War es der 30. Jahrestag seines Todes am 12. Februar 1989 oder eher ein Satz wie dieser: »Es dauert nicht mehr lange, bis die Nazis wieder an der Macht sind«, der das Hamburger Schauspielhaus dazu brachte, einen ganzen Abend Thomas Bernhard zu widmen? »Die Übriggebliebenen« entstand aus den Stücken »Vor dem Ruhestand« und »Ritter, Dene, Voss« sowie aus dem späten Prosawerk »Auslöschung. Ein Zerfall«. Bearbeitet von Rita Thiele und Karin Henkel, die auch Regie führte. Gemeinsamkeiten in den drei Texten aufzuspüren mag faszinierend gewesen sein, für die Zuschauer weniger. Das trägt zur Verwirrung bei und schafft gegenüber den Einzelstücken keinen Erkenntnisgewinn. Die Konstellationen der Figuren sind gleich: drei Geschwisterpaare, zu den beiden Schwestern kommt ein Bruder von außen hinzu. Die Eltern sind gestorben, doch beherrschen sie die Nachkommen durch ihren autoritären Geist mit der Mischung aus Katholizismus und Faschismus, der sie wie ein klebriges Gewebe umhüllt, noch immer.
In »Auslöschung« sind die kürzlich verunglückten Eltern hinten auf der Bühne sichtbar aufgebahrt. Die Schwestern, zwei alte Damen in schwarzen Kleidchen, agieren wie Bestatterinnen: Amalia (Brigitte Cuvelier) und Caecilia, von einem Mann (Jean Chaize) dargestellt. Ihre Trauerpantomimen: todernst komisch. Dazu ein gemischter Kinderchor mit erbaulichen Liedern, magisch beleuchtet. Alles in einem düsteren Haus mit Spitzdach, in drei Ebenen, vollgestellt mit Spielzeug (Bühne, Muriel Gerstner, Selina Puorger). Die Requisiten signalisieren: im Infantilismus steckengeblieben. Der Bruder Franz-Josef Murau (Tilman Strauß), der nach Rom geflüchtet war, um der erstickenden Atmosphäre im Elternhaus, dem Schloss Wolfsegg, zu entfliehen, er kehrt zur Bestattung zurück. Bezeichnend, dass er immer wieder die Fenster aufreißt – frische Luft für sein krankes Herz? Nein, um sich hinauszustürzen. Er kennt jene Übriggebliebenen der NS-Zeit genau, sie wurden von seinen Eltern im Schloss nach Kriegsende versteckt, bis ihre Zeit erneut kam und das Vergessen regierte. Der Ekel vor dem elterlichen Erbe, das Murau antreten soll, beherrscht ihn so sehr, dass er nur noch daran denkt, alles auszulöschen – auch sich selbst.
Im anderen Geschwisterstück »Ritter, Dene, Voss« – benannt nach den Schauspielern der Erstaufführung – kehrt ein Bruder zurück vom Aufenthalt in einer psychiatrischen Anstalt, der paradoxerweise auch eine Flucht sein sollte aus dem Familiengefängnis, das nur noch in einem Gegeneinander, jeder gegen jeden, besteht. Die Schwestern, Dene (Bettina Stucky) und Ritter (Gala Othero Winter), bereiten ein Festessen vor. Der Bruder wird als Philosoph gesehen, dem man seine Marotten verzeiht. Er heißt Ludwig, nach Wittgenstein. Gespielt wird er von einer Frau: Lina Beckmann, die alle Register des absurd Komischen zieht, was ablenkt, verwirrt: Wer sagt was? Die drei Stücke fließen ineinander. Wenn von Ludwigs Anstalt Steinhof gesprochen wird, schiebt sich eine Szene des dritten Stücks »Vor dem Ruhestand« dazwischen. In eine Anstalt hätte die behinderte Schwester Clara (auch wieder männlich: Jan-Peter Kampwirth) eigentlich gehört, heißt es. Ihre Leistung, den ganzen Abend in gebückter Haltung zu verharren – nicht im Rollstuhl – bewundernswert. Dabei fixiert sie – mit halbgeschorenem Kopf – das Publikum und schweigt zu den Angriffen ihrer Schwester Vera (Angelika Richter). Die bereitet alles für diesen besonderen Festtag vor, den 7. Oktober. Es ist Himmlers Geburtstag. Noch muss er heimlich gefeiert werden, aber »eines Tages kannst du ganz offen darüber reden«, tröstet Vera den heimkehrenden Bruder Rudolf Höller, Gerichtspräsident und ehemaliger SS-Offizier. Schwester Vera bringt alles auf Hochglanz, seinen Talar, seine SS-Uniform, seine Stiefel. Sie liebt den Bruder – nicht nur platonisch. Gespräch über Ärzte. Es war Dr. Fromm, der Rudolf einen »stellvertretenden Lagerkommandanten« genannt hatte. Im Prinzip hat er ja nichts gegen Juden – aber »man merkt da gleich, dass er Jude ist«, denn als er, Rudolf, Claras Unglück kurz vor Kriegsende, eine Mine, »Terrorangriff« nannte, sei Dr. Fromm sichtlich erregt gewesen. Darauf eine Szene mit Murau, der weiß, wer einem Arzt glaube, sei verloren. Zurück zu Rudolf und Clara. »Solche wie du«, er sagt es ohne Scheu, »hätten wir in unserer Zeit ganz einfach vergast.« Sie könne froh sein, dass sie heute mal nicht die alte KZ-Jacke anziehen muss. Wie sonst immer am 7. Oktober. Vera schiebt die Schwester immer mal zur Seite, so dass Clara umfällt. Die familiären Grausamkeiten sind wie ein Virus, der alle ansteckt.
Nach der Pause stehen drei weißgedeckte Tische auf der Bühne. Dazu das gute Geschirr oder eine Urne – für den geistigen Genuss? Bettina Stucky tischt Unmengen von Brandteig-Krapfen auf, die Ludwig verschlingt, bis ihm alles wieder hochkommt. Komisch? Genauso Sätze über braune Soße, die alles überzieht. Das Publikum lacht. Clara sitzt am Tisch auf einem alten Schaukelpferd wie ein Kind. Neben ihr serviert Vera Kalbsmedaillons, die Clara ablehnt. Das Blättern im alten Fotoalbum vereint Vera und Rudolf. Sie: »So schöne Menschen …, dass man solche schönen Menschen umbringen kann.« Rudolf: »Im Krieg gibt es kein Gefühl.« Später: »Die war aus Warschau, die ist dann gleich vergast worden.« In Auschwitz hatten sie Höß besucht, Himmler ist nicht gekommen. Dann ein Satz von Ludwig oder von Murau: »Wir sind ein Volk der Gefühllosigkeit.« Sie trinken Fürst-von-Metternich-Sekt – wie damals. Sie werden immer ausgelassener. Rudolf holt sein Gewehr, darf leider nicht zum Fenster hinaus ballern. Noch nicht. Jetzt nicht auffällig werden. Vera, die den Bruder versteckt hatte nach dem Krieg, beruhigt ihn. Nun zieht er auch noch die Pistole aus dem Halfter, setzt sie Clara ans Genick. Kommentar zu einem Foto: »Das war die Hinrichtung. Diese paar habe ich eigenhändig erschossen, weil kein anderer da war.«
Clara steht auf, gebückt, starrt ins Publikum. Rudolf stürzt zu Boden: Herzinfarkt. Vera denkt an die SS-Uniform, die muss sie ihm abziehen, bevor der Arzt kommt. Panik.
Thomas Bernhard schrieb sein Stück ein Jahr vor dem Mauerfall. Wir leben heute. Wie hatte Rudolf kurz zuvor beim Glas Metternich gesagt: »Warte nur ab / die Zeit kommt wo wir es wieder zeigen können / Es spricht alles dafür dass wir es wieder zeigen können und nicht nur zeigen.«