Brigitte Reimann (1933-1973) war eine bemerkenswerte, schöne Frau und eine in der DDR bekannte Schriftstellerin. Obwohl sie jung gestorben ist, hat sie die Literatur des Landes mitgeprägt, bleibt sie unvergessen, auch dank der Entdeckung bisher unbekannter Texte.
Schon als Schülerin schrieb sie Laienspiele, die in ihrer Schule aufgeführt wurden. Sehr zeitig schloss sie sich einer vom Schriftstellerband der DDR geförderten Arbeitsgemeinschaft »Junger Autoren« an, die von erfahrenen Schriftstellern geleitet wurde. Sie wollte immer schreiben, und so war ihre berufliche Tätigkeit als Lehrerin von kurzer Dauer, dagegen die verschiedenen Bindungen an Verlage lang und spannungsreich. Sie schrieb Erzählungen, Hörspiele, Reportagen, Film-Vorlagen, probierte sich an dem Roman »Die Denunziantin« aus, von dem es vier Fassungen gibt, doch keine wurde in der DDR veröffentlicht. Mit »Das Geständnis« (1960), aber vor allem mit »Ankunft im Alltag« (1961) wurde sie bekannt. Letzteres schilderte die Probleme dreier Abiturienten, die in der Industrie die Praxis des Lebens erfahren, gleichsam im Alltag der DDR »ankommen«. Das Thema interessierte mehrere Autoren ihrer Generation, und ihre Bücher gingen als »Ankunftsliteratur« in die Literaturgeschichte ein. Es war die Zeit der »Bitterfelder Bewegung«, als kulturpolitisch eine enge Bindung zwischen Arbeitern und Künstlern propagiert wurde. Brigitte Reimann und ihr zweiter Ehemann Siegfried Pitschmann gingen nach Hoyerswerda, um Probleme in der Produktion (Kombinat Schwarze Pumpe) und der jungen Stadt kennenzulernen. Obwohl ihre Entscheidung als vorbildlich gewertet und gewürdigt wurde, entdeckte Brigitte Reimann rasch auch die Tücken des Projektes: Sie rieb sich an der Engstirnigkeit von Funktionären und kritisierte das Grau und die Eintönigkeit der neu entstehenden Stadt. Nach dem Roman »Die Geschwister« (1963), der die Westflucht eines jungen Ingenieurs thematisierte, wurde der Städtebau ihr Thema. Ihrer Architektin Franziska wollte sie all ihre Erfahrungen mit und Fragen nach dem aktuellen Bauen auf den Weg geben, aber auch ihr Hoffen und Zweifeln an der Gesellschaft. Es wurde ein großer Roman.
Doch nicht nur politische und kulturpolitische Erwägungen und Hindernisse hielten sie auf. Brigitte Reimann erkrankte an Krebs. Das Schreiben wurde eine große und lange Leidensgeschichte. Umzug, Scheidungen, neue Heiraten begleiteten und erschwerten die Arbeit am Roman, der zwar nicht gänzlich fertiggestellt werden konnte, aber doch eine Qualität erreichte, die die posthume Veröffentlichung (1974) zum Ereignis machte. Nach ihrem Tod war es dann die Publikation ihrer Tagebücher (1984, 1997, 1998), die ein neues Licht auf diese Frau warf. Akribisch hatte sie ihre Probleme, Wünsche und Erlebnisse festgehalten, und so war ein faszinierendes Bild des Lebens, Denken und Fühlens als leidenschaftliche, engagierte Sozialistin entstanden, das in ganz Deutschland die Gemüter erregte.
Nach fünfzig Jahren ist sie noch immer nicht vergessen. Im Gegenteil, wie die jetzt erschienene, große Biografie von Carsten Gansel belegt. 700 Seiten! Gansel ist gründlich, entdeckt die junge Schreiberin mit frühen Gedichten und sieht nicht nur Brigitte Reimann. Er vergleicht mit anderen Büchern, stellt die Autorin in die zeitgenössischen Geschehnisse (auch wenn sie gerade darüber nicht in ihren Tagebüchern oder Briefen reflektierte), er folgt ihr in ihren Freund- und Liebschaften und schreibt ganz nebenbei ein bisschen DDR-Historie und -Kultur- und Literaturgeschichte. Es war bestimmt nicht leicht, zwischen Distanz und Bewunderung den richtigen Ton zu finden. Gansel schafft es, und schuf wohl so einen neuen Höhepunkt in der Brigitte-Reimann-Rezeption.
Carsten Gansel: Ich bin so gierig nach Leben. Brigitte Reimann. Die Biografie, Aufbau Verlag, 704 S., 30 €.