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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Die schönen Trompeten blasen nicht mehr

Bélas Kof­fer steht im Erker, schon seit Wochen. Seit dem Tag, als wir end­gül­tig beschlos­sen, dass er zum neu­en Schul­jahr 2031/​32 ins Inter­nat wech­seln sollte.

Wir hat­ten die Ent­schei­dung mona­te­lang hin­aus­ge­zö­gert, hat­ten dis­ku­tiert, neu nach­ge­dacht, stumm bei­sam­men­ge­ses­sen, uns ange­brüllt und geweint, Béla, sein Vater – Flo­ri­an – und ich. Dann muss­te mein Mann zu einer Reser­ve­übung, und am Abend vor sei­ner Abrei­se einig­ten wir uns dar­auf, dass der Jun­ge noch in die­sem Jahr sei­ne Aus­bil­dung in der Lehr­an­stalt begin­nen soll­te. Béla stimm­te zu, unter Tränen.

Ehe Flo­ri­an am näch­sten Tag das Haus ver­ließ, unter­zeich­ne­te er die Anmel­dung, und dann gin­gen mein Sohn und ich den Kof­fer kau­fen. Es war sein erster eige­ner Kof­fer. Der Jun­ge war noch nicht acht Jah­re alt.

Fast post­wen­dend kam die Zusa­ge vom Inter­nat, zusam­men mit einer Liste der Sachen, die mit­zu­brin­gen waren. Die Uni­form wür­de gestellt. Das Inter­nat war eine Mili­tär­schu­le. In all uns­ren Äng­sten und Sor­gen gab es einen Trost: Béla wür­de nicht allein gehen. Sein bester Freund Sei­ji soll­te die Aus­bil­dung gleich­zei­tig begin­nen. Auch Sei­ji woll­te Musi­ker werden.

Sei­ne Eltern hat­ten mona­te­lang nach ande­ren Mög­lich­kei­ten gesucht, genau wie wir. Wäh­rend die­ser Zeit war uns erst bewusst gewor­den, wie sehr unser Land sich ver­än­dert hat­te. Es war erst weni­ge Jah­re her, dass ein Kanz­ler das Wort von der Zei­ten­wen­de geprägt hat­te. Danach hat­ten Medi­en und Poli­ti­ker begon­nen, uns unmerk­lich an den Gedan­ken an Krieg zu gewöh­nen. Unmerk­lich, aber syste­ma­tisch. Dann hieß es, uns­re Gesell­schaft müs­se kriegs­tüch­tig gemacht wer­den. Ein Vete­ra­nen­tag zu Ehrung und Wert­schät­zung der Trup­pe wur­de ein­ge­führt. Die Mili­ta­ri­sie­rung erfass­te bald alle Berei­che. Die Schrit­te der Oster­mar­schie­rer waren unge­hört verhallt.

Gleich­zei­tig wur­den kul­tu­rel­le Ange­bo­te zusam­men­ge­stri­chen, Thea­ter geschlos­sen, Sin­fo­nie­or­che­ster abge­baut, musi­sche Fächer in schu­li­schen Lehr­plä­nen redu­ziert und bald ganz abge­schafft, Gel­der in Rüstungs­aus­ga­ben umge­lei­tet. Das gro­ße Zei­tungs- und Ver­lags­ster­ben ver­nich­te­te das gedruck­te Wort, die ande­ren Medi­en berich­te­ten nur noch über Krie­ge, Erd­be­ben und Sport­er­eig­nis­se. Dann wur­den Werk­stät­ten und Fabri­ken zum Instru­men­ten­bau dicht gemacht, angeb­lich aus Umwelt­schutz­grün­den: »Kein Wald soll ster­ben für ein Kla­vier!« »In jedem Gei­gen­so­lo schluchzt ein Baum!« Doch nie­mand sprach öffent­lich von dem gewal­ti­gen Ener­gie­hun­ger gigan­ti­scher Rechenzentren.

Vor die­ser Ent­wick­lung hät­te man Béla und Sei­ji als musi­ka­li­sche Wun­der­kin­der geför­dert. Jetzt aber konn­ten wir trotz mona­te­lan­ger Suche kei­ne Aus­bil­dungs­mög­lich­keit für die Bei­den fin­den. Musik­schu­len und -hoch­schu­len waren unbe­merkt ver­schwun­den, Tra­di­tio­nen und Instru­men­te vernichtet.

Die Bei­den spiel­ten fast jeden Tag zusam­men, schon seit Jah­ren. Manch­mal mit Kar­ten und Bäl­len, aber mei­stens Kla­vier und Cel­lo. Doch seit jeder ein Kor­nett bekom­men hat­te, spra­chen sie mit immer grö­ße­rer Sehn­sucht von den schö­nen Trom­pe­ten und von der Zeit, wo sie für ein sol­ches Instru­ment groß genug sein wür­den. Wir hoff­ten, dass die­se Sehn­sucht sich noch immer in der Regi­ments­mu­sik erfül­len lie­ße. Denn die Mili­tär­schu­le war mitt­ler­wei­le die ein­zi­ge Mög­lich­keit, eine musi­ka­li­sche Aus­bil­dung zu bekommen.

Béla und ich arbei­te­ten inzwi­schen schon seit Wochen an sei­nem Kof­fer. Wir pack­ten aus und wie­der ein, und manch­mal stan­den wir nur davor und starr­ten hin­ein. Der Jun­ge schlief jetzt nachts im Bett neben mir; ich wuss­te nicht, wann Flo­ri­an zurück­kom­men wür­de, die Reser­vi­sten­übun­gen dau­er­ten jedes Mal län­ger. Wir spra­chen nicht mehr über das Inter­nat, denn jedem von uns stie­gen bei die­sem The­ma die Trä­nen im Hals immer höher.

Auch Sei­ji wirk­te mit jedem Tag unglück­li­cher. Wenn die Bei­den musi­zier­ten, ent­stan­den oft lan­ge Pau­sen, und das Kor­nett erklang fast nie­mals mehr. Es ist schwer zu spie­len, wenn man eigent­lich wei­nen muss. Den­noch schien der Nach­bars­jun­ge zuver­sicht­li­cher als mein Sohn. Zuwei­len hör­te ich ihn lachen, dann wie­der ver­such­te er irgend­ei­nen musi­ka­li­schen Spaß und ermun­ter­te Béla zum Mit­ma­chen. Vor­ge­stern brach­te er Noten zu Varia­tio­nen über »Kommt ein Vogel geflo­gen« mit – im Stil von Ver­di, Wag­ner und Strauss. Zwei Stun­den amü­sier­ten sich die Jungs damit. Ich war so erleichtert.

Aber gestern Mor­gen zog Béla nach dem Auf­ste­hen rasch die Decke zurück über die Matrat­ze, und eili­ger als sonst ver­schwand er im Bad. Ich schlug das Ober­bett wie­der auf, ohne nach­zu­den­ken; das Laken war nass. Der gro­ße dunk­le Fleck war ein Abgrund und ich stürz­te hin­ein, mit­ten hin­ein ins Ent­set­zen. Im Bruch­teil von Sekun­den spiel­te sich vor mei­nen Augen ab, was mei­nem Klei­nen bevor­stand, wenn ihm das­sel­be in der Mili­tär­schu­le pas­sier­te, im Schlaf­raum mit andern – einem Jun­gen von fast acht. Kin­der waren schon immer grausam.

Doch in dem Augen­blick erschien mein Sohn in der Tür. Er schau­te mich direkt an, ich sah, dass er etwas sagen woll­te, und dann sag­te er es, lei­se, aber ganz deut­lich: »Ich bin dann ja nicht allei­ne. Sei­ji ist doch bei mir.«

Letz­te Nacht wur­de ich wach, weil das Tele­fon klin­gel­te. Ich blieb lie­gen, um Béla nicht zu wecken. Er schlief so ruhig. Es klin­gel­te lan­ge. Nach einer kur­zen Pau­se fing es wie­der an. Ich hielt eine gan­ze Wei­le durch, aber schließ­lich bin ich doch aufgestanden.

Sei­jis Mut­ter war am Appa­rat. Sie wein­te nicht. Ihre Stim­me war ganz lei­se, wie aus wei­ter Ferne.

»Sei­ji ist tot«, sag­te sie. »Er ist vom Bal­kon gesprun­gen. Er hat­te zu gro­ße Angst.«

Ich konn­te nicht ant­wor­ten. Es wur­de ganz still.

Dann habe ich doch etwas gesagt.

»Er ist nicht umsonst gestorben.«

Seit­dem bin ich rast­los tätig. Zuerst habe ich die Absa­ge an die Mili­tär­schu­le geschrie­ben und noch in der Nacht in den Brief­ka­sten gebracht. Ich las­se mei­nen Sohn nicht allein dorthin.

Jetzt sit­ze ich am Tisch in mei­ner Küche und schrei­be Listen. Was ich tun kann, wen ich spre­chen muss, wer mir hel­fen wird. Zuerst muss ich mich um Bélas Musik­un­ter­richt küm­mern. All die Pia­ni­sten, Diri­gen­ten und Trom­pe­ter, die ihre Stel­lung ver­lo­ren haben – sie kön­nen doch nicht vom Erd­bo­den ver­schwun­den sein! Dann muss ich ande­re fin­den, denen auch gera­de bewusst wird, was mit uns geschieht. Dass die schö­nen Trom­pe­ten ver­stummt sind. Dass die schö­ne Welt zer­stört wird. Wir müs­sen uns weh­ren, ehe der Krieg uns frisst.

Bélas Kof­fer steht noch immer im Erker. Wir haben ihn gemein­sam wie­der aus­ge­packt, aber nicht fort­ge­räumt. Er soll dort blei­ben, mit auf­ge­klapp­tem Deckel. Wie ein offe­ner Schlund.

 

 

Ausgabe 15.16/2024