Das Ruhrgebiet ist eine der vielfältigsten Kulturlandschaften in Europa, nur dass sich diese Tatsache im Ranking bundesdeutscher Städte niemals niederschlägt und folglich viel zu wenig bekannt ist. Da belegen Dortmund, Bochum, Essen und so weiter unter 30 ausgewählten Städten stets die Abstiegsränge. Rein formal haben diejenigen, die solche Tabellen aufstellen, zwar recht, aber sie liegen trotzdem weit daneben, weil sie vom Ruhrgebiet nichts verstehen. Und zwar gar nichts. Dortmund hat eine Oper, ein tolles Ballett, ein Theater, aber kein Eisenbahnmuseum. Das hat Bochum, daneben ein Spitzentheater, und das seit Jahrzehnten, aber kein Ikonenmuseum. Das wiederum hat Recklinghausen, dem allerdings ein Lehmbruckmuseum für Skulpturen und Plastiken wie in Duisburg fehlt. Man könnte die Liste lange fortsetzen. Warum um Himmels willen soll im Ruhrgebiet jede Stadt alles haben, wo das doch in der nächsten, keine zwanzig Kilometer entfernt, längst vorhanden ist. Köln hat so weit alles, auch Hamburg, aber da fehlt auch jedes kulturelle Umfeld. Was es in der Stadt nicht gibt, gibt‘s auch nicht im Umfeld. Aber im Ruhrgebiet ist das anders. Es ist nicht untypisch, dass die Ruhrgebietsstädte so eingeordnet werden, sie haben mit uralten Klischees zu kämpfen.
Dass es hier nicht mehr verstaubt und dreckig ist, haben inzwischen wenigstens einige kapiert, wir leben nicht mehr auf einer Kohlehalde, auch wenn man als Zuschauer des Dortmund-Tatorts genau das denken muss. Da spielen die Handlungen in Bruchbuden mit Protagonisten, die schon morgens besoffen sind. Und das durchgängig. Gut, Problemviertel gibt es im Ruhrgebiet, und zwar genug. Aber wo, leider, gibt es die nicht! Der Dortmunder Oberbürgermeister hat neulich gegen einen dieser Tatortkrimis beim WDR protestiert, ich habe seinen Protest unterstützt, aber er war noch viel zu zahm. Ich glaube nicht, dass die ARD es wagen würde, solche Krimis in Stuttgart oder München zu drehen.
Als ich mal Schriftsteller durch den verrufenen Dortmunder Norden führte, sagte mir die englische Kollegin, dass dies in Leeds ein Viertel für »higher level« sei. Genauso urteilte die Autorin Petra Reski, die aus dem Ruhrgebiet stammt und in Venedig lebt. Problemviertel in Italien sähen entschieden anders aus, ergänzte sie, dreckiger nämlich und kaputter.
Aber dann kommt plötzlich eine andere Statistik zum Tragen, die allerdings kaum bekannt ist. Unter den grünsten Städten in Deutschland befinden sich, las ich neulich, gleich mehrere aus dem Ruhrgebiet. Selbst das hoch verschuldete Oberhausen kam hier tatsächlich gut weg, da staunten selbst die Ruhrgebietler.
Warum sich manche Vorurteile bis hin in Fernsehserien so hartnäckig halten, hat allerdings auch mit dem Ruhrgebiet selbst zu tun. Die Kulturlandschaft ist sehr entwickelt, aber sie lebt zu wenig in der Bevölkerung. Anne Sophie Mutter hat mal geurteilt, der beste Klangraum in der Republik sei das Konzerthaus in Dortmund, der OB lässt – zu Recht – keine Gelegenheit aus, das zu betonen, aber wer im Ruhrgebiet weiß das schon? Es geht an der Bevölkerung vorbei, eher hört man, dass man viel zu viel Geld für das Konzerthaus ausgegeben habe. So etwas wird dann bei uns stets mit sozialen Argumenten untermauert. Denk mal an die Kindergärten und die Schulen, was man da mit all dem Geld anfangen könnte, höre ich oft. Dass Kultur ein wichtiger Faktor im Zusammenleben ist, muss sich im Ruhrgebiet erst noch durchsetzen.
Dabei gibt sich das Konzerthaus ganz und gar nicht elitär. Orchestermusiker schwirren in die Nordstadt aus und fordern die Menschen, die aus mehr als 50 Ländern hierhergezogen sind, auf, ihre Instrumente zu holen und gemeinsam mit ihnen Musik zu machen. Ein tolles Programm ist entstanden, und als es im vollen Konzerthaus aufgeführt wurde, bestand die Hälfte der Zuhörer aus Menschen mit Migrationshintergrund. Wir gehören zusammen, wurde hier eindrucksvoll demonstriert, aber irgendwie bleibt trotzdem nicht viel hängen, vor allem nicht dauerhaft.
Dortmund hat seit ein paar Jahren ein Literaturhaus, ein kleines, aber es ist schwierig, selbst das mit Lesungen zu füllen. Die Struktur ist da, aber sie lebt, wie gesagt, nicht richtig in den Menschen.
»Wat willze mit dat Buch«, sagt mir jemand, dem ich meinen neuen Roman schmackhaft machen möchte. Ja, was will ich damit? Dass er es liest natürlich, denn es behandelt Themen, die ihn betreffen. Max von der Grün hat jahrzehntelang in seinen Romanen die Probleme der Arbeiter im Revier thematisiert, er hat ihre Position bezogen, hat sich für sie reingehängt und die Arbeiter literaturfähig gemacht, aber gelesen werden nicht mehr »Irrlicht und Feuer« oder »Stellenweise Glatteis«, sondern der Jugendroman »Vorstadtkrokodile«.
Das hat mit unserem schwach entwickelten Selbstbewusstsein zu tun. Mein kürzlich verstorbener Freund Hans Tilkowski, zu seiner Zeit neben dem Russen Lew Jaschin bester Fußballtorwart der Welt, sagte mal: »Wenn wir Ruhrgebietler mit ein Meter fünfzig Größe durch eine zwei Meter hohe Tür gehen, bücken wir uns noch.« So ist es. Solidarität kann man im Ruhrgebiet erwarten, das ist nicht einfach bloß ein Wort, aber den Kopf nach oben rausstrecken, zu sagen, dass wir uns hinter anderen nicht verstecken müssen, fällt den Leuten im Revier schwer. Hier wirken die alten Zeiten vor dem Strukturwandel nach: Kohle, Stahl und Bier. Sechzig Jahre lang Betonmehrheiten für eine Partei, noch dazu gestützt von den Gewerkschaften, da war wenig Platz für künstlerischen, kreativen Diskurs. Für Diskurs überhaupt. Meine Heimatstadt Kamen wurde viele Jahre lang vom Betriebsratsbüro der Zeche aus regiert. Leute, die Kultur fördern wollten, wurden aussortiert. Einer meiner Freunde war sogar für kurze Zeit Fraktionsvorsitzender, aber weil er partout nicht von der Kultur lassen wollte, wurde dieser »Kulturhengst«, wie er genannt wurde, bei der nächsten Wahl nicht mehr aufgestellt. Er schaffte es danach immerhin noch, Leiter der Ruhrfestspiele zu werden. Für die Kleinstadt Kamen reichte es nicht, aber Chef der einzigen Arbeiterfestspiele, die seit Jahrzehnten ein Leuchtturm sind, konnte er noch werden.
Fußball, das wissen alle, ist im Ruhrgebiet wichtig, aber welche soziokulturelle Rolle dieser Sport spielte und immer noch spielt, ist den wenigsten bekannt. Das Ruhrgebiet ist ein Schmelztiegel. Zu Beginn der Industrialisierung kamen die Leute aus Schlesien, Ostpreußen, aus Polen und Bayern. Es gibt bis heute Bayernvereine in nahezu jeder Revierstadt. Das sind die Leute, wird einem gerne erzählt, die bei ihren Festen so laut schreien, was sie jodeln nennen. Man amüsiert sich also und findet es trotzdem schön. Dann hatten diese Leute nicht einen Glauben, sie waren auch noch evangelisch oder katholisch, was in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine wichtige Rolle spielte. Die Unterschiede zwischen diesen Menschen waren groß, aber da war ja der Fußball. Lass diesen oder jenen in Ruhe, der kommt zwar aus Polen und katholisch ist er auch noch, aber er schwärmt für Schalke oder Rotweiß Essen oder Borussia Dortmund. Das hat verbunden, das war Sozialkitt, der auch heute noch seine Funktion erfüllt. Im Ruhrgebiet gibt es viele Migranten, Türken vor allem, aber es gibt keine Pegida, denn klar, hier gibt es den Fußball. Ein brauner Fleck sind allerdings die Neonazis in Dortmund-Dorstfeld, die gar nicht mal so viele sind, wie mir die Polizei versichert, aber leider sind sie sehr aktiv und daher inzwischen bundesweit bekannt. Leider.
Die kulturelle Infrastruktur ist mehr als beachtlich, die soziokulturellen Hintergründe sind spannend, aber man ist sich dessen hier und damit, als Folge, auch anderswo viel zu wenig bewusst. Deshalb sind die Vorurteile über das Ruhrgebiet, platt und längst überholt, immer noch virulent.
Zum Schluss noch zwei Zahlen. Um 1980 lebten in Dortmund noch 75 Prozent der Bevölkerung von Kohle und Stahl. Beides ist vollständig verschwunden. Dort, wo in Dortmund das große Stahlwerk »Phoenix« stand, gibt es heute einen See, Lieblingsort der Dortmunder für Spaziergänge, den Phoenixsee. Hier ist das alte Ruhrgebiet im wahrsten Sinne des Wortes untergegangen. Heute hat Dortmund dank Hightech, Universität und Verwaltungen eine Arbeitslosigkeit von unter zehn Prozent. Jeder einzelne ist einer zu viel, das stimmt, aber was für eine Leistung. Das hat die kulturferne Betonfraktion mit den Gewerkschaften im Schlepptau dann doch gut hingekriegt! Respekt also.