Bélas Koffer steht im Erker, schon seit Wochen. Seit dem Tag, als wir endgültig beschlossen, dass er zum neuen Schuljahr 2031/32 ins Internat wechseln sollte.
Wir hatten die Entscheidung monatelang hinausgezögert, hatten diskutiert, neu nachgedacht, stumm beisammengesessen, uns angebrüllt und geweint, Béla, sein Vater – Florian – und ich. Dann musste mein Mann zu einer Reserveübung, und am Abend vor seiner Abreise einigten wir uns darauf, dass der Junge noch in diesem Jahr seine Ausbildung in der Lehranstalt beginnen sollte. Béla stimmte zu, unter Tränen.
Ehe Florian am nächsten Tag das Haus verließ, unterzeichnete er die Anmeldung, und dann gingen mein Sohn und ich den Koffer kaufen. Es war sein erster eigener Koffer. Der Junge war noch nicht acht Jahre alt.
Fast postwendend kam die Zusage vom Internat, zusammen mit einer Liste der Sachen, die mitzubringen waren. Die Uniform würde gestellt. Das Internat war eine Militärschule. In all unsren Ängsten und Sorgen gab es einen Trost: Béla würde nicht allein gehen. Sein bester Freund Seiji sollte die Ausbildung gleichzeitig beginnen. Auch Seiji wollte Musiker werden.
Seine Eltern hatten monatelang nach anderen Möglichkeiten gesucht, genau wie wir. Während dieser Zeit war uns erst bewusst geworden, wie sehr unser Land sich verändert hatte. Es war erst wenige Jahre her, dass ein Kanzler das Wort von der Zeitenwende geprägt hatte. Danach hatten Medien und Politiker begonnen, uns unmerklich an den Gedanken an Krieg zu gewöhnen. Unmerklich, aber systematisch. Dann hieß es, unsre Gesellschaft müsse kriegstüchtig gemacht werden. Ein Veteranentag zu Ehrung und Wertschätzung der Truppe wurde eingeführt. Die Militarisierung erfasste bald alle Bereiche. Die Schritte der Ostermarschierer waren ungehört verhallt.
Gleichzeitig wurden kulturelle Angebote zusammengestrichen, Theater geschlossen, Sinfonieorchester abgebaut, musische Fächer in schulischen Lehrplänen reduziert und bald ganz abgeschafft, Gelder in Rüstungsausgaben umgeleitet. Das große Zeitungs- und Verlagssterben vernichtete das gedruckte Wort, die anderen Medien berichteten nur noch über Kriege, Erdbeben und Sportereignisse. Dann wurden Werkstätten und Fabriken zum Instrumentenbau dicht gemacht, angeblich aus Umweltschutzgründen: »Kein Wald soll sterben für ein Klavier!« »In jedem Geigensolo schluchzt ein Baum!« Doch niemand sprach öffentlich von dem gewaltigen Energiehunger gigantischer Rechenzentren.
Vor dieser Entwicklung hätte man Béla und Seiji als musikalische Wunderkinder gefördert. Jetzt aber konnten wir trotz monatelanger Suche keine Ausbildungsmöglichkeit für die Beiden finden. Musikschulen und -hochschulen waren unbemerkt verschwunden, Traditionen und Instrumente vernichtet.
Die Beiden spielten fast jeden Tag zusammen, schon seit Jahren. Manchmal mit Karten und Bällen, aber meistens Klavier und Cello. Doch seit jeder ein Kornett bekommen hatte, sprachen sie mit immer größerer Sehnsucht von den schönen Trompeten und von der Zeit, wo sie für ein solches Instrument groß genug sein würden. Wir hofften, dass diese Sehnsucht sich noch immer in der Regimentsmusik erfüllen ließe. Denn die Militärschule war mittlerweile die einzige Möglichkeit, eine musikalische Ausbildung zu bekommen.
Béla und ich arbeiteten inzwischen schon seit Wochen an seinem Koffer. Wir packten aus und wieder ein, und manchmal standen wir nur davor und starrten hinein. Der Junge schlief jetzt nachts im Bett neben mir; ich wusste nicht, wann Florian zurückkommen würde, die Reservistenübungen dauerten jedes Mal länger. Wir sprachen nicht mehr über das Internat, denn jedem von uns stiegen bei diesem Thema die Tränen im Hals immer höher.
Auch Seiji wirkte mit jedem Tag unglücklicher. Wenn die Beiden musizierten, entstanden oft lange Pausen, und das Kornett erklang fast niemals mehr. Es ist schwer zu spielen, wenn man eigentlich weinen muss. Dennoch schien der Nachbarsjunge zuversichtlicher als mein Sohn. Zuweilen hörte ich ihn lachen, dann wieder versuchte er irgendeinen musikalischen Spaß und ermunterte Béla zum Mitmachen. Vorgestern brachte er Noten zu Variationen über »Kommt ein Vogel geflogen« mit – im Stil von Verdi, Wagner und Strauss. Zwei Stunden amüsierten sich die Jungs damit. Ich war so erleichtert.
Aber gestern Morgen zog Béla nach dem Aufstehen rasch die Decke zurück über die Matratze, und eiliger als sonst verschwand er im Bad. Ich schlug das Oberbett wieder auf, ohne nachzudenken; das Laken war nass. Der große dunkle Fleck war ein Abgrund und ich stürzte hinein, mitten hinein ins Entsetzen. Im Bruchteil von Sekunden spielte sich vor meinen Augen ab, was meinem Kleinen bevorstand, wenn ihm dasselbe in der Militärschule passierte, im Schlafraum mit andern – einem Jungen von fast acht. Kinder waren schon immer grausam.
Doch in dem Augenblick erschien mein Sohn in der Tür. Er schaute mich direkt an, ich sah, dass er etwas sagen wollte, und dann sagte er es, leise, aber ganz deutlich: »Ich bin dann ja nicht alleine. Seiji ist doch bei mir.«
Letzte Nacht wurde ich wach, weil das Telefon klingelte. Ich blieb liegen, um Béla nicht zu wecken. Er schlief so ruhig. Es klingelte lange. Nach einer kurzen Pause fing es wieder an. Ich hielt eine ganze Weile durch, aber schließlich bin ich doch aufgestanden.
Seijis Mutter war am Apparat. Sie weinte nicht. Ihre Stimme war ganz leise, wie aus weiter Ferne.
»Seiji ist tot«, sagte sie. »Er ist vom Balkon gesprungen. Er hatte zu große Angst.«
Ich konnte nicht antworten. Es wurde ganz still.
Dann habe ich doch etwas gesagt.
»Er ist nicht umsonst gestorben.«
Seitdem bin ich rastlos tätig. Zuerst habe ich die Absage an die Militärschule geschrieben und noch in der Nacht in den Briefkasten gebracht. Ich lasse meinen Sohn nicht allein dorthin.
Jetzt sitze ich am Tisch in meiner Küche und schreibe Listen. Was ich tun kann, wen ich sprechen muss, wer mir helfen wird. Zuerst muss ich mich um Bélas Musikunterricht kümmern. All die Pianisten, Dirigenten und Trompeter, die ihre Stellung verloren haben – sie können doch nicht vom Erdboden verschwunden sein! Dann muss ich andere finden, denen auch gerade bewusst wird, was mit uns geschieht. Dass die schönen Trompeten verstummt sind. Dass die schöne Welt zerstört wird. Wir müssen uns wehren, ehe der Krieg uns frisst.
Bélas Koffer steht noch immer im Erker. Wir haben ihn gemeinsam wieder ausgepackt, aber nicht fortgeräumt. Er soll dort bleiben, mit aufgeklapptem Deckel. Wie ein offener Schlund.