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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Die Unvergessene

Bri­git­te Rei­mann (1933-1973) war eine bemer­kens­wer­te, schö­ne Frau und eine in der DDR bekann­te Schrift­stel­le­rin. Obwohl sie jung gestor­ben ist, hat sie die Lite­ra­tur des Lan­des mit­ge­prägt, bleibt sie unver­ges­sen, auch dank der Ent­deckung bis­her unbe­kann­ter Texte.

Schon als Schü­le­rin schrieb sie Lai­en­spie­le, die in ihrer Schu­le auf­ge­führt wur­den. Sehr zei­tig schloss sie sich einer vom Schrift­stel­ler­band der DDR geför­der­ten Arbeits­ge­mein­schaft »Jun­ger Autoren« an, die von erfah­re­nen Schrift­stel­lern gelei­tet wur­de. Sie woll­te immer schrei­ben, und so war ihre beruf­li­che Tätig­keit als Leh­re­rin von kur­zer Dau­er, dage­gen die ver­schie­de­nen Bin­dun­gen an Ver­la­ge lang und span­nungs­reich. Sie schrieb Erzäh­lun­gen, Hör­spie­le, Repor­ta­gen, Film-Vor­la­gen, pro­bier­te sich an dem Roman »Die Denun­zi­an­tin« aus, von dem es vier Fas­sun­gen gibt, doch kei­ne wur­de in der DDR ver­öf­fent­licht. Mit »Das Geständ­nis« (1960), aber vor allem mit »Ankunft im All­tag« (1961) wur­de sie bekannt. Letz­te­res schil­der­te die Pro­ble­me drei­er Abitu­ri­en­ten, die in der Indu­strie die Pra­xis des Lebens erfah­ren, gleich­sam im All­tag der DDR »ankom­men«. Das The­ma inter­es­sier­te meh­re­re Autoren ihrer Gene­ra­ti­on, und ihre Bücher gin­gen als »Ankunfts­li­te­ra­tur« in die Lite­ra­tur­ge­schich­te ein. Es war die Zeit der »Bit­ter­fel­der Bewe­gung«, als kul­tur­po­li­tisch eine enge Bin­dung zwi­schen Arbei­tern und Künst­lern pro­pa­giert wur­de. Bri­git­te Rei­mann und ihr zwei­ter Ehe­mann Sieg­fried Pitsch­mann gin­gen nach Hoyers­wer­da, um Pro­ble­me in der Pro­duk­ti­on (Kom­bi­nat Schwar­ze Pum­pe) und der jun­gen Stadt ken­nen­zu­ler­nen. Obwohl ihre Ent­schei­dung als vor­bild­lich gewer­tet und gewür­digt wur­de, ent­deck­te Bri­git­te Rei­mann rasch auch die Tücken des Pro­jek­tes: Sie rieb sich an der Eng­stir­nig­keit von Funk­tio­nä­ren und kri­ti­sier­te das Grau und die Ein­tö­nig­keit der neu ent­ste­hen­den Stadt. Nach dem Roman »Die Geschwi­ster« (1963), der die West­flucht eines jun­gen Inge­nieurs the­ma­ti­sier­te, wur­de der Städ­te­bau ihr The­ma. Ihrer Archi­tek­tin Fran­zis­ka woll­te sie all ihre Erfah­run­gen mit und Fra­gen nach dem aktu­el­len Bau­en auf den Weg geben, aber auch ihr Hof­fen und Zwei­feln an der Gesell­schaft. Es wur­de ein gro­ßer Roman.

Doch nicht nur poli­ti­sche und kul­tur­po­li­ti­sche Erwä­gun­gen und Hin­der­nis­se hiel­ten sie auf. Bri­git­te Rei­mann erkrank­te an Krebs. Das Schrei­ben wur­de eine gro­ße und lan­ge Lei­dens­ge­schich­te. Umzug, Schei­dun­gen, neue Hei­ra­ten beglei­te­ten und erschwer­ten die Arbeit am Roman, der zwar nicht gänz­lich fer­tig­ge­stellt wer­den konn­te, aber doch eine Qua­li­tät erreich­te, die die post­hu­me Ver­öf­fent­li­chung (1974) zum Ereig­nis mach­te. Nach ihrem Tod war es dann die Publi­ka­ti­on ihrer Tage­bü­cher (1984, 1997, 1998), die ein neu­es Licht auf die­se Frau warf. Akri­bisch hat­te sie ihre Pro­ble­me, Wün­sche und Erleb­nis­se fest­ge­hal­ten, und so war ein fas­zi­nie­ren­des Bild des Lebens, Den­ken und Füh­lens als lei­den­schaft­li­che, enga­gier­te Sozia­li­stin ent­stan­den, das in ganz Deutsch­land die Gemü­ter erregte.

Nach fünf­zig Jah­ren ist sie noch immer nicht ver­ges­sen. Im Gegen­teil, wie die jetzt erschie­ne­ne, gro­ße Bio­gra­fie von Car­sten Gan­sel belegt. 700 Sei­ten! Gan­sel ist gründ­lich, ent­deckt die jun­ge Schrei­be­rin mit frü­hen Gedich­ten und sieht nicht nur Bri­git­te Rei­mann. Er ver­gleicht mit ande­ren Büchern, stellt die Autorin in die zeit­ge­nös­si­schen Gescheh­nis­se (auch wenn sie gera­de dar­über nicht in ihren Tage­bü­chern oder Brie­fen reflek­tier­te), er folgt ihr in ihren Freund- und Lieb­schaf­ten und schreibt ganz neben­bei ein biss­chen DDR-Histo­rie und -Kul­tur- und Lite­ra­tur­ge­schich­te. Es war bestimmt nicht leicht, zwi­schen Distanz und Bewun­de­rung den rich­ti­gen Ton zu fin­den. Gan­sel schafft es, und schuf wohl so einen neu­en Höhe­punkt in der Brigitte-Reimann-Rezeption.

Car­sten Gan­sel: Ich bin so gie­rig nach Leben. Bri­git­te Rei­mann. Die Bio­gra­fie, Auf­bau Ver­lag, 704 S., 30 €.