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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Die revolutionär-demokratische Turnerwehr

In Hanau am Main, der Stadt mei­ner Eltern und einer zahl­rei­chen Ver­wandt­schaft, wo ich zur Schu­le ging, wur­de 1848 der deut­sche Tur­ner­bund gegründet.

Ich wuchs auf in der Trüm­mer­land­schaft einer der am meist zer­stör­ten Städ­te Deutsch­lands. Mit der Stadt­ge­schich­te habe ich mich nie inten­siv beschäf­tigt. Ich will daher nur ein paar Din­ge schil­dern, die mich beson­ders berührt, inter­es­siert und geprägt haben.

Die Stadt­rand-Ecke, an der ich auf­wuchs, war sozu­sa­gen eine Schnitt­stel­le zwi­schen klein­bür­ger­li­chen Ein- bis Zwei­fa­mi­li­en­häu­sern, von denen die mei­sten in Trüm­mern lagen, und ver­schon­ten Arbei­ter-Miets­häu­sern mit meist vier Stock­wer­ken. Ich spiel­te mit den Arbei­ter­kin­dern, was mei­ne Mut­ter, Kriegs­wit­we aus bür­ger­li­chem Haus, wenig begei­ster­te. In den Trüm­mern sam­mel­ten wir Bunt­me­tall-Schrott, gru­ben Höh­len und führ­ten Bandenkriege.

Bei den Hanau­er Kom­mu­nal­wah­len 1946 erreich­ten die SPD 36, die KPD 26 Pro­zent. 1948 kam die KPD noch auf 24 Pro­zent. Die Kin­der, mit denen ich spiel­te, kamen also zum Teil aus kom­mu­ni­stisch beein­fluss­ten Eltern­häu­sern. Ent­spre­chend poli­ti­siert waren man­che Debat­ten. Ange­fan­gen von den Grün­den des 2. Welt­krie­ges waren die Gräu­el des Korea-Krie­ges (1950 bis 1953) wich­ti­ge The­men. Die Atom- und Was­ser­stoff­bom­ben-Ver­su­che, über die die Fox-tönen­de Wochen­schau dra­ma­tisch berich­te­te, lie­ßen mich vor dem Hin­ter­grund von Hiro­shi­ma und Naga­sa­ki erschau­ern. Wäh­rend vie­le Alters­ge­nos­sen an Fast­nacht als Cow­boys mit Zünd­plätt­chen-Pisto­len her­um­knall­ten, staf­fier­ten ein Freund und ich uns als India­ner aus, inspi­riert von Karl May und Leder­strumpf. All das wur­de spä­ter Grund­la­ge mei­ner kri­ti­schen Hal­tung gegen­über dem US-Imperialismus.

Als Jugend­li­cher im Poli­zei­sport­ver­ein erleb­te ich NS-gedien­te Kader, wie sie mit US-Offi­zie­ren auf Bru­der­schaft tran­ken und sich nach dem 10. Bier ihrer Ein­sät­ze an der Ost­front bei der Ver­nich­tung kom­mu­ni­sti­scher Par­ti­sa­nen und son­sti­ger »Unter­men­schen« rühmten.

An der »Hohen Lan­des­schu­le für Jun­gen«, 1607 gegrün­det, gab es nur eine Min­der­heit anti­fa­schi­sti­scher Leh­rer. Im Deutsch­un­ter­richt der Ober­stu­fe lasen wir u. a. Brecht, Döb­lin und Zuck­may­er. Der über­wie­gen­de Rest des Kol­le­gi­ums – größ­ten­teils Mit­läu­fer – hüll­te sei­ne Ver­gan­gen­heit in Schwei­gen. In Geschich­te kamen wir so nur bis Bismarck.

Bei den Kom­mu­nal­wah­len 1974 erhiel­ten die CDU 46, die SPD 43, die DKP 1,9 Pro­zent. Das Wirt­schafts­wun­der mit sei­nem Kon­sum­rausch, der kal­te Krieg, das KPD-Ver­bot und die trist-sta­gnie­ren­de Man­gel­wirt­schaft in den Staa­ten des War­schau­er Pak­tes hat­ten gewirkt.

Es bleibt die Fra­ge, ob und wie weit die revo­lu­tio­nä­re Tra­di­ti­on Hanaus von vor 175 Jah­ren heu­te noch Spu­ren hin­ter­las­sen hat, über die kras­sen Umbrü­che der Zei­ten hin­weg und der stark geän­der­ten Zusam­men­set­zung der Ein­woh­ner­schaft durch Flücht­lin­ge und Migration.

Sind die Kund­ge­bun­gen zum Jah­res­be­ginn 2023 für eine Waf­fen­ru­he in der Ukrai­ne, gegen Auf­rü­stung, für Frie­den und sozia­le Gerech­tig­keit, zu denen der regio­na­le DGB, die IG Metall und Ver­di u. a. zusam­men mit der VVN und Fri­days for Future in Hanau auf­ge­ru­fen haben, ein Indiz für die Leben­dig­keit die­ser Tradition?

In der Nie­der­län­disch-Wal­lo­ni­schen Kir­che (die 1597 das Nie­der­las­sungs­recht in Hanau erhielt und in der noch bis ca. 1900 auf Fran­zö­sisch gepre­digt wur­de) fand 1848 der erste Turn­er­tag statt.

Ich war – wie die mei­sten mei­ner Ver­wandt­schaft – Mit­glied der gleich­na­mi­gen Gemein­de, bis ich mit 21 Jah­ren aus­trat. Ich hat­te mich grund­sätz­lich vom christ­li­chen Glau­ben ent­fernt. Der »Muff aus 1000 Jah­ren« stieß mich über­dies ab, der in die­ser Gemein­de vor­herrsch­te. Die älte­ren Gemein­de­mit­glie­der, auch aus mei­ner Ver­wandt­schaft, waren mehr oder weni­ger in die Nazi-Zeit ver­strickt. Kri­ti­sche Dis­kus­sio­nen wur­den ver­wei­gert: »Da bist Du noch zu jung, dar­über kannst Du Dir kein Urteil erlau­ben.« Zu mei­nem Stu­di­um in Darm­stadt ver­ließ ich Hanau und kehr­te nicht mehr zurück.

Im 19. Jahr­hun­dert war Hanau ein Zen­trum der revo­lu­tio­när-demo­kra­ti­schen Bewe­gung in Deutsch­land. Am ersten Turn­er­tag wur­de im April 1848 auf Initia­ti­ve von August Schärtt­ner, Anfüh­rer der repu­bli­ka­ni­schen Hanau­er Tur­ner, der Deut­sche Tur­ner­bund in der Nie­der­län­disch-Wal­lo­ni­schen Kir­che gegrün­det. Der Sil­ber­schmied Phil­ipp August Schleiss­ner (1825-1891) gehör­te mit August-Schärtt­ner zu den Füh­rern der Hanau­er Turn­erwehr, die mit ca. 300 Mann in der geschei­ter­ten Badi­schen Mai­re­vo­lu­ti­on von 1849 mit­kämpf­te. Noch im Okto­ber 1857 wur­den sie im »Hanau­er Tur­ner­pro­zess« wegen Hoch­ver­rats in Abwe­sen­heit zu lang­jäh­ri­gen Zucht­haus­stra­fen ver­ur­teilt. Ein ein­dring­li­ches Buch zur Badi­schen Revo­lu­ti­on ist der Roman von Ste­fan Heym »Lenz oder die Freiheit«.

Schleiss­ner, als Leut­nant der Hanau­er Turn­erwehr, war – wie Schärtt­ner – auch Mit­glied des frü­hen Bun­des der Kom­mu­ni­sten. Er konn­te den grau­sa­men Ver­fol­gun­gen nach der Nie­der­la­ge der Badi­schen Revo­lu­ti­on ent­kom­men und floh über die Schweiz nach Ame­ri­ka. Dort arbei­te­te er als Sil­ber­schmied und grün­de­te eine Fami­lie. Einen Sohn nann­te er Alfons Washing­ton Schleiss­ner (1858-1929). Nach der all­ge­mei­nen Begna­di­gung 1862 kehr­te er nach Hanau zurück und über­nahm von sei­nem Vater die seit 1817 bestehen­de Sil­ber­ma­nu­fak­tur Schleissner.

Ein Enkel von Alfons Washing­ton Schleiss­ner war mein Schwa­ger. Der zähl­te zur Hit­ler-Jugend- und »Flak­hel­fer-Gene­ra­ti­on«, wes­halb ich mit ihm hef­ti­ge Debat­ten auf­grund sei­ner dem­entspre­chen­den Ein­stel­lun­gen führte …

Eine wei­te­re per­sön­li­che Bezie­hung stieß mich erneut auf dem Namen Phil­ipp August Schleiss­ner. Der heu­te nach ihm benann­te Weg in Hanau hieß näm­lich bis zu sei­ner Umbe­nen­nung 2002 Carl-Diem-Weg.

Bei mei­nen Sport­ak­ti­vi­tä­ten in Darm­stadt (Lauf­treff, Mara­thon, Tri­ath­lon) lern­te ich den Sohn von Carl Diem (Carl-Jür­gen Diem) ken­nen, der vehe­ment sei­nen Vater ver­tei­dig­te (»er war nie NSDAP-Mit­glied«), was hef­ti­ge Dis­pu­te zur Fol­ge hat­te. Vater Diem (1882-1962) war maß­geb­lich an Pla­nung und Durch­füh­rung der Hit­ler-Olym­pia­de 1936 betei­ligt. Er galt als »der wich­tig­ste deut­sche Sport­funk­tio­när des 20. Jahr­hun­derts«. Er war auf alle Fäl­le die wich­tig­ste ultra­na­tio­na­li­stisch-mili­ta­ri­sti­sche Figur des deut­schen Sports sei­ner Zeit. Zur Eröff­nung der Olym­pi­schen Spie­le in Ber­lin schrieb Diem das Fest­spiel »Olym­pi­sche Jugend«, in dem es u. a. heißt: »Allen Spiels heil­ger Sinn: Vater­lan­des Hoch­ge­winn. Vater­lan­des höchst Gebot in der Not: Opfer­tod!« Und schon fünf Jah­re zuvor (1931) äußer­te er unmiss­ver­ständ­lich: »Der Krieg ist der vor­nehm­ste, ursprüng­lich­ste Sport, der Sport par excel­lence und die Quel­le aller ande­ren Sportarten.«

Nach 1945 wur­de Diem Rek­tor der von ihm gegrün­de­ten Deut­schen Sport­hoch­schu­le in Köln. Über fünf Jahr­zehn­te lang folg­ten Ehrun­gen für den »Sport­papst« und Begrün­der des Deut­schen Sport­ab­zei­chens. Vie­le Stra­ßen, Turn­hal­len und Sport­plät­ze wur­den nach ihm benannt. Diem war für den Sport eine Leit­fi­gur der restau­ra­ti­ven Ver­drän­gung und feh­len­den Abrech­nung mit der mili­ta­ri­sti­schen und brau­nen Ver­gan­gen­heit in den ersten Jahr­zehn­ten Bundesdeutschlands.

Erst ab der Jahr­tau­send­wen­de setz­te teil­wei­se – bei anhal­ten­den Wider­stän­den – ein Umden­ken ein. Auch in Hanau. Vie­le Sport­stät­ten, Insti­tu­tio­nen und Stra­ßen wur­den umbe­nannt. Seit­dem gibt es in Hanau den Philipp-August-Schleissner-Weg.

Mit der Zer­schla­gung der Revo­lu­ti­on, mit der Ermor­dung oder Flucht vie­ler repu­bli­ka­nisch gesinn­ter Tur­ner ver­schwand 1849 der demo­kra­ti­sche Tur­ner­bund. Die natio­nal­kon­ser­va­ti­ven Anhän­ger des »Turn­va­ters Jahn« und die Kräf­te, die den Bund »frei von Poli­tik« hal­ten woll­ten, beherrsch­ten die Sze­ne einer wech­sel­vol­len Ent­wick­lung. Der Haupt­zug der deut­schen Tur­ner­schaft folg­te der mon­ar­chi­sti­schen Restau­ra­ti­on in Rich­tung des preu­ßisch-mili­ta­ri­sti­schen Untertanenstaates.

Mit der Zustim­mung zu den Kriegs­kre­di­ten und der »Vater­lands­ver­tei­di­gung« mobi­li­sier­te auch die SPD-Füh­rung 1914 die Pro­le­ta­ri­er in das Völ­ker­ge­met­zel. So wur­de auch von die­ser Sei­te der Krieg im Grun­de der »vor­nehm­ste Sport«. So hieß es 1914 bei­spiels­wei­se in der sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Schles­wig-Hol­stei­ni­schen Volks­zei­tung: »Vor an die Front, du deut­scher Pro­le­tar (…), die Rech­nung mach dem Hen­ker-Zar (…). Sieg oder Tod! Hoch deut­sches Vaterland!«

Die Geschich­te der Arbei­ter­sport­be­we­gung war in der Zeit der Wei­ma­rer Repu­blik wei­test­ge­hend von inter­nen Dif­fe­ren­zen und Spal­tungs­ten­den­zen geprägt. Mit der Macht­er­grei­fung Hit­lers muss­ten sich die Arbei­ter­sport­ver­ei­ne selbst auf­lö­sen. Die Selbst­auf­lö­sung 1936 war auch das Schick­sal der übri­gen deut­schen Tur­ner­schaft, das sie der gleich­ge­schal­te­ten Orga­ni­sa­ti­on des NS-Sport­sy­stems unter­ord­ne­te. Nun war die impe­ria­li­sti­sche Kriegs­vor­be­rei­tung wie­der der fina­le Zweck des Sports.

Den­noch fei­er­te man im April 2023 in der Frank­fur­ter Pauls­kir­che in schwarz-rot-gol­de­nem Schein den 175. Geburts­tag des am 3. April 1848 »auf Initia­ti­ve von August Schärtt­ner« gegrün­de­ten Deut­schen Tur­ner-Bun­des. Das war im Grun­de nichts als eine gefei­er­te Geschichtsfälschung.

Denn seit dem Unter­gang des Schärtt­ner­schen demo­kra­ti­schen Tur­ner­bun­des 1849 ver­gin­gen von den 175 Jah­ren orga­ni­sier­ter Tur­ne­rei min­de­stens 70 Jah­re mon­ar­chi­sti­scher Restau­ra­ti­on größ­ten­teils unter schwarz-weiß-roten Flag­gen. Es folg­ten 14 Jah­re Wei­mar mit schwarz-rot-gold, anschlie­ßend 12 Jah­re unterm Haken­kreuz. Wei­te­re Jahr­zehn­te kamen nach 1945 hin­zu – durch­wach­sen unter der Sym­bol­fi­gur des einst kriegs­ver­herr­li­chen­den Sport­pap­stes Carl Diem.

»Mit der Zer­schla­gung der Revo­lu­ti­on ver­lor auch die erste Grün­dung des DTB an Bedeu­tung«, kom­men­tier­te ver­schämt der aktu­el­le Tur­ner­bund zum Jubi­lä­um 2023. »Unter sich immer wie­der ändern­den Bedin­gun­gen hat sich die deut­sche Turn­be­we­gung seit 1848 ste­tig umfor­miert (!) und blickt dem­nach auf eine beweg­te Geschich­te zurück.« So ele­gant und unkri­tisch-inhalts­los wur­de in den Doku­men­ten des DTB und den Fest­re­den eine »Geschich­te vol­ler Dyna­mik und Ent­wick­lung« unter den Tep­pich gekehrt. Erwähnt wur­de nur das dun­kel­ste Kapi­tel der Ver­bands­ge­schich­te, die Nazi­zeit. Wei­te­re dunk­le Kapi­tel wie der preu­ßisch-deutsch-natio­na­li­sti­sche Mili­tär­des­po­tis­mus und der Vater­lands­rausch in den ersten Welt­krieg waren aller­dings kein The­ma. Eben­so wenig die feh­len­de Abrech­nung mit die­ser Ver­gan­gen­heit in den ersten Nachkriegsjahrzehnten.

Eines aber ist heu­te (noch?) anders als in den »dunk­len Ver­gan­gen­hei­ten«: Der deut­sche orga­ni­sier­te Sport ist weit­ge­hend fried­lich unter­wegs (sieht man von der Rol­le der Bun­des­wehr beim Spit­zen­sport ab).

Mit der »Zei­ten­wen­de« wird zwar eine »neue Wehr­haf­tig­keit« beschwo­ren. Aber nach wie vor schei­tert die Bun­des­wehr dar­an, aus­rei­chend Rekru­ten für ihre »Soll­stär­ke« anzu­wer­ben – es gibt zudem eine hohe Abbrecherquote.

Die neue Wehr­haf­tig­keit bedeu­tet vor allem Rüstungs­wahn der herr­schen­den Klas­se in trans­at­lan­ti­scher Vasal­len­treue, einen astro­no­mi­schen Geld­se­gen für die mili­tä­risch-indu­stri­el­len Kom­ple­xe. Sie bedeu­tet die Per­si­stenz einer »legal«-korrupten, durch par­la­men­ta­ri­schen Lob­by­is­mus abge­si­cher­ten Sym­bio­se von auf­ge­bläh­ter Mili­tär­bü­ro­kra­tie und Rüstungsindustrie.

Noch ist das Land ziem­lich ent­fernt vom Vater­lan­des höchst Gebot In der Not: Opfer­tod! des Carl Diem. Aber wie weit ist es ent­fernt und ent­fernt es sich zuneh­mend von den revo­lu­tio­när-demo­kra­ti­schen Idea­len August Schärtt­ners und Phil­ipp August Schleissners?