Im Dezember 2023 einigten sich Bundesregierung und Bundesländer, für Asylbewerber eine elektronische Bezahlkarte einzuführen, mit der Überweisungen in Herkunftsländer nicht mehr möglich sein würden. Inzwischen ist es so weit. Die ersten Bundesländer starten ihre Pilot-Projekte. Seit Monaten wird in der öffentlichen Diskussion das Gerücht kolportiert, dass Asylsuchende von dem Geld, das sie vom deutschen Sozialstaat zur Sicherung ihres Existenzminimums erhalten, erhebliche Summen nach Hause überweisen. 410 Euro erhalten alleinstehende Asylbewerber, wovon aber das Geld für Essen abgezogen wird, wenn sie in einer Sammelunterkunft wohnen und verpflichtet sind, dort zu essen. Niemand weiß, in welchem Umfang Asylbewerber Geld nach Hause überweisen. Im SPIEGEL vom 21.10.2023 war von Überweisungen von Migranten in ihre Herkunftsländer zu lesen; damit waren aber alle Migranten gemeint, also vor allem anerkannte Asylanten und legal eingereiste Migranten, die hier einer Erwerbstätigkeit nachgehen und natürlich Geld an ihre Familien überweisen. »Wie hoch der Anteil ist, der von Asylsuchenden versendet wird, ist nicht erfasst. Er dürfte angesichts der Leistungssätze von 410 Euro pro Erwachsenen und Monat gering ausfallen, vermuten Experten.«
Die Bezahlkartenpolitik beruht also auf keinerlei auch nur einigermaßen gesicherten Erkenntnissen, wie man es von einer vernunftorientierten Politik erwarten würde, sondern lediglich auf einem Gerücht und böswilliger Unterstellung. Ihr liegt ein allgemeines Ressentiment zugrunde, das sich schon in der Behauptung von Friedrich Merz über die 3000 ausreisepflichtigen Asylbewerber, die den Deutschen die Zahnarzttermine wegnähmen, zeigte, oder auch in Söders Statement: »Es kann nicht sein, dass jemand, der bei uns ist, quasi eine Art Asylgehalt bekommt und davon dann noch perfekt leben und die gesamte Heimat finanzieren kann.« Das ist keine wahlkampfübliche Übertreibung mehr, sondern Hetze im Stil der AfD. Wie geht das »perfekte Leben« in einer Container-Sammelunterkunft? Wie »finanziert« man »die gesamte Heimat« von den paar Euro, die am Ende des Monats vielleicht – wenig wahrscheinlich – noch übrigbleiben?
Die eigentlich interessante Frage jedoch ist, weshalb fast alle Politiker aller staatstragenden Parteien gegenwärtig so sehr fremdenfeindliche Ressentiments bedienen. Eine sehr plausible Vermutung ist, dass wir es mit einer Art Ersatzpolitik zu tun haben, da die Politik nicht mehr in der Lage ist, die wirklich drängenden Probleme zu lösen, etwa den katastrophalen Mangel an bezahlbarem Wohnraum, die steigenden Energie- und Lebensmittelpreise, den Pflegenotstand, die 400 000 fehlenden Kitaplätze, die marode Infrastruktur bei Bahn und Autobahnbrücken, die chronische Unterfinanzierung des Bildungssystems, zunehmende Altersarmut und wachsende Abstiegsängste. Zwar können in einer Demokratie oppositionelle Parteien stets behaupten, sie würden es besser machen als die augenblickliche Regierung – doch daran glaubt kaum noch jemand. Also bedient man gemeinsam (die einen lautstark, die anderen etwas leiser) die tiefsitzenden Ressentiments der Bevölkerung. Antisemitismus scheidet inzwischen aus, aber Fremdenfeindlichkeit geht immer, vor allem, wenn sie sich koppeln lässt mit den Vorurteilen gegen »Sozialschmarotzer«. So schreibt etwa die Frankfurter Allgemein Zeitung (am 4.10.2023): »Missbrauch durch Migranten. Die Aushöhlung des Sozialstaats«. Und Hubert Aiwanger spricht genauso wie Alice Weidel von den »Nichtsnutzen« in unserer Gesellschaft, die sich weigerten zu arbeiten, obwohl sie könnten. Gewiss gibt es solche auch, aber sie sind keine wirklich relevante Größe. Die durch sie verursachten Kosten sind ein winziger Bruchteil des Schadens, der dem Staat durch den massenhaften Cum-Ex-Betrug entstand und durch die unter Wohlhabenden ganz normale und euphemistisch »Steueroptimierung« genannte Steuervermeidung oder durch Hinterziehung jährlich verursacht wird. Die Bezahlkarte ist die staatlich-institutionelle Manifestation des Ressentiments.
Populisten tun sich immer leicht, etwas zu einem Problem aufzubauschen, wenn bereits ein Ressentiment – basierend auf der Angst, man könnte von irgendjemandem ausgenutzt werden – vorhanden ist. So versuchen sie zu punkten. Auch der bayerische Ministerpräsident gehört immer wieder dazu. In der BILD am Sonntag (vom 4.2.2024) brüstet er sich: »Unsere Bezahlkarte kommt schneller und ist härter.« Sie solle nur in der Nähe der Unterkunft genutzt werden können und für ein stark eingeschränktes Warensortiment gelten. Und er geht ins Detail: »Es können nur noch Waren in Geschäften des täglichen Gebrauchs gekauft werden. Wir stoppen Online-Shopping, Glücksspiel und Überweisungen ins Ausland. Bargeld gibt es nur noch als kleines Taschengeld bis 50 Euro.« Man spürt förmlich Söders schwelgende Begeisterung für das, was Peter Sloterdijk in einem Interview 2015 die im Umgang mit Geflüchteten nötige »wohltemperierte Grausamkeit« nannte. (Ein Ausdruck, den Björn Höcke 2018 in seinem Buch dankbar und gern übernahm.) Hier zeigt sich auch das so oft gepriesene »christliche Menschenbild« der Unionsparteien. Lange Zeit wurde Marxisten ja vorgehalten, dass die von ihnen vertretene Lehre mit Schuld sei am diktatorischen System des Stalinismus. Sie hätten erwidern müssen, dass Marx so wenig mit Stalin zu tun hat wie Jesus mit den sich christlich nennenden Parteien.
Halbwegs bekannt ist heutzutage noch das Gleichnis vom barmherzigen Samariter im Lukas-Evangelium, mit dem Jesus die völlige Bedeutungslosigkeit von Nationalität und ethnischer Zugehörigkeit in der zwischenmenschlichen Beziehung unterstreicht. Wenige allerdings wissen, welche Worte Jesus im Matthäus-Evangelium dem beim »Weltgericht« am Ende der Zeit alle Menschen richtenden Gott in den Mund legt: »Wahrlich, ich sage euch: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.« Und: »Geht weg von mir, ihr Verfluchten. (…) Denn ich bin ein Fremder gewesen, und ihr habt mich nicht aufgenommen.« Söder und Konsorten müssten sich angesprochen fühlen. Aber sie kennen wahrscheinlich den Text nicht. Oder tun sie nur so? Es spielt keine Rolle, verflucht sind sie so oder so.