Das Urteil ist vernichtend, die Belege erdrückend: Es sei eine »epochale Fehlentscheidung« der Regierung Scholz/Habeck/Lindner gewesen, sich seit 2022 an den westlichen Sanktionen und der Entfesselung eines Wirtschaftskrieges gegen Russland an vorderster Front zu beteiligen. Der Preis dieses Versuchs, Deutschlands bis dahin wichtigsten Lieferanten preiswerter Energie zu »ruinieren«, wie Außenministerin Annalena Baerbock formuliert hatte, sei der »Niedergang« der deutschen Wirtschaft, schreibt Ossietzky-Autor Manfred Sohn in seinem neuen Buch »Die Sanktionsmaschine«.
Darin setzt er sich u. a. mit den aktuellen westlichen »Sanktionspaketen« gegen die Russische Föderation und deren Scheitern auseinander. Vor allem aber macht er die historische Entwicklung von Sanktionen als ökonomische Waffe des modernen Krieges verständlich, beleuchtet die einschlägigen völkerrechtlichen Bestimmungen, die Sanktionsregime gegen Kuba und Syrien, und er zeigt, wie zweischneidig das Sanktionsschwert ist: Der Wirtschaftskrieg nach außen wird zunehmend einer nach innen.
Unter Verweis auf die einschlägigen Wirtschaftsdaten und das Unvermögen des Westens, die strategische Partnerschaft zwischen Russland und China aufzubrechen, belegt Sohn, dass »die Ruinierungsstrategie der USANATOEU-Staaten« gegenüber Russland in »allen ihren drei Kernerwartungen gescheitert« ist. Weder sei der Wert des Rubels an den internationalen Märkten dauerhaft abgestürzt, noch sei es gelungen, Russland von seinen Hauptexportartikeln Gas und Öl abzuschneiden. Krachend misslungen sei auch der Versuch, Russland durch Verweigerung westlicher Maschinen, Dienstleistungen und Industrieanlagen technologisch »auszuhungern«. Die durch westliche Exportverbote in Russland gerissenen Lücken seien schnell »mit High-Tech-Waren« aus China und Produkten aus russischer Produktion geschlossen worden.
Der westliche Glaube an »die ewige, quasi gottgegebene technologische Überlegenheit der USA und der EU gegenüber dem Rest der Welt und namentlich dem russischen Volk« habe sich als »Hochmut« erwiesen, »der bekanntlich vor dem Fall kommt«. Während die russische Wirtschaft kräftig wachse, sei die »Anfangseuphorie« in Deutschland und im Westen über die Folgen des eigenen Sanktionsregimes »schon recht bald ernüchternden Einsichten in die Wirkung der eigenen Waffe« und deren verheerenden Bumerangeffekten gewichen. Aussicht auf wirtschaftliche Besserung gebe es hierzulande nicht. »Wer anderes sagt, betreibt Durchhaltepropaganda«, schreibt Sohn und wendet sich gegen Überlegungen der EU, die »Brandfackel« der Sanktionen nun auch noch gegen China werfen zu wollen.
Die Verantwortlichen im Westen hätten gewarnt sein können. Sohn macht darauf aufmerksam, dass das einflussreiche britische Wirtschaftsblatt The Economist am 19. Februar 2022, also einige Tage vor dem Einmarsch russischer Truppen in der Ukraine, gegen jene in Deutschland viel beschworenen »Zeitenwende« einschlägige Erkenntnisse publiziert hatte. Die Überschrift des Artikels lautete: »The wonks weapon? A new history of sanctions has unsettling lessons for today«, übersetzt: Die Waffe der Besessenen? Eine neue Geschichte der Sanktionen enthält für heute beunruhigende Lektionen.
Der Artikel setzte sich mit dem kurz zuvor erschienenen Buch »The Economic Weapon – the Rise of Sanctions as a Tool of Modern War« (Die ökonomische Waffe – der Aufstieg der Sanktionen als ein Mittel des modernen Krieges.) des an der US-amerikanischen Cornell-Universität lehrenden Professors für moderne europäische Gesichte, Nicholas Mulder, auseinander: Vor allem zwei Lektionen, so der Economist, erteile Mulders Buch: Sanktionen hätten meistens nicht das bewirkt, was ihre Schöpfer damit beabsichtigten, und sie hätten oft unbeabsichtigte Konsequenzen. Meistens würden sie »Öl ins Feuer gießen«.
Sohn macht Mulder Forschungsergebnisse für die Leser der »Sanktionsmaschine« auf knappem Raum nutzbar: In der Periode des aufsteigenden Kapitalismus seien die nationalen Bourgeoisien durchweg darauf bedacht gewesen, das Privateigentum vor den Folgen zwischenstaatlicher Kriege zu schützen. So habe beispielsweise die britische Regierung während des Krimkrieges mit Russland (1854-1856) alle mit der zaristischen Regierung eingegangenen Verpflichtungen penibel erfüllt. Mit dem zweiten Haager Vertrag von 1907 seien dann sogar international bindend alle ökonomischen Maßnahmen eines Staates gegen die Handelsbeziehungen eines anderen Staates als Teil einer kriegerischen Auseinandersetzung untersagt worden.
Dieses juristische Verbot wurde allerdings schon 1914 genauso missachtet wie später die völkerrechtlich bindenden Sanktionsbestimmungen, die 1919 in der Satzung des Völkerbundes und 1945 in der Charta der Vereinten Nationen aufgenommen worden sind.
Als ursächlich dafür beschreibt Sohn die Entwicklung des Kapitalismus zum Imperialismus, als Monopolkapital und Staatsmacht enge Verbindungen eingegangen sind. Zustimmend zitiert er Mulder: »Europas wachsender Imperialismus zertrümmerte die Mauer zwischen Krieg und Geschäft als einer der Fundamente der kapitalistischen Entstehungsgeschichte.«
Was das bedeutete, bekamen im Ersten Weltkrieg das deutsche und das österreichische Kaiserreich, aber auch neutrale Staaten schmerzhaft zu spüren. Denn mit Kriegsbeginn brachen Großbritannien und Frankreich den Haager Vertrag und andere Abkommen über den freien Handelsverkehr. Schrittweise brachten sie gegen ihre Gegner im Schießkrieg, so Sohn, »die Mutter« aller heutigen Sanktionsmaschinen in Stellung: eine am Ende fast totale Wirtschaftsblockade, der mehrere hunderttausend Hungertote in Zentraleuropa und in den Provinzen des Osmanischen Reiches zum Opfer fielen.
Gestützt auf die damals globale Dominanz des britischen Empire verschafften sich die Regierungen in London und Paris »in angestrengter Recherchearbeit aus Schiffsdokumenten und durch Auswertung von Wirtschaftszeitungen einen systematischen Überblick über die verwundbarsten Stellen der deutsch-österreichischen Kriegsmaschinerie«. So wurde beispielsweise die deutsche Stahlproduktion hart getroffen, als es den beiden Alliierten gelang, Deutschland von den zur Eisenveredelung notwendigen Mangan-Importen abzuschneiden. Beide Regierungen entwickelten große zivile Recherche- und Kontrollapparate, denen es im engen Zusammenspiel mit dem Einsatz der Kriegsmarine gelang, die Blockadepolitik erfolgreich zu orchestrieren und durchzusetzen.
Über die Weltwirtschaft wurde ein Netz aus Kontrollen geworfen, um »exakt das herauszufiltern, was der Gegenseite maximal schadet«, aber ohne gleichzeitig Gefahr zu laufen, den gesamten Waren- und Kapitaltransfer der damaligen Weltökonomie zum Stillstand zu bringen.
Notwendigerweise ignorierten die Sanktionierer dabei – damals wie heute – das Recht neutraler Länder, sich aus dem Krieg herauszuhalten. So gaben die Briten ihrem frisch gegründeten War Trade Department »das Recht, feindliches Eigentum und Investitionen des Feindes im gesamten Wirkungsbereich des britischen Empires zu konfiszieren«, schreibt Sohn. Ab 1917 sei dieses Gesetz dann dahingehend ausgeweitet worden, »dass alle in der City of London registrierten ausländischen Sicherheitseinlagen konfisziert werden konnten, und zwar nicht nur die der feindlichen, sondern auch die neutraler Staaten«. Deren Handelsschiffe gerieten dann auch ins Visier der deutschen Kriegsmarine, als die Regierung in Berlin ab 1915 versuchte, ihre drohende wirtschaftliche Erdrosselung mit einem totalen U-Boot-Krieg abzuwenden.
Hoffnung auf ein »Zerbrechen der Sanktionsmaschine«, dieser nur scheinbar humanen Alternative zum Schießkrieg, sieht Sohn in den weltpolitischen Kräfteverschiebungen der letzten Jahre, dem Schwinden der globalen Dominanz der USA und dem Aufstieg Chinas. Sohn attestiert der Regierung in Peking, mit einer kooperativen Politik der festen Überzeugung zu folgen, »dass die Menschheit allen Hindernissen zum Trotz zu einer solidarischen Weltschicksalsgemeinschaft zusammenwachsen wird«.
Manfred Sohn: Die Sanktionsmaschine. Eine Einführung, Mangroven Verlag, Kassel 2024, 130 S., 25 €.