, mein Sohn, lass uns die Schrit­te dort­hin lenken.«
»Toren besu­chen im frem­den Land die Muse­en, Wei­se gehen in die Tavernen.«
»Wer woll­te, selbst als Nicht­wis­sen­der, also Wei­ser, sich zu den Toren zählen!«
»Es heißt, im Wein läge Wahrheit.«
»Das ist mir beim letz­ten Mal nicht gut bekommen.«
»Es kann am schlech­ten Wein gele­gen haben, oder ist Wahr­heit gefährlich?«
»Träu­me und Wahr­hei­ten sind immer gefährlich.«
»Ich weiß.«
»Salu­te!«
Sie höben die Becher und wür­den sich zuprosten.