In Hanau am Main, der Stadt meiner Eltern und einer zahlreichen Verwandtschaft, wo ich zur Schule ging, wurde 1848 der deutsche Turnerbund gegründet.
Ich wuchs auf in der Trümmerlandschaft einer der am meist zerstörten Städte Deutschlands. Mit der Stadtgeschichte habe ich mich nie intensiv beschäftigt. Ich will daher nur ein paar Dinge schildern, die mich besonders berührt, interessiert und geprägt haben.
Die Stadtrand-Ecke, an der ich aufwuchs, war sozusagen eine Schnittstelle zwischen kleinbürgerlichen Ein- bis Zweifamilienhäusern, von denen die meisten in Trümmern lagen, und verschonten Arbeiter-Mietshäusern mit meist vier Stockwerken. Ich spielte mit den Arbeiterkindern, was meine Mutter, Kriegswitwe aus bürgerlichem Haus, wenig begeisterte. In den Trümmern sammelten wir Buntmetall-Schrott, gruben Höhlen und führten Bandenkriege.
Bei den Hanauer Kommunalwahlen 1946 erreichten die SPD 36, die KPD 26 Prozent. 1948 kam die KPD noch auf 24 Prozent. Die Kinder, mit denen ich spielte, kamen also zum Teil aus kommunistisch beeinflussten Elternhäusern. Entsprechend politisiert waren manche Debatten. Angefangen von den Gründen des 2. Weltkrieges waren die Gräuel des Korea-Krieges (1950 bis 1953) wichtige Themen. Die Atom- und Wasserstoffbomben-Versuche, über die die Fox-tönende Wochenschau dramatisch berichtete, ließen mich vor dem Hintergrund von Hiroshima und Nagasaki erschauern. Während viele Altersgenossen an Fastnacht als Cowboys mit Zündplättchen-Pistolen herumknallten, staffierten ein Freund und ich uns als Indianer aus, inspiriert von Karl May und Lederstrumpf. All das wurde später Grundlage meiner kritischen Haltung gegenüber dem US-Imperialismus.
Als Jugendlicher im Polizeisportverein erlebte ich NS-gediente Kader, wie sie mit US-Offizieren auf Bruderschaft tranken und sich nach dem 10. Bier ihrer Einsätze an der Ostfront bei der Vernichtung kommunistischer Partisanen und sonstiger »Untermenschen« rühmten.
An der »Hohen Landesschule für Jungen«, 1607 gegründet, gab es nur eine Minderheit antifaschistischer Lehrer. Im Deutschunterricht der Oberstufe lasen wir u. a. Brecht, Döblin und Zuckmayer. Der überwiegende Rest des Kollegiums – größtenteils Mitläufer – hüllte seine Vergangenheit in Schweigen. In Geschichte kamen wir so nur bis Bismarck.
Bei den Kommunalwahlen 1974 erhielten die CDU 46, die SPD 43, die DKP 1,9 Prozent. Das Wirtschaftswunder mit seinem Konsumrausch, der kalte Krieg, das KPD-Verbot und die trist-stagnierende Mangelwirtschaft in den Staaten des Warschauer Paktes hatten gewirkt.
Es bleibt die Frage, ob und wie weit die revolutionäre Tradition Hanaus von vor 175 Jahren heute noch Spuren hinterlassen hat, über die krassen Umbrüche der Zeiten hinweg und der stark geänderten Zusammensetzung der Einwohnerschaft durch Flüchtlinge und Migration.
Sind die Kundgebungen zum Jahresbeginn 2023 für eine Waffenruhe in der Ukraine, gegen Aufrüstung, für Frieden und soziale Gerechtigkeit, zu denen der regionale DGB, die IG Metall und Verdi u. a. zusammen mit der VVN und Fridays for Future in Hanau aufgerufen haben, ein Indiz für die Lebendigkeit dieser Tradition?
In der Niederländisch-Wallonischen Kirche (die 1597 das Niederlassungsrecht in Hanau erhielt und in der noch bis ca. 1900 auf Französisch gepredigt wurde) fand 1848 der erste Turnertag statt.
Ich war – wie die meisten meiner Verwandtschaft – Mitglied der gleichnamigen Gemeinde, bis ich mit 21 Jahren austrat. Ich hatte mich grundsätzlich vom christlichen Glauben entfernt. Der »Muff aus 1000 Jahren« stieß mich überdies ab, der in dieser Gemeinde vorherrschte. Die älteren Gemeindemitglieder, auch aus meiner Verwandtschaft, waren mehr oder weniger in die Nazi-Zeit verstrickt. Kritische Diskussionen wurden verweigert: »Da bist Du noch zu jung, darüber kannst Du Dir kein Urteil erlauben.« Zu meinem Studium in Darmstadt verließ ich Hanau und kehrte nicht mehr zurück.
Im 19. Jahrhundert war Hanau ein Zentrum der revolutionär-demokratischen Bewegung in Deutschland. Am ersten Turnertag wurde im April 1848 auf Initiative von August Schärttner, Anführer der republikanischen Hanauer Turner, der Deutsche Turnerbund in der Niederländisch-Wallonischen Kirche gegründet. Der Silberschmied Philipp August Schleissner (1825-1891) gehörte mit August-Schärttner zu den Führern der Hanauer Turnerwehr, die mit ca. 300 Mann in der gescheiterten Badischen Mairevolution von 1849 mitkämpfte. Noch im Oktober 1857 wurden sie im »Hanauer Turnerprozess« wegen Hochverrats in Abwesenheit zu langjährigen Zuchthausstrafen verurteilt. Ein eindringliches Buch zur Badischen Revolution ist der Roman von Stefan Heym »Lenz oder die Freiheit«.
Schleissner, als Leutnant der Hanauer Turnerwehr, war – wie Schärttner – auch Mitglied des frühen Bundes der Kommunisten. Er konnte den grausamen Verfolgungen nach der Niederlage der Badischen Revolution entkommen und floh über die Schweiz nach Amerika. Dort arbeitete er als Silberschmied und gründete eine Familie. Einen Sohn nannte er Alfons Washington Schleissner (1858-1929). Nach der allgemeinen Begnadigung 1862 kehrte er nach Hanau zurück und übernahm von seinem Vater die seit 1817 bestehende Silbermanufaktur Schleissner.
Ein Enkel von Alfons Washington Schleissner war mein Schwager. Der zählte zur Hitler-Jugend- und »Flakhelfer-Generation«, weshalb ich mit ihm heftige Debatten aufgrund seiner dementsprechenden Einstellungen führte …
Eine weitere persönliche Beziehung stieß mich erneut auf dem Namen Philipp August Schleissner. Der heute nach ihm benannte Weg in Hanau hieß nämlich bis zu seiner Umbenennung 2002 Carl-Diem-Weg.
Bei meinen Sportaktivitäten in Darmstadt (Lauftreff, Marathon, Triathlon) lernte ich den Sohn von Carl Diem (Carl-Jürgen Diem) kennen, der vehement seinen Vater verteidigte (»er war nie NSDAP-Mitglied«), was heftige Dispute zur Folge hatte. Vater Diem (1882-1962) war maßgeblich an Planung und Durchführung der Hitler-Olympiade 1936 beteiligt. Er galt als »der wichtigste deutsche Sportfunktionär des 20. Jahrhunderts«. Er war auf alle Fälle die wichtigste ultranationalistisch-militaristische Figur des deutschen Sports seiner Zeit. Zur Eröffnung der Olympischen Spiele in Berlin schrieb Diem das Festspiel »Olympische Jugend«, in dem es u. a. heißt: »Allen Spiels heilger Sinn: Vaterlandes Hochgewinn. Vaterlandes höchst Gebot in der Not: Opfertod!« Und schon fünf Jahre zuvor (1931) äußerte er unmissverständlich: »Der Krieg ist der vornehmste, ursprünglichste Sport, der Sport par excellence und die Quelle aller anderen Sportarten.«
Nach 1945 wurde Diem Rektor der von ihm gegründeten Deutschen Sporthochschule in Köln. Über fünf Jahrzehnte lang folgten Ehrungen für den »Sportpapst« und Begründer des Deutschen Sportabzeichens. Viele Straßen, Turnhallen und Sportplätze wurden nach ihm benannt. Diem war für den Sport eine Leitfigur der restaurativen Verdrängung und fehlenden Abrechnung mit der militaristischen und braunen Vergangenheit in den ersten Jahrzehnten Bundesdeutschlands.
Erst ab der Jahrtausendwende setzte teilweise – bei anhaltenden Widerständen – ein Umdenken ein. Auch in Hanau. Viele Sportstätten, Institutionen und Straßen wurden umbenannt. Seitdem gibt es in Hanau den Philipp-August-Schleissner-Weg.
Mit der Zerschlagung der Revolution, mit der Ermordung oder Flucht vieler republikanisch gesinnter Turner verschwand 1849 der demokratische Turnerbund. Die nationalkonservativen Anhänger des »Turnvaters Jahn« und die Kräfte, die den Bund »frei von Politik« halten wollten, beherrschten die Szene einer wechselvollen Entwicklung. Der Hauptzug der deutschen Turnerschaft folgte der monarchistischen Restauration in Richtung des preußisch-militaristischen Untertanenstaates.
Mit der Zustimmung zu den Kriegskrediten und der »Vaterlandsverteidigung« mobilisierte auch die SPD-Führung 1914 die Proletarier in das Völkergemetzel. So wurde auch von dieser Seite der Krieg im Grunde der »vornehmste Sport«. So hieß es 1914 beispielsweise in der sozialdemokratischen Schleswig-Holsteinischen Volkszeitung: »Vor an die Front, du deutscher Proletar (…), die Rechnung mach dem Henker-Zar (…). Sieg oder Tod! Hoch deutsches Vaterland!«
Die Geschichte der Arbeitersportbewegung war in der Zeit der Weimarer Republik weitestgehend von internen Differenzen und Spaltungstendenzen geprägt. Mit der Machtergreifung Hitlers mussten sich die Arbeitersportvereine selbst auflösen. Die Selbstauflösung 1936 war auch das Schicksal der übrigen deutschen Turnerschaft, das sie der gleichgeschalteten Organisation des NS-Sportsystems unterordnete. Nun war die imperialistische Kriegsvorbereitung wieder der finale Zweck des Sports.
Dennoch feierte man im April 2023 in der Frankfurter Paulskirche in schwarz-rot-goldenem Schein den 175. Geburtstag des am 3. April 1848 »auf Initiative von August Schärttner« gegründeten Deutschen Turner-Bundes. Das war im Grunde nichts als eine gefeierte Geschichtsfälschung.
Denn seit dem Untergang des Schärttnerschen demokratischen Turnerbundes 1849 vergingen von den 175 Jahren organisierter Turnerei mindestens 70 Jahre monarchistischer Restauration größtenteils unter schwarz-weiß-roten Flaggen. Es folgten 14 Jahre Weimar mit schwarz-rot-gold, anschließend 12 Jahre unterm Hakenkreuz. Weitere Jahrzehnte kamen nach 1945 hinzu – durchwachsen unter der Symbolfigur des einst kriegsverherrlichenden Sportpapstes Carl Diem.
»Mit der Zerschlagung der Revolution verlor auch die erste Gründung des DTB an Bedeutung«, kommentierte verschämt der aktuelle Turnerbund zum Jubiläum 2023. »Unter sich immer wieder ändernden Bedingungen hat sich die deutsche Turnbewegung seit 1848 stetig umformiert (!) und blickt demnach auf eine bewegte Geschichte zurück.« So elegant und unkritisch-inhaltslos wurde in den Dokumenten des DTB und den Festreden eine »Geschichte voller Dynamik und Entwicklung« unter den Teppich gekehrt. Erwähnt wurde nur das dunkelste Kapitel der Verbandsgeschichte, die Nazizeit. Weitere dunkle Kapitel wie der preußisch-deutsch-nationalistische Militärdespotismus und der Vaterlandsrausch in den ersten Weltkrieg waren allerdings kein Thema. Ebenso wenig die fehlende Abrechnung mit dieser Vergangenheit in den ersten Nachkriegsjahrzehnten.
Eines aber ist heute (noch?) anders als in den »dunklen Vergangenheiten«: Der deutsche organisierte Sport ist weitgehend friedlich unterwegs (sieht man von der Rolle der Bundeswehr beim Spitzensport ab).
Mit der »Zeitenwende« wird zwar eine »neue Wehrhaftigkeit« beschworen. Aber nach wie vor scheitert die Bundeswehr daran, ausreichend Rekruten für ihre »Sollstärke« anzuwerben – es gibt zudem eine hohe Abbrecherquote.
Die neue Wehrhaftigkeit bedeutet vor allem Rüstungswahn der herrschenden Klasse in transatlantischer Vasallentreue, einen astronomischen Geldsegen für die militärisch-industriellen Komplexe. Sie bedeutet die Persistenz einer »legal«-korrupten, durch parlamentarischen Lobbyismus abgesicherten Symbiose von aufgeblähter Militärbürokratie und Rüstungsindustrie.
Noch ist das Land ziemlich entfernt vom Vaterlandes höchst Gebot In der Not: Opfertod! des Carl Diem. Aber wie weit ist es entfernt und entfernt es sich zunehmend von den revolutionär-demokratischen Idealen August Schärttners und Philipp August Schleissners?