Wir alle kennen Munchs »Der Schrei« – zwischen 1893 und 1910 ist er in vier Gemälden und einer Lithografie dargestellt worden: ein gespenstisches menschliches Wesen mit weit aufgerissenem Mund angesichts eines »blutroten« Sonnenuntergangs. Wie Schallwellen breitet sich die Farbe über das ganze Bild aus. Dieses Motiv ist dann als die berühmteste Darstellung existenzieller Angst überhaupt bezeichnet worden. Munch will dieses unheildrohende Naturschauspiel selbst erlebt haben: »Ich fühlte, wie ein gewaltiger, endloser Schrei durch die Natur ging.«
Schon in seinen frühen Bildern spielte der Gedanke des Naturkreislaufs von Leben und Vergehen eine wesentliche Rolle. In Asgardstrand, einem kleinen Fischerdorf an einem Fjord außerhalb von Kristiania (heute Oslo), hatte er ein Sommeratelier. Diesen Küstenstreifen machte er zu einer der symbolhaften Landschaften des modernen Geistes und zum Sinnbild der Entfremdung, Verlorenheit und Sehnsucht.
Der Mensch und die Natur – diesem bisher kaum beachteten Thema in der Werkwelt des norwegischen Malers widmet sich die Ausstellung »Munch. Lebenslandschaft« im Potsdamer Museum Barberini. Noch bis Ende Januar 2024 zeigt zudem die Berlinische Galerie in ihrer Ausstellung »Edvard Munch. Zauber des Nordens« wesentliche Aspekte seines Werkes: ab 1889 die melancholischen Bilder der Einsamkeit und Ausweglosigkeit, die Männerbildnisse um 1909 im Monumentalstil, die naturnahen Werke mit klarem nordischem Licht um 1911. Vor allem aber der Berliner Zeit Munchs sucht man hier gerecht zu werden. So können gegenwärtig in Potsdam wie in Berlin die Dimensionen des Schaffens eines der bedeutendsten Künstler der Moderne in all seinen vielfältigen Facetten erlebt werden. Denn Munch war es in einzigartiger Weise gelungen, die Stilmittel des Impressionismus, die Farbgewalt der Fauves, einer Bewegung der französischen Avantgarde, mit den zentralen Inhalten seiner unruhigen Seele, die ewig um Tod, Leben, Angst und Hoffnung kreisten, zu einem ganz eigenen Stil zu verbinden.
Wie hat Munch die Natur erlebt, fragt man in Potsdam. Wie hat er das Thema Mensch und Umwelt bewältigt? Die Landschaft erhält nicht nur ein »wogendes, pulsierendes« Eigenleben, sondern Munchs Figuren projizieren auch ihre Gefühle in die Landschaft hinein. Diese wurde für ihn von den 1880er Jahren bis zu seinem Lebensende ein Schauplatz von Szenen der Eifersucht, Anziehung, Einsamkeit und Angst. Für den Künstler verwandelten sich die Uferlinien in »Lebenslinien, die sich ständig verändern«. Wie lebende Gebilde muten die Küsten- und Wasserlandschaft in »Mondschein« (1895) und »Sommernacht am Strand« (1902/03) an, der Künstler wie auch der Betrachter befinden sich außerhalb des Bildes. Das Gemälde »Loslösung« (1896) wie die gleichnamige Lithografie zeigen eine schmerzbewegte, schwarz gekleidete männliche Figur, während eine Frauengestalt im weißen Kleid dem Wasser zuschreitet. Ihr Haar haftet noch – wie elektrostatisch aufgeladen – an dem Mann, doch der Saum ihres Kleides geht bereits in die geschwungene Küstenlinie über. Die Konturen im Kontrast des Hellen und Dunklen berichten von dem Seelendrama eines schweren Abschieds. Dagegen wirken »Zwei Menschen. Die Einsamen« (1899), in Rückenansicht, den Ozean betrachtend, in ihren Bewegungen wie festgefroren, nicht sie, sondern der Küstenstreifen wirkt belebt. Die Landschaft als Sinnbild für Entfremdung, Verlorenheit, Sehnsucht, Hintergrund des bedrückenden Seelenzustandes des Künstlers. Hier wie in »Melancholie« (in mehreren Versionen, 1896-1902) sind die Figuren silhouettenhaft gegen die Landschaft gesetzt. »Sommernachtstraum. Die Stimme« (1893) – eine Frau, vor die typische Asgard-Landschaft mit horizontaler Strandlinie und Bäumen als Vertikalen gestellt; die Triebkraft ihres Verlangens wird durch einen Lichtstrahl der Sonne in Phallusform verkörpert, den das Wasser reflektiert.
Suchte Munch zunächst eine malerische Tiefenwirkung zu entwickeln, den Betrachter ins Bild hineinzuziehen, verwendete er später optische Verzerrungen, wie sie für Weitwinkelobjektive charakteristisch sind, und ließ die Formen aus sich selbst hervortreten. Man hat den Eindruck, als würden die Figuren selbst aus dem Bild herausstreben – nun schauen sie nicht mehr in den Bildraum hinein, sondern aus dem Bild heraus und den Betrachter an.
»Vier Mädchen auf der Brücke« (1905, es gibt allein von diesem Sujet 7 Varianten), mit dem Rücken dem Betrachter zugewandt, sind in einen strahlenden Farbakkord aus Weiß und Rot, Hellgrün und Blau eingehüllt, der sich in der Umwelt widerspiegelt. Die Figuren sind in sich gekehrt, mit ihren eigenen Problemen beschäftigt. Dagegen hält Munch mit den »Damen auf der Brücke« (1903, hier liegen 5 Varianten vor), miteinander im Gespräch, die Erwachsenen-Welt fest. Es obliegt dem Betrachter, die Verbindung zwischen dem Innen der Figur und dem Außen der Landschaft herzustellen. Munch suchte sein Verhältnis zur Welt in dem »modernen Seelenleben«, wie er sagte, er lotete die menschliche Psyche, innerseelische und zwischenmenschliche Konflikte im Dialog, aber auch in Kontroverse mit der Landschaft aus.
Der Tatsache, dass Munch wichtige Motive und Bildthemen wiederholt hat, ist erst nach dem 2008 erschienenen Werkverzeichnis seiner Gemälde größere Aufmerksamkeit geschenkt worden. Kann man das aus Munchs eigenem Werkverständnis erklären – sein Erinnern von Erlebniseindrücken und Farbstimmungen – oder vielleicht auch aus kommerziellen und praktischen Gründen? Bereits 1890 sagte Munch: »Ich male nicht, was ich sehe – sondern was ich sah.« Und an anderer Stelle: »Ich baue das eine Bild auf dem anderen auf.« Er hat sich selbst als ein von Erinnerungen geleiteter Künstler dargestellt. Das ist auch der Sinn seines »Lebensfrieses«, der von Anfang an als eine offene Reihe über die Lebensthemen Liebe, Angst und Tod angelegt ist und sein Lebenswerk ausmacht. Ja, es entsteht etwas Zyklisches, keine einmalige Fixierung des Sichtbaren, sondern das Bild erscheint als Reihe …
Den Abschluss der Ausstellung bilden die Entwürfe der Wandbilder der Aula der Universität Oslo, deren Leitthema das Licht der Erkenntnis ist, präsentiert in der »Sonne« (1911), die ihre prismatischen Strahlen über die Landschaft, die Küste des Oslofjords, ausgießt. Eingebettet in ein strahlend leuchtendes Universum stehen junge und alte Generation für die Verschmelzung des Menschen mit der gestaltenden Kraft der Natur. Die Landschaften, die die männliche Figur in »Die Geschichte« (1912/13) und die Frau in »Alma Mater« (1914/15?) umgeben, stehen in Harmonie mit ihnen und tragen gleichzeitig etwas Eigenes zum Bild bei. Dagegen stellt Munch in der »Sonne« (1911) symbolhaft die lebensspendende Quelle des Lichts dar. Das Panorama der Strandlandschaft wird von einer Vielzahl von Strahlenbündeln – konzentrischen Kreisen gleich – erfüllt.
Zwanzig Jahre liegen »Der Schrei« und »Die Sonne« auseinander. Sie können als Gegenstücke verstanden werden. So das Fazit dieser so bewegenden Schau: Im »Schrei« lebt die Natur im Menschen wie der Mensch in der Natur, beide wirken gegenseitig aufeinander ein. Dagegen bricht »Die Sonne« wie ein orphisches Licht monumental hervor und gießt ihre Strahlen über die Landschaft aus, ist Grundlage alles irdischen Lebens und Voraussetzung für die Entfaltung des Menschen.
Munch. Lebenslandschaft. Museum Barberini, Potsdam, Alter Markt, Mo 10-19 Uhr / Mi-So, 9-19 Uhr, bis 1. April 2024.
Katalog (Prestel Verlag München) 39,90 €.