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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Die Waffe der Besessenen

Das Urteil ist ver­nich­tend, die Bele­ge erdrückend: Es sei eine »epo­cha­le Fehl­ent­schei­dung« der Regie­rung Scholz/​Habeck/​Lindner gewe­sen, sich seit 2022 an den west­li­chen Sank­tio­nen und der Ent­fes­se­lung eines Wirt­schafts­krie­ges gegen Russ­land an vor­der­ster Front zu betei­li­gen. Der Preis die­ses Ver­suchs, Deutsch­lands bis dahin wich­tig­sten Lie­fe­ran­ten preis­wer­ter Ener­gie zu »rui­nie­ren«, wie Außen­mi­ni­ste­rin Anna­le­na Baer­bock for­mu­liert hat­te, sei der »Nie­der­gang« der deut­schen Wirt­schaft, schreibt Ossietzky-Autor Man­fred Sohn in sei­nem neu­en Buch »Die Sanktionsmaschine«.

Dar­in setzt er sich u. a. mit den aktu­el­len west­li­chen »Sank­ti­ons­pa­ke­ten« gegen die Rus­si­sche Föde­ra­ti­on und deren Schei­tern aus­ein­an­der. Vor allem aber macht er die histo­ri­sche Ent­wick­lung von Sank­tio­nen als öko­no­mi­sche Waf­fe des moder­nen Krie­ges ver­ständ­lich, beleuch­tet die ein­schlä­gi­gen völ­ker­recht­li­chen Bestim­mun­gen, die Sank­ti­ons­re­gime gegen Kuba und Syri­en, und er zeigt, wie zwei­schnei­dig das Sank­ti­ons­schwert ist: Der Wirt­schafts­krieg nach außen wird zuneh­mend einer nach innen.

Unter Ver­weis auf die ein­schlä­gi­gen Wirt­schafts­da­ten und das Unver­mö­gen des Westens, die stra­te­gi­sche Part­ner­schaft zwi­schen Russ­land und Chi­na auf­zu­bre­chen, belegt Sohn, dass »die Rui­nie­rungs­stra­te­gie der USA­NA­TO­EU-Staa­ten« gegen­über Russ­land in »allen ihren drei Kern­er­war­tun­gen geschei­tert« ist. Weder sei der Wert des Rubels an den inter­na­tio­na­len Märk­ten dau­er­haft abge­stürzt, noch sei es gelun­gen, Russ­land von sei­nen Haupt­ex­port­ar­ti­keln Gas und Öl abzu­schnei­den. Kra­chend miss­lun­gen sei auch der Ver­such, Russ­land durch Ver­wei­ge­rung west­li­cher Maschi­nen, Dienst­lei­stun­gen und Indu­strie­an­la­gen tech­no­lo­gisch »aus­zu­hun­gern«. Die durch west­li­che Export­ver­bo­te in Russ­land geris­se­nen Lücken sei­en schnell »mit High-Tech-Waren« aus Chi­na und Pro­duk­ten aus rus­si­scher Pro­duk­ti­on geschlos­sen worden.

Der west­li­che Glau­be an »die ewi­ge, qua­si gott­ge­ge­be­ne tech­no­lo­gi­sche Über­le­gen­heit der USA und der EU gegen­über dem Rest der Welt und nament­lich dem rus­si­schen Volk« habe sich als »Hoch­mut« erwie­sen, »der bekannt­lich vor dem Fall kommt«. Wäh­rend die rus­si­sche Wirt­schaft kräf­tig wach­se, sei die »Anfangs­eu­pho­rie« in Deutsch­land und im Westen über die Fol­gen des eige­nen Sank­ti­ons­re­gimes »schon recht bald ernüch­tern­den Ein­sich­ten in die Wir­kung der eige­nen Waf­fe« und deren ver­hee­ren­den Bume­rang­ef­fek­ten gewi­chen. Aus­sicht auf wirt­schaft­li­che Bes­se­rung gebe es hier­zu­lan­de nicht. »Wer ande­res sagt, betreibt Durch­hal­te­pro­pa­gan­da«, schreibt Sohn und wen­det sich gegen Über­le­gun­gen der EU, die »Brand­fackel« der Sank­tio­nen nun auch noch gegen Chi­na wer­fen zu wollen.

Die Ver­ant­wort­li­chen im Westen hät­ten gewarnt sein kön­nen. Sohn macht dar­auf auf­merk­sam, dass das ein­fluss­rei­che bri­ti­sche Wirt­schafts­blatt The Eco­no­mist am 19. Febru­ar 2022, also eini­ge Tage vor dem Ein­marsch rus­si­scher Trup­pen in der Ukrai­ne, gegen jene in Deutsch­land viel beschwo­re­nen »Zei­ten­wen­de« ein­schlä­gi­ge Erkennt­nis­se publi­ziert hat­te. Die Über­schrift des Arti­kels lau­te­te: »The won­ks wea­pon? A new histo­ry of sanc­tions has unsett­ling les­sons for today«, über­setzt: Die Waf­fe der Beses­se­nen? Eine neue Geschich­te der Sank­tio­nen ent­hält für heu­te beun­ru­hi­gen­de Lektionen.

Der Arti­kel setz­te sich mit dem kurz zuvor erschie­ne­nen Buch »The Eco­no­mic Wea­pon – the Rise of Sanc­tions as a Tool of Modern War« (Die öko­no­mi­sche Waf­fe – der Auf­stieg der Sank­tio­nen als ein Mit­tel des moder­nen Krie­ges.) des an der US-ame­ri­ka­ni­schen Cor­nell-Uni­ver­si­tät leh­ren­den Pro­fes­sors für moder­ne euro­päi­sche Gesich­te, Nicho­las Muld­er, aus­ein­an­der: Vor allem zwei Lek­tio­nen, so der Eco­no­mist, ertei­le Muld­ers Buch: Sank­tio­nen hät­ten mei­stens nicht das bewirkt, was ihre Schöp­fer damit beab­sich­tig­ten, und sie hät­ten oft unbe­ab­sich­tig­te Kon­se­quen­zen. Mei­stens wür­den sie »Öl ins Feu­er gießen«.

Sohn macht Muld­er For­schungs­er­geb­nis­se für die Leser der »Sank­ti­ons­ma­schi­ne« auf knap­pem Raum nutz­bar: In der Peri­ode des auf­stei­gen­den Kapi­ta­lis­mus sei­en die natio­na­len Bour­geoi­si­en durch­weg dar­auf bedacht gewe­sen, das Pri­vat­ei­gen­tum vor den Fol­gen zwi­schen­staat­li­cher Krie­ge zu schüt­zen. So habe bei­spiels­wei­se die bri­ti­sche Regie­rung wäh­rend des Krim­krie­ges mit Russ­land (1854-1856) alle mit der zari­sti­schen Regie­rung ein­ge­gan­ge­nen Ver­pflich­tun­gen peni­bel erfüllt. Mit dem zwei­ten Haa­ger Ver­trag von 1907 sei­en dann sogar inter­na­tio­nal bin­dend alle öko­no­mi­schen Maß­nah­men eines Staa­tes gegen die Han­dels­be­zie­hun­gen eines ande­ren Staa­tes als Teil einer krie­ge­ri­schen Aus­ein­an­der­set­zung unter­sagt worden.

Die­ses juri­sti­sche Ver­bot wur­de aller­dings schon 1914 genau­so miss­ach­tet wie spä­ter die völ­ker­recht­lich bin­den­den Sank­ti­ons­be­stim­mun­gen, die 1919 in der Sat­zung des Völ­ker­bun­des und 1945 in der Char­ta der Ver­ein­ten Natio­nen auf­ge­nom­men wor­den sind.

Als ursäch­lich dafür beschreibt Sohn die Ent­wick­lung des Kapi­ta­lis­mus zum Impe­ria­lis­mus, als Mono­pol­ka­pi­tal und Staats­macht enge Ver­bin­dun­gen ein­ge­gan­gen sind. Zustim­mend zitiert er Muld­er: »Euro­pas wach­sen­der Impe­ria­lis­mus zer­trüm­mer­te die Mau­er zwi­schen Krieg und Geschäft als einer der Fun­da­men­te der kapi­ta­li­sti­schen Entstehungsgeschichte.«

Was das bedeu­te­te, beka­men im Ersten Welt­krieg das deut­sche und das öster­rei­chi­sche Kai­ser­reich, aber auch neu­tra­le Staa­ten schmerz­haft zu spü­ren. Denn mit Kriegs­be­ginn bra­chen Groß­bri­tan­ni­en und Frank­reich den Haa­ger Ver­trag und ande­re Abkom­men über den frei­en Han­dels­ver­kehr. Schritt­wei­se brach­ten sie gegen ihre Geg­ner im Schieß­krieg, so Sohn, »die Mut­ter« aller heu­ti­gen Sank­ti­ons­ma­schi­nen in Stel­lung: eine am Ende fast tota­le Wirt­schafts­blocka­de, der meh­re­re hun­dert­tau­send Hun­ger­to­te in Zen­tral­eu­ro­pa und in den Pro­vin­zen des Osma­ni­schen Rei­ches zum Opfer fielen.

Gestützt auf die damals glo­ba­le Domi­nanz des bri­ti­schen Empire ver­schaff­ten sich die Regie­run­gen in Lon­don und Paris »in ange­streng­ter Recher­che­ar­beit aus Schiffs­do­ku­men­ten und durch Aus­wer­tung von Wirt­schafts­zei­tun­gen einen syste­ma­ti­schen Über­blick über die ver­wund­bar­sten Stel­len der deutsch-öster­rei­chi­schen Kriegs­ma­schi­ne­rie«. So wur­de bei­spiels­wei­se die deut­sche Stahl­pro­duk­ti­on hart getrof­fen, als es den bei­den Alli­ier­ten gelang, Deutsch­land von den zur Eisen­ver­ede­lung not­wen­di­gen Man­gan-Impor­ten abzu­schnei­den. Bei­de Regie­run­gen ent­wickel­ten gro­ße zivi­le Recher­che- und Kon­troll­ap­pa­ra­te, denen es im engen Zusam­men­spiel mit dem Ein­satz der Kriegs­ma­ri­ne gelang, die Blocka­de­po­li­tik erfolg­reich zu orche­strie­ren und durchzusetzen.

Über die Welt­wirt­schaft wur­de ein Netz aus Kon­trol­len gewor­fen, um »exakt das her­aus­zu­fil­tern, was der Gegen­sei­te maxi­mal scha­det«, aber ohne gleich­zei­tig Gefahr zu lau­fen, den gesam­ten Waren- und Kapi­tal­trans­fer der dama­li­gen Welt­öko­no­mie zum Still­stand zu bringen.

Not­wen­di­ger­wei­se igno­rier­ten die Sank­tio­nie­rer dabei – damals wie heu­te – das Recht neu­tra­ler Län­der, sich aus dem Krieg her­aus­zu­hal­ten. So gaben die Bri­ten ihrem frisch gegrün­de­ten War Trade Depart­ment »das Recht, feind­li­ches Eigen­tum und Inve­sti­tio­nen des Fein­des im gesam­ten Wir­kungs­be­reich des bri­ti­schen Empires zu kon­fis­zie­ren«, schreibt Sohn. Ab 1917 sei die­ses Gesetz dann dahin­ge­hend aus­ge­wei­tet wor­den, »dass alle in der City of Lon­don regi­strier­ten aus­län­di­schen Sicher­heits­ein­la­gen kon­fis­ziert wer­den konn­ten, und zwar nicht nur die der feind­li­chen, son­dern auch die neu­tra­ler Staa­ten«. Deren Han­dels­schif­fe gerie­ten dann auch ins Visier der deut­schen Kriegs­ma­ri­ne, als die Regie­rung in Ber­lin ab 1915 ver­such­te, ihre dro­hen­de wirt­schaft­li­che Erdros­se­lung mit einem tota­len U-Boot-Krieg abzuwenden.

Hoff­nung auf ein »Zer­bre­chen der Sank­ti­ons­ma­schi­ne«, die­ser nur schein­bar huma­nen Alter­na­ti­ve zum Schieß­krieg, sieht Sohn in den welt­po­li­ti­schen Kräf­te­ver­schie­bun­gen der letz­ten Jah­re, dem Schwin­den der glo­ba­len Domi­nanz der USA und dem Auf­stieg Chi­nas. Sohn atte­stiert der Regie­rung in Peking, mit einer koope­ra­ti­ven Poli­tik der festen Über­zeu­gung zu fol­gen, »dass die Mensch­heit allen Hin­der­nis­sen zum Trotz zu einer soli­da­ri­schen Welt­schick­sals­ge­mein­schaft zusam­men­wach­sen wird«.

Man­fred Sohn: Die Sank­ti­ons­ma­schi­ne. Eine Ein­füh­rung, Man­gro­ven Ver­lag, Kas­sel 2024, 130 S., 25 €.