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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Die Seelenlandschaften des Edvard Munch

Wir alle ken­nen Munchs »Der Schrei« – zwi­schen 1893 und 1910 ist er in vier Gemäl­den und einer Litho­gra­fie dar­ge­stellt wor­den: ein gespen­sti­sches mensch­li­ches Wesen mit weit auf­ge­ris­se­nem Mund ange­sichts eines »blut­ro­ten« Son­nen­un­ter­gangs. Wie Schall­wel­len brei­tet sich die Far­be über das gan­ze Bild aus. Die­ses Motiv ist dann als die berühm­te­ste Dar­stel­lung exi­sten­zi­el­ler Angst über­haupt bezeich­net wor­den. Munch will die­ses unheil­dro­hen­de Natur­schau­spiel selbst erlebt haben: »Ich fühl­te, wie ein gewal­ti­ger, end­lo­ser Schrei durch die Natur ging.«

Schon in sei­nen frü­hen Bil­dern spiel­te der Gedan­ke des Natur­kreis­laufs von Leben und Ver­ge­hen eine wesent­li­che Rol­le. In Asgard­strand, einem klei­nen Fischer­dorf an einem Fjord außer­halb von Kri­stia­nia (heu­te Oslo), hat­te er ein Som­mer­ate­lier. Die­sen Küsten­strei­fen mach­te er zu einer der sym­bol­haf­ten Land­schaf­ten des moder­nen Gei­stes und zum Sinn­bild der Ent­frem­dung, Ver­lo­ren­heit und Sehnsucht.

Der Mensch und die Natur – die­sem bis­her kaum beach­te­ten The­ma in der Werk­welt des nor­we­gi­schen Malers wid­met sich die Aus­stel­lung »Munch. Lebens­land­schaft« im Pots­da­mer Muse­um Bar­be­ri­ni. Noch bis Ende Janu­ar 2024 zeigt zudem die Ber­li­ni­sche Gale­rie in ihrer Aus­stel­lung »Edvard Munch. Zau­ber des Nor­dens« wesent­li­che Aspek­te sei­nes Wer­kes: ab 1889 die melan­cho­li­schen Bil­der der Ein­sam­keit und Aus­weg­lo­sig­keit, die Män­ner­bild­nis­se um 1909 im Monu­men­tal­stil, die natur­na­hen Wer­ke mit kla­rem nor­di­schem Licht um 1911. Vor allem aber der Ber­li­ner Zeit Munchs sucht man hier gerecht zu wer­den. So kön­nen gegen­wär­tig in Pots­dam wie in Ber­lin die Dimen­sio­nen des Schaf­fens eines der bedeu­tend­sten Künst­ler der Moder­ne in all sei­nen viel­fäl­ti­gen Facet­ten erlebt wer­den. Denn Munch war es in ein­zig­ar­ti­ger Wei­se gelun­gen, die Stil­mit­tel des Impres­sio­nis­mus, die Farb­ge­walt der Fau­ves, einer Bewe­gung der fran­zö­si­schen Avant­gar­de, mit den zen­tra­len Inhal­ten sei­ner unru­hi­gen See­le, die ewig um Tod, Leben, Angst und Hoff­nung krei­sten, zu einem ganz eige­nen Stil zu verbinden.

Wie hat Munch die Natur erlebt, fragt man in Pots­dam. Wie hat er das The­ma Mensch und Umwelt bewäl­tigt? Die Land­schaft erhält nicht nur ein »wogen­des, pul­sie­ren­des« Eigen­le­ben, son­dern Munchs Figu­ren pro­ji­zie­ren auch ihre Gefüh­le in die Land­schaft hin­ein. Die­se wur­de für ihn von den 1880er Jah­ren bis zu sei­nem Lebens­en­de ein Schau­platz von Sze­nen der Eifer­sucht, Anzie­hung, Ein­sam­keit und Angst. Für den Künst­ler ver­wan­del­ten sich die Ufer­li­ni­en in »Lebens­li­ni­en, die sich stän­dig ver­än­dern«. Wie leben­de Gebil­de muten die Küsten- und Was­ser­land­schaft in »Mond­schein« (1895) und »Som­mer­nacht am Strand« (1902/​03) an, der Künst­ler wie auch der Betrach­ter befin­den sich außer­halb des Bil­des. Das Gemäl­de »Los­lö­sung« (1896) wie die gleich­na­mi­ge Litho­gra­fie zei­gen eine schmerz­be­weg­te, schwarz geklei­de­te männ­li­che Figur, wäh­rend eine Frau­en­ge­stalt im wei­ßen Kleid dem Was­ser zuschrei­tet. Ihr Haar haf­tet noch – wie elek­tro­sta­tisch auf­ge­la­den – an dem Mann, doch der Saum ihres Klei­des geht bereits in die geschwun­ge­ne Küsten­li­nie über. Die Kon­tu­ren im Kon­trast des Hel­len und Dunk­len berich­ten von dem See­len­dra­ma eines schwe­ren Abschieds. Dage­gen wir­ken »Zwei Men­schen. Die Ein­sa­men« (1899), in Rücken­an­sicht, den Oze­an betrach­tend, in ihren Bewe­gun­gen wie fest­ge­fro­ren, nicht sie, son­dern der Küsten­strei­fen wirkt belebt. Die Land­schaft als Sinn­bild für Ent­frem­dung, Ver­lo­ren­heit, Sehn­sucht, Hin­ter­grund des bedrücken­den See­len­zu­stan­des des Künst­lers. Hier wie in »Melan­cho­lie« (in meh­re­ren Ver­sio­nen, 1896-1902) sind die Figu­ren sil­hou­et­ten­haft gegen die Land­schaft gesetzt. »Som­mer­nachts­traum. Die Stim­me« (1893) – eine Frau, vor die typi­sche Asgard-Land­schaft mit hori­zon­ta­ler Strand­li­nie und Bäu­men als Ver­ti­ka­len gestellt; die Trieb­kraft ihres Ver­lan­gens wird durch einen Licht­strahl der Son­ne in Phal­lus­form ver­kör­pert, den das Was­ser reflektiert.

Such­te Munch zunächst eine male­ri­sche Tie­fen­wir­kung zu ent­wickeln, den Betrach­ter ins Bild hin­ein­zu­zie­hen, ver­wen­de­te er spä­ter opti­sche Ver­zer­run­gen, wie sie für Weit­win­kel­ob­jek­ti­ve cha­rak­te­ri­stisch sind, und ließ die For­men aus sich selbst her­vor­tre­ten. Man hat den Ein­druck, als wür­den die Figu­ren selbst aus dem Bild her­aus­stre­ben – nun schau­en sie nicht mehr in den Bild­raum hin­ein, son­dern aus dem Bild her­aus und den Betrach­ter an.

»Vier Mäd­chen auf der Brücke« (1905, es gibt allein von die­sem Sujet 7 Vari­an­ten), mit dem Rücken dem Betrach­ter zuge­wandt, sind in einen strah­len­den Farb­ak­kord aus Weiß und Rot, Hell­grün und Blau ein­ge­hüllt, der sich in der Umwelt wider­spie­gelt. Die Figu­ren sind in sich gekehrt, mit ihren eige­nen Pro­ble­men beschäf­tigt. Dage­gen hält Munch mit den »Damen auf der Brücke« (1903, hier lie­gen 5 Vari­an­ten vor), mit­ein­an­der im Gespräch, die Erwach­se­nen-Welt fest. Es obliegt dem Betrach­ter, die Ver­bin­dung zwi­schen dem Innen der Figur und dem Außen der Land­schaft her­zu­stel­len. Munch such­te sein Ver­hält­nis zur Welt in dem »moder­nen See­len­le­ben«, wie er sag­te, er lote­te die mensch­li­che Psy­che, inner­see­li­sche und zwi­schen­mensch­li­che Kon­flik­te im Dia­log, aber auch in Kon­tro­ver­se mit der Land­schaft aus.

Der Tat­sa­che, dass Munch wich­ti­ge Moti­ve und Bild­the­men wie­der­holt hat, ist erst nach dem 2008 erschie­ne­nen Werk­ver­zeich­nis sei­ner Gemäl­de grö­ße­re Auf­merk­sam­keit geschenkt wor­den. Kann man das aus Munchs eige­nem Werk­ver­ständ­nis erklä­ren – sein Erin­nern von Erleb­nis­ein­drücken und Farb­stim­mun­gen – oder viel­leicht auch aus kom­mer­zi­el­len und prak­ti­schen Grün­den? Bereits 1890 sag­te Munch: »Ich male nicht, was ich sehe – son­dern was ich sah.« Und an ande­rer Stel­le: »Ich baue das eine Bild auf dem ande­ren auf.« Er hat sich selbst als ein von Erin­ne­run­gen gelei­te­ter Künst­ler dar­ge­stellt. Das ist auch der Sinn sei­nes »Lebens­frie­ses«, der von Anfang an als eine offe­ne Rei­he über die Lebens­the­men Lie­be, Angst und Tod ange­legt ist und sein Lebens­werk aus­macht. Ja, es ent­steht etwas Zykli­sches, kei­ne ein­ma­li­ge Fixie­rung des Sicht­ba­ren, son­dern das Bild erscheint als Reihe …

Den Abschluss der Aus­stel­lung bil­den die Ent­wür­fe der Wand­bil­der der Aula der Uni­ver­si­tät Oslo, deren Leit­the­ma das Licht der Erkennt­nis ist, prä­sen­tiert in der »Son­ne« (1911), die ihre pris­ma­ti­schen Strah­len über die Land­schaft, die Küste des Oslo­fjords, aus­gießt. Ein­ge­bet­tet in ein strah­lend leuch­ten­des Uni­ver­sum ste­hen jun­ge und alte Gene­ra­ti­on für die Ver­schmel­zung des Men­schen mit der gestal­ten­den Kraft der Natur. Die Land­schaf­ten, die die männ­li­che Figur in »Die Geschich­te« (1912/​13) und die Frau in »Alma Mater« (1914/​15?) umge­ben, ste­hen in Har­mo­nie mit ihnen und tra­gen gleich­zei­tig etwas Eige­nes zum Bild bei. Dage­gen stellt Munch in der »Son­ne« (1911) sym­bol­haft die lebens­spen­den­de Quel­le des Lichts dar. Das Pan­ora­ma der Strand­land­schaft wird von einer Viel­zahl von Strah­len­bün­deln – kon­zen­tri­schen Krei­sen gleich – erfüllt.

Zwan­zig Jah­re lie­gen »Der Schrei« und »Die Son­ne« aus­ein­an­der. Sie kön­nen als Gegen­stücke ver­stan­den wer­den. So das Fazit die­ser so bewe­gen­den Schau: Im »Schrei« lebt die Natur im Men­schen wie der Mensch in der Natur, bei­de wir­ken gegen­sei­tig auf­ein­an­der ein. Dage­gen bricht »Die Son­ne« wie ein orphi­sches Licht monu­men­tal her­vor und gießt ihre Strah­len über die Land­schaft aus, ist Grund­la­ge alles irdi­schen Lebens und Vor­aus­set­zung für die Ent­fal­tung des Menschen.

Munch. Lebens­land­schaft. Muse­um Bar­be­ri­ni, Pots­dam, Alter Markt, Mo 10-19 Uhr /​ Mi-So, 9-19 Uhr, bis 1. April 2024. 
Kata­log (Pre­stel Ver­lag Mün­chen) 39,90 €.